Kitabı oku: «Dismatched: View und Brachvogel», sayfa 7
Zwischen dem vierten und fünften Lebensjahr der Milchkinder hielten die Mütter diese und andere Übungen ab, um zu prüfen, welches Temperament und Gemüt die Knablinge ausgeprägt hatten. Dies war dann unter anderem Grundlage der Entscheidung, wer von ihnen entkeimt und wer zum Zeugungsträger bestimmt werden sollte. Neben der Erziehung in der Stätte der Aufzucht, während derer die Knablinge mit der Milch der Demut und Besonnenheit durchtränkt wurden, war die Entkeimung ein weiteres Mittel, den wilden Kern der Unbedachtsamkeit im Mannling zu brechen und seine Neigung zu unterbinden, seinen Willen gegen alles, was natürlich war, mit Gewalt durchzusetzen. Seit den Zeiten der Großen Verderbnis wussten die Frauen, dass der ungezähmte und ungehemmt sich entfaltende Geist des Mannlings eine Bedrohung für die Klave und die gesamte Schöpfung war. Gestaltungsdrang und Widerstandsgeist von im Knablingsalter entkeimten Mannlingen waren in der Regel sehr zurückgenommen, was auch in ihrer Körperlichkeit zum Ausdruck kam, die sich behäbiger und träger ausnahm, als die ihrer nicht entkeimten Artgenossen. Entkeimte Mannlinge blieben im Grunde große Milchkinder und fügten sich leicht in das Los, schwere körperliche Arbeiten zu verrichten, keine Freiheiten zu besitzen und in allem den Weisungen der Frauen zu folgen. Ein gewisser Anteil der Knablinge aber musste die Keimdrüsen behalten, damit der Fortbestand der Klave gesichert werden konnte. Diese Exemplare galt es sorgfältig auszuwählen, denn die Möglichkeit, dass ein nicht entkeimter Knabling dereinst zum Zeugungsträger gereift der Klave zur Gefahr wurde, musste unter allen Umständen ausgeschlossen werden.
Leial hatte diese und ähnliche Übungen schon oft durchgeführt, war aber immer wieder überrascht, wie manche Knablinge sich verhielten. Die Tiere zu betreuen, während sie sich auf der großen Wiese frei bewegten, war völlig neu für sie und viele Knablinge waren in Panik geraten, wenn ein Kaninchen Anstalten machte, das Weite zu suchen oder scheinbar von einer der harmlosen, auf der Wiese heimischen Ringelnattern bedroht wurde. Unter den eingefahrenen Regeln des gewohnten Tagesablaufs genügten die meisten Knablinge den Anforderungen der Besonnenheit, aber wenn sie wie jetzt während dieser Prüfung unter einer besonderen Anspannung standen, schlug bisweilen ihre mannlingsche Wesensart durch.
Leial würde jeden der Knablinge, der auch nur ansatzweise unbeherrscht zu seinem Stecken griff, um sein Tier auf die richtige Bahn zu zwingen, als Anwärter für die Entkeimung melden. Am liebsten hätte sie sämtliche Knablinge entkeimt, um diesem Mannlingsgezücht sein zerstörerisches Wesen gründlich auszutreiben, aber solange noch kein Weg gefunden worden war, dass Frauen ohne das Zutun dieses Makels der Schöpfung ein Kind in sich wachsen lassen konnten, war das wohl nur eine schöne Wunschvorstellung. Leial wollte schier verzweifeln, wenn sie über die seltsame Gestaltung der Welt nachgrübelte, in der die Natur mit dem Mannling ein Wesen hervorgebracht hatte, in dem der Keim ihrer eigenen Vernichtung angelegt war.
