Kitabı oku: «Dismatched: View und Brachvogel», sayfa 15

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Der Mann, der sich Phileas Fogg nannte, erhob sich aus seinem Sessel, trat an das Panoramafenster, verschränkte die Hände auf dem Rücken und blickte auf die Skyline der Urb, die sich zu seinen Füßen ausbreitete. Die Nachtsimulation war angebrochen und die Laser der DomeAnimation projizierten ein klares Firmament, an dem unzählige Sterne funkelten, die sich periodisch zu jeweils unter­schiedlichen Sternbildern gruppierten. Wie schimmernde Perlenketten durchzo­gen die dicht mit Cabs besetzten Strings der AntiGrav den CapitalGround und verloren sich in der Ferne auf den anderen Ebenen dieses Levels. Weit unter ihm ragten zwischen den Grounds die Spitzen der DomeScraper der Plattformen des nächsttieferen Levels.

Das war seine Stadt. Sicher lagen da draußen noch andere Städte und im weitesten Umfeld gab es auch etliche agrarische Gemeinschaften. Eine sollte gar matriarchalisch organisiert sein. Aber Genaueres wollte er gar nicht wissen und er hoffte inständig, dass es auch weiterhin zu keinerlei Kontakten oder gar Überschneidungen kommen würde. Denn hier, unter diesen Kuppeln, hatten sich die Dinge überaus vielversprechend entwickelt.

Gigantische, in einem geostationären Orbit von 22.250 Meilen relativ zur Erde stillstehende Sonnensegel ernteten die Lichtquanten der Sonne und leiteten deren Energie über einen Laser zur Erde in die Kraftwerke der Urb. Die in GenArchen konservierten Stammzellen längst ausgestorbener Arten lieferten ausgedehnten InVitro-Kulturen die Grundlage für die Züchtung von Lebensmitteln aller Art. MaterieKonverter synthetisierten aus wenigen, reichlich vorhandenen Ausgangsstof­fen fast alle Materialien, die die Urb brauchte. Sie war weitestgehend autark und durch die Kuppeln vor den Extremwettern geschützt, die regelmäßig über sie hinweg zogen.

Aber all das waren lediglich grundlegende Voraussetzungen, die Fogg als Selbstverständlich­keiten ansah. Was ihn wirklich interessierte, waren die Möglichkeiten, die sich vor diesem Hintergrund für die Entwicklung des Menschen eröffneten und als einer der BigDatas befand er sich in der exklusiven Position, hier entscheidend eingreifen zu können.

Alle 5 BigDatas waren leitende Köpfe der Agency of SocialTechnology, die deren Administration ganz weit nach oben gespült hatte. Da die Agency vor allen anderen Institutionen die entscheidende Schaltstelle zwischen den Anträgen des Systems für die Mittelung aller Citizens und deren praktischer Umsetzung bildete, verstanden sich ihre Mitglieder, die zudem je nach Stellung ihre ganz eigenen Privilegien genossen, als eingeschworene Gemeinschaft. Wenn auch der ein oder andere ahnte, dass es da in den höheren Rängen einen gewissen Zirkel gab, drang nichts davon in die Öffentlichkeit. Was genau seine Mitglieder trieben und auch die Bezeichnung BigDatas, die irgendjemand in dieser Runde einmal gekürt hatte, war dagegen aus guten Gründen ein streng gehütetes Geheimnis.

