Kitabı oku: «Dismatched: View und Brachvogel», sayfa 6

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System / ClockedCounter / Update_562 / Takt_29.054.327

Die Maschine im Geist

Der Mann, der später Diver genannt werden sollte, war gänzlich aus dem Mittel gefallen, denn er führte an einsamer Spitze und mit großem Abstand zu den anderen verunfallten Citizens, die Unfallstatistik der Urb an. Die Sicherheitschecks der sich ständig selbst verbessernden rekursiven Kreisläufe sämtlicher Systeme der Urb schlossen ein Technikversagen beinahe völlig aus, so dass Citizens allenfalls durch gezieltes Fremd- oder Selbstverschulden zu Schaden kommen konnten. Seitdem das System den Takt übernommen hatte und seine Agents das private wie öffentliche Leben flächendeckend überwachten, war, bis auf wenige Fälle von pathologischer Abweichung, Fremdverschulden ebenfalls auf ein statistisch nicht mehr relevantes Level gesunken. Zumal unabhängig einer Verfolgung und Verurteilung durch die SecurityCorps der SocialScore eines Citizen, der einem anderen vorsätzlich schadete, fast unaufholbar ins Bodenlose sackte und den Betreffenden so auf langen Takt zum Paria stigmatisierte. Blieben Selbstverschulden und vereinzelte Fälle von Suicid. Im aktuellen MajorTakt des fünfhundertzweiundsechzigsten SystemUpdates nach dem Finalen Kataklysmus verzeichnete die Urb 246 Unfälle, von denen keiner lebensbedrohlich war.

Der Mann, im MedicalCenter nannte man ihn CaseOne, war ohne sein MatchingEye mit unzähligen Schürfwunden und Prellungen übersät, einer Trümmerfraktur der linken Schulter, einem Abriss der linken Achillessehne und akut lebensbedrohlichen intracerebralen Blutungen infolge einer schweren Fraktur der Schädelkalotte aufgegriffen worden, als er Unverständliches vor sich hin brabbelnd auf dem MainWalk des CapitalGround vor sich hin torkelte.

CaseOne wurde zum Prestigeobjekt der HealthCare-Mitarbeiter, deren Know­How endlich einmal gefordert wurde. Es gelang ihnen, die Blutungen zu stoppen, die irreparablen Knochenfragmente der Schädelkalotte zu entfernen, von denen ein Splitter tief in den für das Langzeitgedächtnis zuständigen Cortex dorsolateralis eingedrungen war, und die Schädelkalotte durch eine Platte aus Titan zu verstärken.

Als CaseOne zu sich kam, empfand und spürte er nichts bis auf eine weite Leere und ein überwältigendes Bedürfnis, sich am Scheitel zu kratzen. Als seine Finger auf die Schädelkuppel trafen, war da etwas ungewohnt Festes, irgendwie Massiges, das, wenn er daran kratzte und rieb, eine eigentümliche Vibration in seinem Kopf auslöste. CaseOne konnte sich weder daran erinnern, wer er war, noch, wie er in dieses Zimmer mit all den Monitoren und blinkenden und summenden Geräten gekommen war. Allein der Juckreiz blieb.

Gemäß seiner Order, ihm alle Fälle extremer Abweichung direkt zur Kenntnis zu bringen, gelangte der Fall von CaseOne unmittelbar nach seiner Einlieferung ins MedicalCenter auf den Tisch von Phileas Fogg. Nachdem der reibungslose Ablauf seiner anatomischen und physiologischen Funktionen wiederhergestellt war, litt CaseOne an einer umfassenden retrogaden Amnesie, die sich nach Auskunft der HealthCare-Leute aufgrund der Schwere seiner Schädelverletzungen wohl auch nicht mehr auflösen würde.

Fogg ließ CaseOne in sein Privatlabor verlegen. Ein Mimik-Scan seines Gesichts führte zu Citizen Alobo2#23, resident auf Ground 12, wo er als Entwickler für SwellFurniture.Inc. arbeitete, die sich dem individuellen Bedarf organisch anpassende Möbel anboten. Der letzte Stream, den sein verschwundenes Matching­Eye an den Zentralspeicher des Systems übermittelt hatte, zeigte ihn in seinem Hexagon, als der Stream unvermittelt abbrach. Eine Untersuchung des Hexagons erbrachte keinerlei Hinweise auf das, was dort vorgefallen war, noch wurde das Eye gefunden. Fogg trieb dieser Befund um, doch musste er sich schließlich damit abfinden, dass er trotz aller Überwachungstools, die ihm zu Gebote standen, wohl nicht herausfinden würde, was Alobo2#23 zu CaseOne gemacht hatte. Er tröstete sich damit, dass, sollte sich derartiges wiederholen, mit Sicherheit wie auch immer geartete Muster erkennbar werden würden, die weiteren Aufschluss bieten konnten.