Anders als etliche Knablinge, die die Pflege ihres Kaninchens als Last empfanden und es unwirsch behandelten, wenn es sich nicht so verhielt, wie sie wollten, war Agror seinem langlöffeligen Fürsorgewesen mit großer Liebe und Zärtlichkeit zugetan. Sie waren zusammen aufgewachsen und widerfuhren ihm Leid und Unbill, tröstete es ihn, sein Gesicht in den nach Heu und warmer Kreatur duftenden Pelz zu drücken. Der sehr zögerlich und vorsichtig geartete Knabling hätte seine Schnobernase am liebsten gar nicht in das Gras dieser großen, weiten Wiese gesetzt, sondern sie weiter schützend im Arm gehalten. Doch musste er natürlich der Anweisung von Mutter Leial Folge leisten.
Zunächst blieb das Tier zufrieden hocken, knabberte an einigen Grashalmen und hoppelte dann langsam davon. Agror folgte ihm zunächst, hielt dann inne und lief zurück, um Möhre, Netz und Stecken an sich zu raffen und dann eilends zu seinem Kaninchen zurückzukehren, das sich inzwischen schon ein beträchtliches Stück Wegs von ihm entfernt hatte. Als es gewahr wurde, dass nicht wie gewöhnlich eine Barriere seinen Auslauf hemmte, sprang es übermütig mal hierhin und dorthin und kauerte sich schließlich neben einem hohen Grasbüschel hin, um mit pumpenden Flanken, straff angelegten Löffeln und bebendem Näschen aufgeregt zu wittern und die ungewohnte Umgebung in sich aufzunehmen. Agror hockte sich nieder und bot ihm die Möhre dar, um es zu beruhigen. Das Kaninchen raspelte ein paar Bissen ab und ganz allmählich richteten sich seine Löffel wieder auf, was Agror zeigte, dass sein Tier nach dieser ersten Sinnesaufwallung allmählich zur Ruhe kam. Erleichtert stand er wieder auf und blickte in die Runde, um zu sehen, wie es seinen Gefährten mit ihren Tieren erging.
Netz, Stecken und Möhre waren unterschiedlich zum Einsatz gekommen. Einige Knablinge, deren Kaninchen ihre ungewohnte Freiheit dazu genutzt hatten, sehr schnell sehr weit zu hoppeln, hatten das Netz über sie geworfen, um sie nicht zu verlieren. Andere trieben die Tierchen mit dem Stecken wieder zurück und etliche lockten sie mit der Karotte auf den richtigen Weg. Brachvogel hatte das rote Gemüse gar an den Stecken gebunden und war so in der Lage, sein Kaninchen zu führen, ohne sich bücken zu müssen und konnte so gleichzeitig auch den Überblick über das Gelände behalten.
Da nahm Agror aus dem Augenwinkel heraus auf dem Gras eine seltsame Bewegung wahr. Ein langes, dünnes Etwas schlängelte sich auf seine Schnobernase zu. Er hatte noch nie ein solches auf dem Bauche sich windendes Wesen gesehen, doch zweifellos stellte diese Kreatur eine Gefahr für seine Schnobernase dar. Nur noch das Grasbüschel stand zwischen seinem Fürsorgetier und dem bedrohlichen Windling. Was sollte er machen? Das Wesen anzufassen getraute er sich nicht. Zwischen den Maschen des Netzes würde es mühelos hindurchgleiten. Blieb noch der Stecken. Agror nahm seinen ganzen Mut zusammen, spreizte die Beine, um sicheren Stand zu haben, nahm den Stock mit ausgestreckten Armen in beide Hände, führte dessen Ende vorsichtig unter die Mitte der Kreatur und hebelte sie mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft von sich weg. Etliche Spannen entfernt fiel das Wesen zu Boden und wand sich in die entgegengesetzte Richtung fort. Erleichtert atmete Agror auf.
Für Leial, die die Knablinge aus der Ferne beobachtete, sah Agrors Bewegung mit dem Stecken so aus, als hätte er sein Kaninchen kräftig mit dem Stock traktiert. Von diesem sanften und unauffälligen Knabling hätte sie dieses typisch mannlingsche Verhalten am allerwenigsten erwartet. Aber darin, dass hier die wahre Natur der Knablinge offenbar wurde, erwies sich wieder einmal die Nützlichkeit dieser und anderer Übungen. Brachvogel dagegen legte wie erwartet einen überbordenden und deshalb gefährlichen Einfallsreichtum an den Tag. Er war ihr von vorneherein ein Anwärter für die Entkeimung gewesen.