Die BigDatas saßen an den Hebeln der Macht und verfügten über Ressourcen, die den unter dem Diktat der Gausglocke stehenden Citizens verschlossen waren. Unter anderem hatten sie Zugang zu den Datenbeständen des SchismaticNet, die sämtliche Inhalte umfassten, die die Urb aus dem digitalen Overkill nach dem Kataklysmus hatte retten können, aber nicht ins OmniNet eingestellt worden waren. Im Zuge der Mittelungstendenzen des Systems spalteten sich zudem kontinuierlich Inhalte des OmniNet ab, die dann ins SchismNet flossen. Die Algorithmen, die das Netz steuerten, beförderten die Grundtendenz, eine unberechenbare Vielfalt von Angeboten und Informationen auf wenige, eindeutig quantifizierbare und damit berechenbare Kategorien hin einzuschränken. Beispielsweise boten hier detaillierte historische Informationen über die Kultur der Zeit vor dem Kata­klysmus keinen unmittelbaren Nutzen, sondern waren eher kontraproduktiv. Entsprechende InformationAreas wurden aber nicht abrupt abgeschaltet, sondern das System veränderte das kollektive Gedächtnis der Urb auf eine evolutive Art und Weise, indem die Nutzung von der Mittelung zuwiderlaufenden Inhalten über einen sehr langen Zeitraum hinweg für die Citizens fast unmerklich ausgeschlichen wurde. In Bezug auf Inhalte, die fester Bestandteil der aktuellen Kultur der Urb waren, konnte sich dieser Prozess durchaus über eine halbe Generation oder noch länger hinziehen. Da das System im Laufe der Zeit immer weniger mit diesen Areas zusammenhängende Anträge machte, wurden auch entsprechende Handlungs- und Wahloptionen immer weniger nachgefragt und die zu ihnen führenden Leads verschwanden allmählich. Hatte dann die Anzahl der Besuche einer InformationArea dauerhaft eine bestimmte Marke unterschritten, wanderte dieser Bereich ins SchismNet und war damit für die Allgemeinheit nicht mehr zugänglich. Im SchismNet aber blieb alles erhalten, denn das System löschte grundsätzlich keinerlei Informationen.

Wie und wann sich der Kreis der BigDatas konstituiert hatte, war nicht mehr nachvollziehbar und mochte er in der Verfolgung welchen Zweckes auch immer einmal eine feste Struktur gehabt haben, herrschte nun, wie Phileas Fogg erfahren hatte, die absolute Anarchie.

Er war durch seinen direkten Vorgesetzten eingeführt worden, der seine Karriere von Anfang an protegiert hatte. Anfangs war er gleichermaßen angezogen wie abgestoßen von den Exzessen, die sich ihm da zur Teilnahme anboten. Nach einer gewissen Inkubationszeit aber hatte er sich hemmungslos nachgegeben und sich in einem Machtrausch verloren, der in einem nur durch seine offiziellen Verpflichtungen unterbrochenen Sinnes- und Gefühlstaumel gipfelte, der jenseits all dessen lag, was er sich jemals vorzustellen gewagt hatte. Weniger disziplinierte Charaktere als er wären dem triebhaften Sog dieses Lebens dauerhaft erlegen. So hatten die anderen BigDatas zwar ebenfalls ihre offiziellen Stellen nicht aufgegeben und hüteten, einander argwöhnisch beobachtend, ihre strategische Machtbasis, lebten ansonsten aber ausschließlich ihren ganz privaten Obsessionen.

Seit einiger Zeit war es üblich, sich den Nimbus einer historischen oder fiktiven Figur zu verleihen und deren Besonderheiten und Eigenarten in aller Exzentrik auszuleben. Die spärlichen historischen Bestände über Kultur und Geschichte vor dem Kataklysmus, auf denen die BadPastLessons der Authority of PoliticalIndoctrination beruhten, konnten mit der Tiefe und dem Detailreichtum der diesbezüglichen Informationen des SchismNet in keiner Weise mithalten. Aber letztlich dienten die Lessons ohnehin nur als dünne historische Folie, gegen die sich die technologischen und wirtschafts-sozialen Errungenschaften der Urb umso positiver abheben ließen.