Fogg ließ eine Zero-Meldung verbreiten, die den Membern sämtlicher SocialUnits mitteilte, mit denen Alobo2#23 Relations unterhalten hatte, dass der Citizen die Ebene gewechselt hatte. Gleichzeitig wurden diesen Membern alternative Citizens vorgeschlagen, die Alobo2#23_Zero in sämtlichen Kategorien zu einem hohen Prozentsatz substituieren konnten. Nachdem alle Daten des MedicalCenters, die den Fall von CaseOne dokumentierten, ebenfalls gelöscht waren, hatte Fogg sämtliche Spuren getilgt und Alobo2#23 gehörte jetzt ganz ihm.

Fogg träumte von der totalen Gleichschaltung aller Menschen, denn ihm war klar geworden, dass jegliche Form von Individualismus und der sogenannten Selbstverwirklichung das Grundübel war, das bislang ein dauerhaft friedliches und fruchtbares Zusammenleben der Menschen verhindert hatte. Er träumte von einer vom Sündenfall bereinigten, paradiesisch puren Folie des Menschen, einer menschlichen TabulaRasa, die er zum Wohle der gesamten Urb mit neuen Zeichen beschreiben konnte. Fogg betrachtete dies als sein Langzeitexperiment und welche Zeichen das genau waren, würde sich erst zeigen, wenn der OmegaPunkt erreicht war, in dem sich die gesamte Citizenship der Urb gemittelt hatte und gleichgeschaltet werden konnte.

Die erste Gelegenheit, eine solche TabulaRasa zu beschreiben, bot sich ihm jetzt vielleicht hier. Einen Citizen zu finden, der an irreversibler retrograder Amnesie litt, war ein großer Glücksfall und CaseOne sollte gewissermaßen der Prototyp werden, an dem Fogg die Technik der Einspeisung, die cerebrale Invasion mit semantischen Naniten, erproben konnte. Der Proband würde das überleben oder auch nicht. Einen Versuch war es immerhin wert. Alle, die an diesem Experiment beteiligt waren, würden die Ebene wechseln. Wie die ägyptischen Pharaonen mit ihrer Mumie auch die Konstrukteure ihrer Pyramiden in der innersten Grabkammer hatten einschließen lassen, würde auch er sich sämtlicher Mitwisser an diesem Experiment zu entledigen wissen.

Beschreiben wollte Fogg dieses reine menschliche Blatt zu seinem ureigensten, individuellen Vergnügen mit den Inhalten des SchismNet und den aus den Wirren des Kataklysmus geretteten Datenbanken, die nur ihm zur Verfügung standen. Er würde sich so einen Widerpart schaffen, einen HistoricalRevenant, der ihm Sparringspartner sein würde, die Vergangenheit besser zu verstehen. Denn die Geschichte der Mensch­heit zu verstehen, hieß ihre Zukunft zu planen. Planen! Und sie nicht länger dem Zufall oder den Egoismen sogenannter großer Geister und Individuen zu überlassen. Was ihn, Phileas Fogg, nicht davon abhielt, dem eigenen Individualismus zu frönen. Geschah dies doch zum Wohle der gesamten Urb. Natürlich konnte er Bücher lesen und im SchismNet surfen, aber sich mit einem klassisch humanistisch gebildeten Menschen zu unterhalten, war doch etwas ganz anderes. Fogg fühlte sich allein und war es leid, sich mit den tumben Wortblasen der anderen BigDatas abgeben zu müssen und vielleicht würde ihm die cerebrale Invasion von CaseOne mit den richtigen Inhalten einen ebenbürtigen Gesprächspartner schaffen.