Leial blies in die Pfeife, die sie um den Hals hängen hatte, und bedeutete den Knablingen damit, dass die Übung nun beendet sei und sie ihre Kaninchen wieder aufnehmen konnten. Als die Knablinge, ihre Tiere auf dem Arm, dann vor ihr standen, fasste sie die Geschehnisse zusammen:
„Jeder von euch hat sein Fürsorgewesen nach seinem besten Vermögen und der ihn prägenden Gemütsart und Eigenheit behandelt. Darüber, ob ihr dabei die der Natur förderliche Besonnenheit habt walten lassen, mag diese selbst richten. Bringt nun eure Tiere in die Ställe zurück und widmet euch euren üblichen Obliegenheiten.“
Leial sah bewusst davon ab, den Knablingen, die Gewalt gegen ihre Fürsorgetiere geübt hatten, die Mondin zu lesen. Es würde ohnehin nichts ändern, denn der mannlingsche Geist war unbelehrbar. Die Knablinge würden die Folgen ihres mannlingschen Verhaltens noch früh genug zu spüren bekommen. Von den sieben Zöglingen ihrer Gruppe wollte sie fünf für die Entkeimung vorschlagen, allen voran Brachvogel, dessen völlig unberechenbares und viel zu selbstgefälliges Verhalten ihr schon lange ein Dorn im Auge war.
Am Abend saßen die Mütter im Versammlungshaus der Stätte zusammen und berieten darüber, wer von den Knablingen entkeimt und wer Zeugungsträger werden sollte. Sie hatten die Knablinge jetzt zweiundsiebzig Umläufe lang betreut und ihre Entwicklung vom völlig hilflosen Saugling bis zum eigenständig handelnden Knabling begleitet. Die alltäglichen Abläufe und mannigfachen Übungen wie die heutige Betreuung der Fürsorgewesen auf nicht eingefriedeter Fläche hatten offenbar werden lassen, welches Herz in der Brust eines jeden Knablings schlug und welch Geistesart und Gesinnung er war. Es war absehbar geworden, welche Entwicklung er als ausgewachsener Mannling nehmen würde. Das seit unzähligen Generationen von Müttern überlieferte Mittel, Gemütern mit ausgeprägt mannlingscher Wesensart vorbeugend Einhalt zu gebieten, war die Entkeimung. Um hier wieder einmal eine weise Entscheidung zu treffen und der Hoffnung Ausdruck zu verleihen, dass keiner der Knablinge aus der Stätte der Aufzucht entlassen jemals die Kreisläufe der Natur durchbrechen würde, nahmen die Mütter sich gegenseitig bei der Hand und bildeten einen Kreis.
Ayiah war links neben Leial zu sitzen gekommen, deren kalte, leicht feuchte Hand sie widerwillig in der ihren hielt. Ayiah mochte Leial nicht und war sich sicher, dass diese Abneigung auf Gegenseitigkeit beruhte. Die beiden jungen Frauen hatten vor drei Umläufen Luna ihr erstes Kind geschenkt und wie üblich waren ihnen diese direkt nach der Geburt abgenommen worden, ohne dass ihnen ihr Geschlecht offenbart worden war. So wie sich ein Kind im Leib der Mutter von deren Blut und Odem nährte, konnte auch eine einzelne Mutter nur überleben, wenn sie im Körper der großen Mutter ruhte, den die von Luna begnadete Gemeinschaft aller Frauen und Mütter bildete. In dem Moment, in dem die Nabelschnur durchtrennt wurde, ging die Frucht daher vom Leib der Mutter in den Körper der großen Mutter über und gehörte fortan der Gemeinschaft aller Mütter.