Phileas Fogg goss sich noch etwas Tee in eine dünne Porzellanschale. Er zog diesen „Earl Grey“ genannten Aufguss, den er sich aus verschiedenen Kräutern und Aromen synthetisieren ließ, den aktuellen Push- oder SmoothDrinks bei weitem vor. Er erinnerte sich noch lebhaft daran, wie er im Rahmen einer Recherche im SchismNet auf die Daten des Project Gutenberg gestoßen war und ihn die Welt, die sich ihm da eröffnete, derart absorbiert hatte, dass er abrupt von einer sinnlichen in eine geistige Ekstase geraten war. Zwar im exklusiven Kreis der BigDatas angelangt, war er doch als in der UniqueSchool of Averaging sozialisierter Citizen mit schematisierten Kurztexten, Manuals, Abstracts und Briefings aufgewachsen, und kannte die Art von Texten nicht, die hier als „Buch“ bezeichnet wurde. Über diese Bücher in das Denken, Empfinden und Erleben längst verstorbener Menschen, längst untergegangener Welten eintauchen zu können, wirkte wie eine Droge, die ihn völlig vereinnahmt hatte, von der er allerdings auch sicher war, dass sie Gift für die zukünftige Entwicklung des Menschen darstellte. Natürlich war es völlig unmöglich, auch nur einen repräsentativen Bruchteil der 60.000 hier über die Wirren des Kataklysmus geretteten Werke zu lesen. Doch hatte er sich im Laufe seiner Zeit als BigData über die Werke der Autoren genannten Urheber von Aristoteles bis Zola einen guten Überblick verschafft.

Weniger die Sach- und Fachbuch genannten Schriften als vielmehr die als „Literatur“, „Belletristik“ oder „Romane“ bezeichneten Bücher hatten ihm einen tiefen Einblick in die Natur des Menschen vermittelt. In der Regel ging es um einen Helden, eine Heldin oder ein sogenanntes Individuum, die etwas suchten, das „Glück“ genannt wurde und dabei etwas trotzten, das „Schicksal“ hieß und in keiner Weise berechenbar war oder sich gegen eine „Familie“ genannte Gruppe von Menschen durchsetzten oder die Fesseln der Gesellschaft sprengten, um ihren eigenen Weg zu diesem Glück zu finden. Ein anderes Thema, das noch weitaus größeren Raum einnahm, war die sogenannte Liebe, ein exklusives, alles Empfinden übersteigendes Gefühl zwischen zwei Individuen, auf das diese entweder hinsteuerten oder das sie verloren hatten oder gegen das Schicksal oder die Gesellschaft verteidigten. „Dra­matisch“ oder „tragisch“ wurde es, wenn ein Individuum das andere liebte, dieses seine Gefühle aber nicht erwiderte oder aufgrund widriger Umstände nicht erwidern konnte. Der Liebe entgegengesetzt wurden Hass, Rache, Kampf und Krieg beschrieben, die Individuen und die mit ihnen verbundenen Menschen in Leid und Chaos stürzten.

Gerade weil ihn einige dieser Bücher so aufgewühlt hatten, war sich Phileas Fogg sicher, dass die Weltsicht, aus der heraus sie entstanden waren, der Entwicklung einer sicheren und für alle Citizens förderlichen Gesellschaft entgegenstand. Er war zu der festen Überzeugung gelangt, dass die Urb auf dem richtigen Wege war. Der Schlüssel war die totale Berechenbarkeit allen menschlichen Verhaltens. Nur so blieben die Dinge nicht dem Zufall und der Willkür eines nicht greifbaren Schicksals überlassen, nur so ließ sich das Leben sinnvoll steuern. Was der totalen Berechenbarkeit diametral gegenüberstand, war das Konzept des Individuums, als einzigartiges, vor allem seiner sogenannten „Selbstverwirklichung“ verpflichtetes Wesen.

Es war falsch zuzulassen, dass jeder sich ein von der Allgemeinheit nicht überprüfbares Bild von sich selbst und seinen Bezügen zu Welt machte! Es war falsch, dass jeder für sich seine Biografie deutete und individuelle Sinn­zusam­menhänge setzte! Es war falsch, dass jeder, ungeachtet der Kosten, die seine Mitwelt dafür bezahlte, seine sogenannte Selbstverwirklichung vorantrieb. Welche höchst fatalen Auswirkungen das mit sich brachte und wohin das führte, hatte ihm die sich in der Literatur der alten Zeit widerspiegelnde Geschichte gezeigt.