In ein künstliches Koma versetzt, lag CaseOne auf dem MedicalBoard in Foggs Labor, seine sämtlichen lebenswichtigen physiologischen Funktionen für die Dauer der cerebralen Invasion auf SurvivalUnits ausgelagert. Sein Zustand hatte sich nicht verändert. Seine Physis war nach wie vor stabil und auch sein Sprachzentrum hatte nicht gelitten, doch konnte er sich an nichts Persönliches erinnern. Er war von einem dichten Geflecht aus optoelektrischen Kabeln umgeben, deren Hauptstrang oberhalb seiner beiden ersten cervikalen Spinalnerven, dort, wo es direkt unter der Medulla Oblongata des Hirnstamms am massigsten war, in sein Rückenmark führte. Die Kabel verbanden ihn mit der Transfereinheit, in die Fogg alle ihm maßgeblich erscheinenden Inhalte der Kultur der verlore­nen Zeit vor dem Finalen Kataklysmus geladen hatte, die er für sinnvoll hielt. Allen voran sämtliche digitalen Bücher des Projects „Gutenberg“.

Die Konversion der Inhalte der Transfereinheit auf die semantischen Naniten hatte länger gedauert, als Fogg gedacht hatte. Doch nun waren die mikroskopisch kleinen molekularen Maschinen mit Daten beladen und bereit, CaseOnes Gehirn zu fluten.

Fogg nickte seinem Neurospezialisten zu: „Go!“

Die Nanobots begannen CaseOnes Hirn zu infiltrieren. Auf mehreren Monitoren, die wiedergaben, was in den verschiedenen Hirnarealen vorging, wurde sichtbar, wie unter seiner Schädelplatte die elektrischen Impulse der zu Oszillatoren zusammengeballten Neuronen ein wahres Feuerwerk entfachten. Die bedeutungstragenden, mit historischer und literarischer Information beladenen Naniten dockten an den Synapsen der Neuronen in den für das semantische Gedächtnis zuständigen Gehirnarealen an. Hier dekodierten die Neurotransmitter die digitalen, elektrischen Impulse in einen hoch komplexen Cocktail chemischer Verbindungen, deren Substanzen den Spalt zwischen den Synapsen übersprangen, um ihren Weg über die Rezeptoren der Dendriten ins Innere der Neuronen zu nehmen, in deren Kern sie sich verankerten. Sobald die Naniten ihre wertvolle Fracht überbracht hatten, zogen sie sich wieder in die Transfereinheit zurück. Aufgrund der zu übertragenden Datenmenge dauerte dieser Prozess mehr als 2 MacroTakte, bis die Spitzen des extremen Neuronenfeuerwerks allmählich schwä­cher wurden.

Fogg hatte den Prozess der cerebralen Invasion aufmerksam, aber distanziert auf dem Screen verfolgt. Nun gab es zwei Möglichkeiten. Entweder blieben die übermittelten Daten im semantischen Gedächtnis stecken, in dem reine Informationen verarbeitet wurden, und kapselten sich dort als voneinander isolierte, atomisierte Informationssplitter ab. Dann wäre CaseOnes Gehirn zum bloßen Wetware-Speicher gewor­den. Oder aber, was Fogg dringend hoffte, die Axone der ausgehenden Rezeptoren der mit neuer Information gespeisten Neuronen vernetzten sich solange miteinander, bis die Informationen in das episodische Gedächtnis und bis hin zur Amygdala wanderten, um sich dort mit individuellen Dispositionen und Emotionen anzureichern. Dann erst würde vielleicht eine neue, ganzheitliche Persönlichkeit entstehen.

Dieser Prozess aber war von außen weder zu initiieren noch zu steuern, da es wesentlich darauf ankam, wie hier die Hirnareale mitspielten, die das enthielten, was von CaseOnes ursprünglicher Persönlichkeit übriggeblieben sein mochte. Die Nanotechnologie der Urb war zwar soweit, Daten in das menschliche Gehirn übertragen zu können, aber eine Persönlichkeit schaffen oder in ihrer Grundstruktur beeinflussen konnte sie nicht. Wie immer war der innerste Kern auch dieses Citizens eine Black­Box, die unmittelbar und direkt auch mit allen Mitteln der Agency of SocialTechnology nicht zu knacken war. Deshalb gab es ja die Mittelung, die zwar langwierig, aber letztendlich Erfolg versprechend war.

Der NanoCount bestätigte jetzt, dass sämtliche molekularen Robots in die Transfereinheit retrodiffundiert waren, aber immer noch wiesen die neuronalen Impulse in CaseOnes Gehirn ein Level von sehr hoher Aktivität aus. Das war ein gutes Zeichen. Offenbar vernetzten sich die von den Bots infiltrierten Neuronen in hohem Tempo weiter. Nun hieß es warten.