Während Ayiah sich noch immer mit jeder Handbreit ihrer Haut nach ihrer Leibesfrucht verzehrte und ihr Herz bei dem Gedanken schneller schlug, dass diese sich irgendwo hier in der Stätte der Aufzucht befinden konnte, schien Leial in keiner Weise unter der Trennung von ihrem Kind zu leiden. Sie war sich sicher, einer Kleinen Frau das Leben geschenkt zu haben, die wie alle weiblichen Nachkommen inzwischen zum Hort der Weisung gebracht worden war, wo sie – wie einstmals auch sie selbst – auf ihre Lenkungsaufgaben den Mannlingen gegenüber und die besondere Verantwortung der Frauen der Schöpfung gegenüber vorbereitet werden würde. Sie begegnete den ihr anvertrauten Knablingen mit größter Sachlichkeit und Strenge und kam sie daran, einem Saugling die Brust zu geben, erledigte sie das gewissenhaft und ohne jegliche Gefühlsregung. Ayiah dagegen betreute alle Sauglinge mit großer Fürsorge und Liebe, schließlich konnte jeder von ihnen ihre eigene Frucht sein und auch die Knablinge ihrer Gruppe behandelte sie mit nachsichtiger Einfühlsamkeit. Vielleicht war ja ihre Leibesfrucht, wenn es denn ein Knabling war, in etlichen Umläufen ebenfalls auf die Güte einer Mutter angewiesen.
Jede Entkeimung musste von der Mutter, die die Gruppe des entsprechenden Knablings führte, genau begründet werden und auch die anderen Mütter wurden dazu gehört. Die endgültige Entscheidung aber lag bei der Ältesten Mutter. In Leials Gruppe war der Anteil der für die Entkeimung vorgeschlagenen Zöglinge am höchsten. Brachvogel zu entkeimen war ihr ein persönliches Anliegen.
„Das ganze Sein dieses Knablings ist pure Hoffärtigkeit. Stets geht er seinen eigenen Weg und – Luna sei es geklagt – oft durchaus auch mit Erfolg. Er will sich nicht einfügen und sein Verhalten ist in keiner Weise einzuschätzen. Als ausgewachsener Mannling wird er nur schwer zu kontrollieren sein.“
„Wir alle kennen das unangepasste Verhalten dieses Knablings und unter dem Gesichtspunkt, dass wir ein beträchtliches Wagnis eingehen, wenn wir Zöglinge wie ihn zu Zeugungsträgern heranwachsen lassen, ist deine Rede schlagend, Leial“, erklärte die Älteste Mutter und sah dann fragend in die Runde der Mütter. „Hat zu dem Knabling Brachvogel noch jemand etwas zu sagen?“
Auch wenn ihre Stimme als Erstgebärende im Rat der Mütter noch kein großes Gewicht hatte, wollte Ayiah sich doch Gehör verschaffen. Sie war sich sicher, dass es nicht sinnvoll sein konnte, wenn jeder Knabling, der sich nicht reibungslos in die Kreisläufe des Horts einfügte, notwendig der Entkeimung anheimfiel. Galt es doch, die Klave in ihrer Nachkommenschaft mannigfaltig, vielgestalt und damit überlebensfähig zu halten. Schließlich weckten Zeugungsträger nicht nur das im Schoß der Mütter angelegte Leben von Knablingen, sondern auch das Leben kleiner Frauen und damit zukünftiger Mütter und Lenkerinnen. Würden nur die unauffälligen und angepassten Knablinge zu Zeugungsträgern ausersehen, wäre zwar der mannlingsche Widerstandsgeist gebrochen, aber die Vielfalt der Quelle der vererbten Anlagen, aus der die Klave ihren Nachwuchs schöpfte, würde über die Generationen hin langsam austrocknen und die Gemeinschaft allmählich der Fähigkeit verlustig gehen, aus der Fülle der Bahnen der natürlichen Kreisläufe Neues zu schöpfen, um so angesichts unvorhersehbarer Widerfahrnisse ihr Überleben zu sichern. Hierin lag ein Zwiespalt, dessen sich Ayiah nur zu bewusst war.