Die einzelne Person führte ihre ausgelebte Individualität neben spärlichen Takten des Glücks in den meisten Fällen in Leid und Verzweiflung. Auf der Ebene der Administration gab es Lug und Trug und im Rahmen dessen, was „Politik“ genannt wurde, führte die Sucht des Einzelnen nach Ruhm und Größe von lokalen Terroranschlägen bis hin zu weltumspannenden Kriegen. Schuld daran waren letztendlich immer die sogenannten Individuen, deren Sehnen und Trachten und damit Handeln nicht kalkulierbar und absehbar waren und so für die Gemeinschaft zur potenziellen Gefahr wurden. Abertausende waren an ihrer Selbstverwirklichung zerbrochen und hatten darüber ihre Mitwelt ins Verderben gerissen. Abertausende waren völlig verblendet den unhaltbaren Heilsversprechungen einzelner, sich als etwas Besonderes verstehender Individuen nachgelaufen, was zu unendlichem Leid und Unheil geführt hatte. Das Gehirn des Individuums war eine BlackBox, ein Inkubator, in dem bestenfalls Belangloses stattfand und schlimmstenfalls subversives, die Gemeinschaft aller schädigendes Gedankengut ausgebrütet wurde. Hier keine Kontrolle zu haben, hieß letztlich, jede Hoffnung aufgeben zu müssen, jemals ein produktives und friedliches Miteinander realisieren zu können.

Indem sie die lebenslange Sozialisation unter den Primat der Gaußglocke gestellt hatte und alle Extreme mittelte, war die Urb auf einem guten Wege, das Konzept des Individuums zu brechen. Möglich wurde das durch die gigantischen Kapazitäten des Systems, dessen Algorithmen alle schädlichen Auswüchse des Einzelnen auf ein gesundes Maß zurückstutzten. Wer auch immer die Grundlagen des Systems entwickelt hatte, hatte diese Notwendigkeit erkannt. Die Urb hatte sämtliche Weltinterpretationen und Sinnzuschreibungen von innen nach außen gekehrt und den Sumpf individuellen Selbstverständnisses ausgetrocknet. Sie hatte die wirren Ideologien der Geschichte, die sich wie Spaltkeile zwischen die Menschen trieben, und die daraus erwachsenen Gräuel überwunden und das menschliche Miteinander auf ein konsensfähiges, weil quantifizierbares und berechenbares Fundament gestellt. Rund um den Takt gab jeder Citizen zum Wohle des Ganzen durch die Aufzeichnungen der MatchingEyes Aufschluss über sein Verhalten und in jeder MatchingSession sein Innerstes preis. Dafür bot ihm die Community allumfassende Sicherheit und innerhalb fest definierter Kompatibilitätsgrenzen Deutungsmöglichkeiten, die er ausfüllen konnte, ohne durch dieses Verständnis seiner selbst den großen Gleichklang aller zu gefährden.