Fogg wies seine Mitarbeiter an, alle Datenleitungen zu kappen und sämtliche Funktionen der Lebenserhaltungssysteme wieder in CaseOnes eigenen Organismus über zu leiten. Dann wurde ihm eine Kanüle mit hochkonzentrierter Nährlösung appliziert, er wurde an das MedicalBoard fixiert und sich selbst überlassen.

Das erste, was er spürte, war ein fast unerträglicher Juckreiz am Kopf. Mechanisch wollte er einen Arm heben, um sich zu kratzen, doch ließen sich weder Arme noch Beine bewegen. Er war – denn da war die eindringliche Impression dieses Juckens, die ihn völlig erfüllte. Doch wer war er? Kein Gefühl, keine Antwort.

Wie Dampf, der sich an den Wänden eines gläsernen Hohlraums in Tropfen niederschlägt, kondensierten einzelne Stimmen an den Rändern der wirbelnden Leere, die ihn ausmachte und raunten in sein inneres Ohr:

Ich habe die verlorene Zeit beschworen. Ich bin Robinson Crusoe, Mensch gewordene Insel. Clawdia Chauchat, Sylphe des Zauberbergs. Rasputin, des Zaren Einflüsterer. Shelly Floatgrave, Künstlerin der Quantendiffusion. Ich bin Undine, die Fischschwänzige. Man nennt mich Hermes, den Gott der geflügelten Bot­schaft. Ich bin das Mädchen mit den Schwefelhölzchen. Nennt mich Ismael. Robert Kennedy, politische Ikone. Robin Hood, Held der Freisassen. Mein Name sei Gantenbein. Pan der Bocksbeinige, Faun werde ich genannt. Mein Name ist Xiao Fluidis, Begründer des fluktuativen Tanzkultes. Ich bin der Geist der zukünftigen Weihnacht. Man nennt mich Neferetiti, die Schöne. Ich bin Qua­simo­do, der Missgestaltete. Man nennt mich Odysseus, den Listenreichen. Wir sind die Cherubin und stehen an der Seite Gottes. Dian Fossey, Silberrückenflüsterin. Isaac Newton, Meister der spontanen Welterkenntnis. Man nennt mich Mahatma. Jeanne d´Arc, die wehrhafte Jungfrau. Mein Name ist Legion. Luke Sky­walker, der Weltraumepische. Galadriel, Hüterin des Spiegels. Juri Gagarin, erster Mensch im All. Johannes Gutenberg, Begründer der schwarzen Kunst. Wolfgang Amadeus Mozart, musikalisches Wunderkind. Platon, antiker Vordenker. Ich bin Thot, der ibisköpfige. Harry Haller, Steppenwolf. Leopold Bloom, Held eines einzigen Tages. Walther von der Vogelweide, Sänger der hohen Minne. Adrian Leverkühn, Wiedergänger des Doktor Faustus. Tom Swayer, ewiger Laus­bub. Ich bin Morgaine, die Zauberin. Dorian Grey, Zerrbild ewiger Jugend. Ich bin Baphomet, der Vielgestaltige. Bornabas Gutknecht, Protagonist der osmotischen Bereinigung.

Die Stimmen nahmen zu, wuchsen an, wurden zu einem dröhnenden Chor, einer überwältigenden Kakophonie aus gellenden Schreien, begütigendem Murmeln, orgiastischem Stöhnen, hoffnungslosem Röcheln, Koselauten namenlosen Glücks, getragenen Reden, aufatmendem Seufzen, agitatorischem Geschrei, angst­vollem Wimmern, keuchendem Hecheln und einem tiefen, abgründigen Summen, das seine Schädelplatte vibrieren ließ. All das verdichtete sich zu einer kompakten, ungestalten Masse an Gefühlen und Eindrücken, die wuchtig auf ihn eindrangen und einer kaleidoskopartigen Flut von Bildern, die mit rasender Geschwindigkeit an ihm vorbeizogen. Dann kehrten schlagartig Ruhe und Stille ein und alles verlor sich wieder.