Würden die Menschen in allem den Kreisläufen der Natur folgen und sich ihnen gänzlich einpassen, könnten sie nur schwerlich überleben. Würden sie andererseits aber der Natur ungehemmt ihren Willen aufzwingen, wäre diese und damit auch der in sie eingebundene Mensch gefährdet. Es galt also ein empfindliches Gleichgewicht zu wahren.
Ayiah entzog Leial ihre linke Hand und stemmte sie in die Hüfte zum Zeichen, dass sie sich äußern wollte.
„Sprich, Ayiah“, sagte die Älteste Mutter
„Hat Brachvogel denn jemals Gewalt gegen andere, die Natur oder sein Fürsorgewesen ausgeübt?“, richtete sich Ayiah direkt an Leial.
Diese schüttelte den Kopf, denn das konnte sie nicht mit Fug behaupten und auch den übrigen Müttern war kein einziger derartiger Fall bekannt.
„Sein alleiniger Fehl ist also, dass er seinen eigenen Kopf hat und deshalb schwer einzugliedern ist“, fuhr Ayiah fort. „Ich glaube, wir werden in Zukunft solche Köpfe brauchen, um Missernten, den Launen der Witterung, den Wanderungen des Wildes, dem Beben der Erde und anderem Unbill wirkungsvoll begegnen zu können. Bedenkt, dass Zeugungsträger nicht nur Mannlinge, sondern auch Frauen im Schoße der Mütter wecken und wenn wir nur die im Körper trägen und im Geiste fügsamen Knablinge zu Zeugungsträgern reifen lassen, wird der Quell unserer Fortpflanzung von einem mächtigen, vielfältigen Strom zu einem kläglichen, einfältigen Rinnsal verkommen. Wir täten deshalb gut daran, Brachvogels Schambeutel nicht leer zu schlagen, sondern ihn zu einem Zeugungsträger heranreifen zu lassen. Wohl aber sollten wir ein besonderes Augenmerk auf ihn haben, denn unstrittig liegt in ihm nicht nur eine Gunst des Schicksals, sondern auch eine Gefahr. Denn eine Güte des Geschicks scheint mir immer damit verbunden zu sein, dass aus ihr auch eine Gefahr erwachsen kann.“
„Mannlinge sind unbelehrbar und ihr ungebrochener Geist wird, wie uns die Geschichte wohl gelehrt hat, zu einer Gefahr für die Schöpfung“, ereiferte sich Leial. „Es ist eine gar arge Wirrnis, dass wir, um Nachkommen zu haben, auf Wesen wie die Mannlinge angewiesen sind. Würde Lunas reiner Geist walten, wäre es uns Frauen gegeben, untereinander Kinder zu zeugen.“
Die Älteste Mutter stützte ihr Kinn in die Hand und sann lange nach. „Für deine jungen Jahre spricht aus deinen Worten eine ungewöhnliche Weitsicht, Ayiah“, beschied sie dann. „Damit die Klave den Widernissen des Schicksals besser trotzen kann, scheint es mir tatsächlich ratsam, ein Wagnis einzugehen. So sei es denn, möge Brachvogel zu einem Zeugungsträger heranreifen.“
In den Mienen der Mütter spiegelte sich zu etwa gleichen Teilen Zustimmung und Ablehnung wider. Leial aber kniff die Lippen zusammen und sah Ayiah, die sie nach ihrer Rede wieder bei der Hand genommen hatte, um den Kreis zu schließen, hasserfüllt an. Ayiah war klar, dass sie nun eine Verantwortung für diesen Knabling Brachvogel trug und es ihr auferlegt war, seinen weiteren Weg zu verfolgen.
Am nächsten Morgen fehlten in den Gruppen der älteren Zöglinge die meisten Gefährten und nur wenige Mütter waren zugegen. Auch Brachvogel vermisste seinen Freund Agror. Aus der Ferne ließ sich leise das dunkle Tönen vernehmen, das, auch wenn es einmal abebbte, den ganzen Tag immer wieder anhob.
Auch die nächste Zeit blieben die Knablinge verschwunden und als sie dann wieder auf den Plan traten, staksten sie mit ungelenken Schritten und steifen Beinen umher wie die Störche und hatten Schmerzen beim Sitzen.