Welche Blüten entfesselter, mit Macht gepaarter Individualismus treiben konnte, dem weder durch andere noch durch limitierte Ressourcen Grenzen gesetzt wurde, zeigte Phileas Fogg das Beispiel der anderen BigDatas auf das Anschaulichste. Es gab weder explizite Zugangsregeln für diesen Kreis, noch war die Anzahl seiner Mitglieder festgelegt. Offensichtlich aber lag es in der Natur des Menschen, dieses, wie er bei Aristoteles gelesen hatte, auf Gemeinschaft hin ange­legten Tieres, sich selbst über die Abgrenzung zu anderen Kontur zu geben und in seinem Selbstverständnis zu definieren. Dabei waren Konkurrenz und Rivalität die das Verhalten bestimmenden anthropologischen Konstanten. So befriedigte es die BigDatas auf Dauer nicht, ihre Sonderstellung als reinen Selbstzweck zu genießen, sondern ließ sich augenscheinlich nur dann völlig auskosten, wenn sie anderen möglichst eindringlich demonstriert werden konnte. Macht wollte vor den Augen anderer ausgeübt werden, die ohnmächtig oder doch zumindest weniger mächtig waren, Besonderheit wollte zur Schau gestellt werden. Und da dies natürlich nicht in der Öffentlichkeit der Urb geschehen konnte, wurden dem Kreis von Zeit zu Zeit neue Mitglieder zugeführt, um sie mit den hier üblichen Privilegien zu blenden und zu beeindrucken. Untereinander buhlten die BigDatas darum, sich gegenseitig an Einfluss und Exzentrik zu übertreffen. So hatte die schiere Fassungslosigkeit Phileas Foggs, mit der er als neu eingeführter BigData den dort betriebenen Exzessen gegenüberstand, auch seinem Mentor ein Widerlager geboten, um dessen schon etwas abgestumpftes Selbstempfinden neu zu schärfen. Darüber hinaus war der Neuzugang ein willkommener Bundesgenosse gegen die anderen BigDatas.

Seinen Mentor hatten letztlich auch alle Kunstgriffe der transhumanen Medizin nicht am Leben erhalten können und er hatte Phileas Fogg vor seinem Tode sämtliche Fäden überspielt, die er in den Händen hielt. Diese Fäden gedachte Phileas Fogg nun im Laufe der Zeit zu einem dichten Netz zu spinnen, in dem er die anderen BigDatas mattsetzen konnte. Denn im Gegensatz zu ihnen ging es ihm nicht nur darum, in kleingeistigem Machterhalt den Daumen auf seine Sektion der Urb zu halten und dabei in von allen anderen Citizens abgehobenem Luxus zu schwelgen, sondern er verfolgte für die gesamte Urb höhere Ziele.

Konkurrenz und Rivalität mochten in den Urzeiten der Menschheit ihre Berechtigung gehabt haben, als das nackte Überleben davon abhing, sich gegen eine feindliche Natur zu behaupten und aus den Verteilungskämpfen zwischen den Artgenossen siegreich hervorzugehen. Als das Überleben dann für die meisten Menschen in seinen Grundzügen gesichert war, kam es zwischen denen, die permanent in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht waren, und denen, die es sich leisten konnten, ihre sogenannte Individualität zu kultivieren, zu Verwerfungen globalen Ausmaßes, die angesichts zunehmend knapper werdender Ressourcen, um die zu viele Menschen kämpften, schließlich zum Finalen Kataklysmus geführt hatten.

Viele Generationen nach dem Armageddon hatten sich nun aber vor dem Hintergrund des technischen Standards der Urb und der immensen administrativen Leistung des Systems völlig neue Perspektiven ergeben, die Bedingungen der Möglichkeit des Menschseins grundlegend zu verändern. Das Konzept der Individualität hatte sich überlebt, denn die damit unauflöslich verbunden Verhaltensmuster von Konkurrenz und Rivalität führten lediglich zu Reibungs- und Effizienzverlusten. Die Aufgabe würde darin bestehen, das nach der totalen Gleichschaltung noch nicht eliminierte Konkurrenzverhalten der Citizens produktiv zu nutzen, aber so zu kanalisieren, dass alles Handeln weiterhin berechenbar blieb.

Das Feuer war inzwischen fast ganz heruntergebrannt und Phileas Fogg legte einen neuen Kloben FakeWood auf, der sofort auf ganzer Fläche aufloderte.