CaseOne öffnete langsam die Augen. Er war – und er war viele und vieles. Doch hatte er nichts Persönliches. Musste sich aus dem zusammensetzen, was ihm aus den verlorenen Zeiten überkommen war. Da gab es Schönes und Schlechtes. Gutes und Böses. Märchenhaft Beglückendes und unvorstellbar Grässliches. All das hatte er nicht persönlich durchlebt, weder genossen noch erlitten. Es war ihm aus zweiter Hand zuteilgeworden. Aber dafür verfügte er über mehr Leben und Wissen als jeder Citizen, der momentan in der Urb den Takt des Systems teilte. Immer wieder unterbrachen wuchtige Eindrücke und grelle Bilder seine allmählich aufkeimenden Bewusstseinsvollzüge.

Er musste sich sammeln. Eine Entscheidung treffen. In der Fülle seiner Impressionen untergehen. Oder sich mit allen seinen Kräften an einzelnen Eindrücken festkrallen, sie sich aneignen und bis zur Neige auskosten, um an ihnen Gestalt zu gewinnen und sich an ihnen aufzurichten. Aber dazu brauchte er in dem bodenlosen, abgrundtiefen Chaos, das in ihm auf- und abbrandete, einen Leitfaden, einen Halt, an dem er sich orientieren konnte.

Im Anfang war das Wort, war die Information. Er war übervoll damit, quoll über davon und – er war am Anfang. Und da gab es Wörter, viele, wohlgestaltete Wörter. War die Mathematik die luftige Abstraktion von der lastenden Schwere der physikalischen Gegebenheiten, die dennoch half, funktionierende Dinge zu konstruieren, sie beständig, standfest und wirkmächtig zu machen, so war die Ly­rik die Abstraktion von den wechselhaften Unwägbarkeiten durchlebten und durchlittenen Lebens, transzendierte all die Gewöhnlichkeit und den Jammer, bannte aber auch das Glück und die Wonnen des Alltäglichen.

Das Leben auf der Erde war Paradies und Jammertal zugleich. Er aber wollte das Schlechte, Hässliche, Sinnlose nicht übernehmen, sondern allein das Wahre, Schöne, Gute. Er entschloss sich, der Ungereimtheit und Sinnlosigkeit des Daseins etwas Schönes entgegen zu setzen. Fortan würde er dichten, die vielfach hässliche und sinnlose Realität mit dem Firnis wohlgestalteter Reime überziehen. In Zukunft wollte er, wo immer möglich, in Reimen denken und auch sprechen. Er wollte dichten!

CaseOne sollte sein persönliches Gedächtnis lange nicht wiedererlangen. Doch würde er nichts entbehren oder vermissen, denn er würde völlig in der prallen Fülle des Lebensgefühls und der Weisheit aufgehen, die ihm seine cerebralen Implantate der Datenbanken der verlorenen Zeiten vermittelten.

Sommersaat; erster Umlauf im fünfhundertvierundfünfzigsten Umlaufzwölft der Zeitläufte der Mondin

Liebe Luna, sanfter Stern,

wir haben dich nur allzu gern,

gib in der Nacht,

wohl auf uns acht,

und schenk uns auch bei Tag Geleit

für Demut und Besonnenheit.“

Gebet der Milchkinder

Ein Knabling von vielleicht sechs Umlaufzwölfen stand neben einem Hackklotz, auf dem ein gerupftes Huhn ausgebreitet lag. Die wächsernen Krallen starr gen Himmel gestreckt, baumelte der Kopf an dem unnatürlich lang wirkenden Hals erbarmungswürdig längs des Klotzes herab. In der gelblichen, mit Fett unterlegten Haut hatten die ausgerissenen Federkiele viele kleine Krater hinterlassen. Die Federn lagen um den Hackklotz zerstreut auf dem Boden. Der kleine Junge meinte, das Huhn gekannt zu haben, als es noch Federn hatte und nach Körnern pickend mit ruckendem Kopf auf dem Hof herumstolziert war. Nun musste es doch frieren. Wie es wohl wäre, selbst solch ein Federkleid zu haben? Fliegen würde er damit wohl nicht können, da mit ein paar Federn aus seinen Armen noch lange keine Flügel würden, aber es wäre vielleicht interessant zu sehen, ob die Federn wärmer wären als sein Hemd oder welches Gefühl auf der Haut entstehen würde, wenn der Wind über die Federn strich. Erst einmal zog er sein Hemd aus und dann musste er es irgendwie schaffen, dass die Federn auf seiner Haut haften blieben. Ohne lange zu überlegen, lief er zu einer Pfütze, in der nach dem Regen der Nacht noch das Wasser stand, tauchte beide Hände in die lauwarme Nässe, wirbelte vom Grund etwas Schlamm auf und verrieb die mit Lehm gesättigte Pampe über Arme, Brust und Beine und soweit er um sich herumreichen konnte, auch auf seinem Rücken. Dann sprang er zum Hackklotz zurück und wälzte sich solange in den Federn herum, bis die meisten davon an seiner Haut klebten. Da das Huhn vor nicht allzu langer Zeit gerupft worden war, hafteten an den Federkielen noch frische Reste von Fett und Blut, die noch nicht eingetrocknet waren und sich mit dem Lehm auf seiner Haut verbanden. Der kleine Junge stand auf und sah an sich herunter. Er sah nicht aus wie ein Huhn. Da waren noch viele Stellen, die völlig frei von Federn waren. Aber er war ja auch viel größer als solch ein Federvieh. Auch bedeckten ihn große und kleine Federn ganz unregelmäßig und waren nicht in eine bestimmte Richtung ausgerichtet. Richtig spüren konnte er sein neues Federkleid auch nicht, denn der allmählich trocknende Lehm spannte auf seiner Haut, so dass sie wie mit einem Panzer überzogen war. Aber all das war ihm erst einmal egal. Er war jetzt ein Vogel und wollte hinunter zu Fluss.