Spätestens, wenn die Urb den Omega-Punkt der totalen Gleichschaltung erreicht hatte, würde er damit beginnen, den Menschen völlig neu zu formen. Und bis dahin würde er schon Mittel und Wege finden, sich der andern BigDatas zu entledigen. De Sade war im Grunde ein gehemmter naiver Lüstling, der mit der Rolle seines historischen Vorbilds lediglich kokettierte und vor allem nicht über dessen Intellekt verfügte. Joker dagegen war wie sein Avatar tatsächlich ein gefährlicher und unberechenbarer Psychopath. Einige seiner Gespielen waren, nachdem er mit ihnen fertig war, nicht wiederzuerkennen gewesen. Sappho war eine naive Gans, die sich ziellos treiben ließ und alle 3 TeraTakte ihren Avatar wechselte. Thatcher gab sich zwar gerne staatstragend und hatte die sogenannte eiserne Lady als Avatar gewählt, weil sie glaubte, dass ihr in dieser Rolle mehr Einfluss zuwachsen würde, hatte aber bei weitem nicht das Format ihres historischen Vorbilds. Shelly Floatgrave schließlich, deren Avatar die berühmte Künstlerin der Quantendiffusion war, war genauso unberechenbar und unstet wie ihr Trikot. Sie würde nichts Dauerhaftes zustande bringen.

Der Einzige, der ihm vielleicht gefährlich werden konnte, war Johnny Mnemonic. Fogg bedauerte zutiefst, ihn dem Kreis der BigDatas zugeführt zu haben. Seine Hoffnungen, in dem ehemaligen CaseOne einen ebenbürtigen Gesprächspartner zu haben, hatten sich nicht dauerhaft erfüllt. Anfangs hatte Mnemonic begierig jeden Exzess mitgemacht, so, als suchte er den Nervenkitzel, um sich zu bestätigen, dass er noch lebte. Er hatte sich Fogg gegenüber aufgeschlossen gezeigt und sich in so manches Gespräch über die untergegangene Literatur ziehen lassen. Mit Mnemonic über die Lebenswelten literarischer Figuren zu reden, war, als würden diese leibhaftig Gestalt annehmen, als würde er sich mit einem Zeitzeugen austauschen, der etwa mit Don Quichotte und Sancho Pansa über die La Mancha geritten war. Fogg hatte das unsäglich genossen.

Doch bald schon hatte sich Mnemonic völlig in sich zurückgezogen. Wenn er aus seinen häufigen Absencen erwachte, deklamierte er in der Regel mit weit ausholender Gebärde ein Gedicht, um dann wieder tief in seinen Grübeleien zu versinken. Es war Fogg nicht mehr gelungen, in einen Kontakt mit ihm zu treten, der über den Austausch der üblichen Floskeln hinausging. Ihm daraufhin keine weitere Beachtung zu schenken und zu hoffen, dass sich sein Zustand vielleicht bessern würde, war ein großer Fehler gewesen. Mnemonics Entschluss, die Datas zu verlassen, traf Fogg jetzt völlig unerwartet.

Die Datas waren eine Clique rivalisierender Psychopathen. Jeder und jede von ihnen verfügte über ein digitales und personales Sicherheitsnetz, dass ihm seine Unabhängigkeit von den anderen Datas sicherte. Die jeweiligen Einflusssphären wurden eifersüchtig gehütet und keiner ließ sich in die Karten schauen. Und offensichtlich war es auch Mnemonic gelungen, sich abzusichern. Seine Drohung, den geheimen Zirkel der Datas in das Licht der Öffentlichkeit zu reißen, sollten seine Vitalwerte rapide unter einen bestimmten Schwellenwert sinken, konnte lediglich ein Bluff sein. Wenn er aber aus seiner verlorenen Identität als Entwickler bei SwellFurniture noch Kenntnisse zutage gefördert hatte, mochte es ihm durchaus gelungen sein, einen derartigen Algorithmus zu entwickeln und entsprechend zu implementieren. Zumal ihm Fogg im ersten Überschwang zu glauben, einen Vertrauten und Freund gewonnen zu haben, einen exklusiven Systemzugang eingeräumt hatte.