Als eine Mutter, sie mochte etwa achtzehn Umlaufzwölfe zählen, am späten Nach­mittag den Knabling fand, saß er auf einem Stück Unland am Fluss und hatte einen hohen Turm aus Kieseln vor sich aufgetürmt, den er mit kleinen Stecken abgestützt hatte. Die Mutter mochte den Kleinen. Zwar gehörte er nicht zu ihren Zöglingen, doch war er ihr schon verschiedentlich durch sein keckes und verständiges Wesen aufgefallen. Er war der Pfiffigste aus seiner Gruppe und sprühte nur so vor Ideen und Tatendrang. Leider brachte das aber auch mit sich, dass er sich öfters einer plötzlichen Eingebung folgend von der Gruppe entfernte und dann einfach verschwunden blieb. Die Mütter hatten schon überall vergeblich gesucht, als ihr dieser Platz am Fluss einfiel, an dem der Kleine schon einmal gefunden worden war. Richtig, da saß er ja.

Über und über mit Federn bedeckt, die von einem der eben geschlachteten Hühner stammen mussten, bot er einen recht absonderlichen Anblick. Der Turm aus flachen Flusskieseln, den er errichtet hatte, war so geschickt durch seitlich in die Erde gerammte Stöckchen gesichert, dass er zu einer erstaunlichen Höhe gediehen war.

„Hier steckst du also.“

Der Kleine wandte sich von seinem Turm ab und sah fragend zu ihr herüber. Er sah aus wie ein ungeschlachtes, völlig aus der Form geratenes Federwesen in der Mauser. Eigentlich wollte die Mutter den Jungen ausschimpfen, doch dann musste sie unwillkürlich lachen.

„Was für ein seltsames Tier bist du denn?“

Auf das Unland blickend, das regelmäßig vom Fluss überschwemmt wurde, beantwortete sie sich ihre Frage dann selbst.

„Du bist mir schon ein rechter Brachvogel. Du weißt aber doch ganz genau, dass du nicht allein von deiner Gruppe fortlaufen sollst. Jetzt aber hopp, zurück in den Kreis.“

Sie nahm das Kind an der Hand, das sich widerstandslos von ihr führen ließ. Sie stiegen eine Weile den vom Ufer aufwärts verlaufenden Pfad hinan, überwanden mehrere aus Weiden geflochtene Hürden, unter denen der Kleine hindurchgekrabbelt sein musste, kamen an einer Scheune und schließlich dem Hackklotz vorbei, von dem das Huhn, Luna sei es gedankt, inzwischen verschwunden war, querten die Hühner- und Kaninchenställe, bis sie schließlich einen von niedrigen Hütten umsäumten Platz erreichten. Hier saßen, auf fünf Kreise verteilt, etwa fünfzig Knablinge gleichen Alters, die jeweils von einer Frau beaufsichtigt wurden.