Was hatte er sich nur dabei gedacht? Er hatte sich grob fahrlässig verhalten. Schließlich trug er der Urb gegenüber eine Verantwortung, die niemand anders als er, Phileas Fogg, wahrnehmen konnte. In Zukunft würde er sich niemals mehr so hinreißen lassen. Schließlich – und auch das hatte ihn die Geschichte gelehrt – war Einsamkeit der Preis der Größe. Vielleicht konnte es ihm auch recht sein, dass der cerebrale Cyborg jetzt seine eigenen Wege ging, denn er war sensibel und intelligent genug, im Laufe der Zeit Foggs eigentliche Pläne erkennen zu können und wäre ihm vielleicht gefährlich geworden. Für das Erste konnte er nur hoffen, dass Mnemonic nichts zustieß.

Phileas Fogg rückte sich in seinem Lehnstuhl zurecht, den er nach einer uralten Marke LazyBoy nannte, und ließ sich auf seinem AeroFlat den aktuellen Wert des SocialScoreUrb anzeigen. Dieser nur der Agency zugängliche Index umfasste den gemittelten Wert aller MatchingPoints sämtlicher SocialUnits und heuristischen Vergleichsgruppen der Urb: Er stand auf 73,25 Prozent. Bezogen auf den letzten Bemessungszeitraum von 100 MegaTakten bedeutete das eine Steigerung um ganze 0,25 Prozent. Wenn er das ohne exponentielle Sprünge und neue Sozialtechnologien zu berücksichtigen ganz einfach nur stur linear hochrechnete, würden die sich kontinuierlich beschleunigenden iterativen Prozesse der Mittelung in rund 30 MajorTakten die Hundertprozentmarke und damit den OmegaPoint erreichen, in dem sich die Dinge grundlegend ändern würden.

In einer fest definierten Anzahl unverzichtbarer Kategorien wäre alles Verhalten so dicht um den Mittelwert einer für das grundlegende WellBeing der Citizens notwendigen und das Gemeinwohl förderlichen Ausprägung herum verteilt, dass gerade noch die erforderliche Vielfalt und Varietät vorhanden waren, um die wirtschafts-sozialen Kreisläufe nicht zum Erliegen kommen zu lassen. Denken und Verhalten aller Citizens wären vollständig gemittelt. Die Urb würde in einen Zustand völliger Berechenbarkeit und damit hundertprozentiger Absehbarkeit und Sicherheit eintreten.

Phileas Fogg lächelte in sich hinein. Er stellte sich immer vor, dass dann die Taille der Gaußglocke des möglichen Verhaltens zu einem schmalen senkrechten Strich in der Mitte eingeschnürt wäre. Wie hatte er seinen Leuten in der Agency immer wieder eingeschärft: Überschaubare Vielfalt in gemittelter Qualität.

Er war nun seit 15 MajorTakten ein BigData und jetzt 54. In längstens 30 MajorTakten hätte er sein Ziel der totalen Gleichschaltung allen Verhaltens erreicht. Dann wäre er 84 und da er in der Position war, sämtliche Mittel der transhumanen Medizin auszuschöpfen, konnte er es gut und gerne auf 120 MajorTakte bringen. Im OmegaPoint würde die Stunde der Wiedergeburt des Neuen Menschen schlagen und er, Phileas Fogg, wäre der Demiurg, der diesen Neuen Menschen erschaffen und steuern würde. Das individuelle Denken und Verhalten aller Citizens würde in eine Art TabulaRasa übergegangen sein, die er, wie damals bei CaseOne, völlig neu beschreiben konnte. Durch die totale Gleichschaltung der Sozialisation und die daraus erwachsene absolute Mittelung und Gleichschaltung von Denken und Verhalten hätte er es nicht mit zigtausenden, unberechenbaren, sogenannter Individuen zu tun, sondern trotz der erforderlichen genetischen Diversität nur eine einzige jungfräuliche Eva und nur einen einzigen gestaltbaren Adam vor sich, die er mithilfe des Systems in seinem Sinne beeinflussen und vorsichtig tastend die ersten Schritte unternehmen konnte, die vollkommene Gesellschaft zu formen.

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