Die Mutter steuerte die mittlere Gruppe an und sagte, den Kleinen in den Kreis schiebend, mehr zu den anderen Frauen als den im Rund sitzenden Kindern:

„Hier führe ich euch unseren wieder einmal verloren gegangen Brachvogel zu. In dieser denkwürdigen Aufmachung saß er auf der Brache unten am Fluss und baute Steintürme.“

„Gut, dass du ihn gefunden hast, Ayiah“, sagte die Älteste Mutter. „Ich habe mir schon ernsthafte Sorgen gemacht. Wir können es uns einfach nicht leisten, auch nur einen von diesen zu verlieren.“

Die anderen Mütter blickten den Kleinen mit gerunzelten Brauen missbilligend an, die Knablinge, in deren Mitte er wie ein von einem fremden Stern ge­fallenes Wesen stand, aber lachten ihn unverhohlen aus, während sie im Chor skandierten:

„Brachvogel – Federmogel, Brachvogel – Federmogel“.

Bis auf einen, Agror geheißen, der ihn neugierig und fast schon ein wenig bewundernd ansah.

Von diesem Moment an waren Brachvogel und Agror unzertrennlich. Beide waren einander bislang noch nicht aufgefallen. Doch als Brachvogel da mitten im Kreis stand und nicht wusste, wie ihm geschah, neigte sich sein Herz natürlich dem zu, der ihn nicht verhöhnte. Und für Agror verkörperte Brachvogel in seinem missratenen Federkleid trotz aller Lächerlichkeit etwas Besonderes, Andersartiges, das ihn aus der Enge und Gewöhnlichkeit der eigenen Person herauszuführen versprach.

Während der Abendbesinnung suchte Brachvogel dann auch die Nähe Agrors, stellte sich neben ihn in den Kreis und besiegelte ihre neue Freundschaft mit einem kurzen Nicken. Alle Knablinge fassten einander an den Händen und richteten ihren Blick dorthin, wo gemäß der Anweisung von Mutter Leial am wolkenverhangenen Himmel das Nachtgestirn stehen musste. Gemeinsam sprachen sie ihre Bitte an die Mondin, die sie am Ende jeden Tages anstimmten, bevor sie sich zur Nacht niederlegten:

„Liebe Luna, sanfter Stern,

wir haben dich nur allzu gern,

gib in der Nacht,

wohl auf uns acht,

und schenk uns auch bei Tag Geleit

für Demut und Besonnenheit.“

„Mit dieser Anrufung der gütigen Mondin beschließen wir wie immer diesen Tag“, sagte Mutter Leial und geleitete die Knablinge zu ihren Schlafstellen.

Mit der Zeit gerieten Brachvogels ursprünglicher Name und die Umstände, wie er zu seinem neuen Namen gekommen war, in Vergessenheit. Er war Brachvogel. Längst schon war kein Spott mehr mit diesem Namen verbunden und er trug ihn wie eine Auszeichnung.

Nach Brachvogels Beobachtung gab es in der Stätte der Aufzucht zwei Arten von Menschen, Milchkinder oder Knablinge wie Agror und ihn selbst und die Mütter. Man musste den Müttern in Allem folgen und gehorchen, denn sie kannten das Leben, wussten um Gut und Böse und erklärten Werden und Wachsen und den Zusammenhang aller Dinge im empfindlichen Gefüge der Welt. Knablinge waren unwissend und klein und bedurften dringend der unablässigen Lenkung der Mütter. Mütter waren groß, staken in wallenden Gewändern, trugen lange Haare, wanden Schmuckreifen um die Handgelenke und hatten Brüste, aus denen man trinken und satt werden konnte. Während die Knablinge oft nackend umherliefen, sah Brachvogel die Mütter bis auf die jeweils zum Trinken freigelegte Brust niemals entblößt. Alle Milchkinder, gleich welchen Alters wurden an der Brust gelabt. Die ganz kleinen lagen dazu im Arm der Mütter, die mittleren saßen auf deren Schoß und die ganz großen kletterten vielfach auch schon einmal auf ein Bänkchen, während die Mutter über der rechten oder linken Brust eine Falte ihres Gewandes für die Nährung aufknöpfte, ohne ihre momentane im Stehen ausgeführte Verrichtung zu unterbrechen. Die älteren Knablinge bekamen natürlich auch andere Nahrung, aber in der gesamten Zeit ihres sieben Umlaufzwölfe währenden Lebens in der Stätte der Aufzucht bestand die mittägliche Haupt­mahlzeit aus Muttermilch.

Mit steigendem Alter hatte sich Brachvogel zunehmend von den milchprallen Brüsten der Mütter abgestoßen gefühlt. Dagegen liebte er es, Wasser oder Kräutertee aus einem Becher zu trinken und sobald er alt genug war, ein solches Gefäß zu greifen, hielt er immer eines in der Hand, während er an einer Brust saugte, und fuhr begeistert über die klaren und festen Konturen hin, die ihm eine verlässlichere Orientierung zu bieten schienen als die nachgiebigen Brüste, die der Berührung seiner Lippen, dem Druck seiner Zunge oder dem Tasten seiner Hände keinen eindeutigen Widerstand entgegensetzten. Auch konnte er sich nicht an die unterschiedlichen Geschmäcke, Gerüche und Ausdünstungen der Mütter gewöhnen. Denn es nährte nicht eine bestimmte Mutter einen bestimmten Knabling, sondern alle Mütter spendeten allen Milchkindern Nahrung aus ihren Brüsten.

Eines Morgens kündigte Mutter Leial an: „Heute werden wir erfahren, wie wir unser Wesen der Fürsorge sanft lenken können.“

Jeder Knabling bekam, sobald er sicher laufen konnte, in immer größerem Umfang die Verantwortung für ein Wesen der Fürsorge übertragen, um sich beizeiten darin zu üben, etwas Lebendiges und in der Natur Gewachsenes zu hegen und zu pflegen. Brachvogel erinnerte sich noch eindrücklich daran, wie er als kleines Milchkind erstmals die konzentrierte Wärme des winzigen Körpers gespürt hatte, der sich mit der Atmung dehnte und wieder zusammenzog und dessen schneller Herzschlag in seinen Händen klopfte, wie er sein Gesicht in weiches Fell versenkte, das an der Nase kitzelte und wie er in große, runde, dunkelfeuchte Augen sah, die sein eigenes Gesicht widerspiegelten. Es waren dies die Augen eines Kaninchens, seines Tieres der Fürsorge, das ihn während seiner ganzen Zeit in der Stätte der Aufzucht begleiten sollte.

Agror und alle anderen Knablinge seiner Gruppe waren mit solch einem kleinen, langlöffeligen Zögling aufgewachsen, den sie im Laufe der Zeit immer eigenständiger betreuten und versorgten, damit sie so sinnenfällig Einsicht darin nahmen, wie stark sie mit allem in der Natur verbunden und verwoben waren und lernen konnten, ganz behutsam Einfluss auszuüben. Die Knablinge waren schon darin geübt, ihre Tiere regelmäßig mit Wasser, Heu und Gemüse zu versorgen, ihre Ställe reinlich zu halten, ihnen im Gehege Auslauf zu gewähren, ihr Fell zu pflegen und ihnen streichelnd Körperkontakt angedeihen zu lassen ‒ was nicht nur die Kaninchen vor Wohlbehagen leise mit den Zähnen mahlen ließ, sondern auch den Händen der Streichler schmeichelte.

„Ihr habt gelernt, eure Fürsorgezöglinge zu pflegen und mit allem Nötigen zu versorgen und ihr habt es vor allem geschafft, es behutsam dahin gedeihen zu lassen, dass sie eurer Weisung vertrauen“, leitete Mutter Leial die Übung ein. „Euren achtsamen Umgang mit diesen empfindlichen Wesen wird euch die Natur mannigfach vergelten. Doch heute lasst uns erproben, wie ihr eure Kaninchen lenken könnt, wenn sie nicht vom Gehege umfriedet, sondern außerhalb sind.“

Die Knablinge liefen zu den Ställen, nahmen ihre Tiere auf den Arm und kehrten zu Leial zurück, die sie auf eine große, kürzlich von Schafen abgeweidete Wiese hinter den Hütten führte.

„Ihr werdet euer Kaninchen gleich ins Gras setzen und sehen, was passiert. Um es zu führen, kann sich jeder von euch dort ein Netz, einen Stecken und eine Möhre nehmen.“ Leial deutete auf die Stelle, an der diese Lenkungsmittel bereitlagen. „Ihr seid verantwortlich für euer Fürsorgewesen. Setzt diese Dinge also mit Bedacht und Besonnenheit ein. Bedrängt euer Tier nicht, engt es nicht ein, zwingt ihm nicht euren Willen auf, sondern führt es behutsam. Wartet ab, lasst es gewähren, beobachtet es, seid nicht vorschnell in eurer Meinung, in welche Richtung es hoppeln wird, drängt es nicht auf euren Pfad, sondern wartet ab, welche Richtung es nehmen wird. Schreitet aber ein, wenn es euch zu enteilen droht.“

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