„Was ist euch widerfahren?“ fragte Brachvogel seinen Freund.
„Da war ein großes, dunkles Gedröhn der Drehleiern, ich habe ein abscheuliches Gebräu zu trinken bekommen und dann haben die Mütter irgendetwas mit meinem Schambeutel angestellt. Ich habe große Pein durchlitten“, erwiderte dieser.
Mit dem wiederkehrenden Wechsel der Gestalt des sanften Gestirns und unter dem Ansturm immer weiterer Aufgaben und Prüfungen, denen die Mütter die Knablinge zunehmend aussetzten, geriet dieses Ereignis bald in Vergessenheit. Die Knablinge, die dem großen Gedröhn unmittelbar ausgeliefert waren und die, die es nur aus der Ferne gehört hatten, lebten zusammen wie ehedem und erfuhren durch die Mütter auch die gleiche Behandlung. Erst viel später würde sich herausstellen, dass die beiden Gruppen von Knablingen eine unterschiedliche körperliche Entwicklung nehmen sollten.
Brachvogel und Agrors Zeit in der Stätte der Aufzucht neigte sich allmählich ihrem Ende entgegen. Längst schon riefen sie die Mondin während der Abendbesinnung nicht mehr an wie die kleinen Milchkinder, sondern in der Art der großen Knablinge, die bald in das Leben in der Klave entlassen werden würden. Dazu nahmen sie die Haltung der Demut und Besonnenheit ein, knieten sich hin, drückten ihr Gesäß auf die Fußsohlen, senkten die Brust auf die Oberschenkel, führten die Arme seitlich nach hinten, legten die Handrücken neben die Füße und neigten die Stirn zur Erde. Dergestalt gekauert und auf die Erde hingegossen intonierten sie:
„Oh Große Luna!
Vertrauensvoll an die Erde geschmiegt,
verharren wir hier in tiefer Demut,
uns zu besinnen und in Einklang zu kommen
mit allem, was da lebt und west.
Und wenn wir uns dann erheben,
befleißigen wir uns nicht des aufrechten Ganges,
erhobenen Blickes und raumgreifenden Schrittes
die Erde zu zerstören, in grenzenloser Gier,
sondern, den Kopf besonnen gesenkt,
maßvoll vorwärts uns zu tasten,
uns nur zu nehmen, was wir notwendig brauchen,
das Leben zu hegen und die Dinge zu bewahren,
ganz so, als ob wir nicht auf Erden wandelten.
Damit wir uns nicht selbst zernichten,
wie zu Zeiten der Großen Verderbnis,
sondern in Einklang mit der Schöpfung leben,
immerdar.“
System / ClockedCounter / Update_567 / Takt_19.870.261
„Geckos kleben löst die Traumerinnerung.“
unbekannter Oneironaut
Eng mit dem Gesicht zur Wand ihres Hexagons hin gekauert hockte die Citizen, das linke Bein ausgestreckt und das rechte unter ihrem Gesäß angewinkelt, hinter einer Ecke ihres ManagingDesks; einem der beiden toten Winkel, die nicht vollständig von ihrem MatchingEye eingesehen werden konnten. Vergaußt, sie hasste es, sich derart zu verrenken, aber es war nötig, denn so waren Hinterkopf, linkes Bein und linke Schulter gut sichtbar und solange die Kameralinsen ihres Eyes nicht mehr als 70 Prozent ihrer Körpermasse aus dem Focus verloren, würde kein Alarm ausgelöst werden. Ihre rechte Seite aber war verdeckt und in der gewölbten linken Hand fast verborgen umklammerte sie ein kleines Gadget, das sie mit der rechten hektisch bearbeitete.
Lalic4j8 oder Esther, wie sie in Kreisen der Oneironauten genannt wurde, bereitete sich auf ihren ersten Außeneinsatz vor. Das Gadget, das sie in der Linken barg, war ein DreamKey, eine HackWare, mittels derer sie ihr Drittes Auge auf Traumzeit umstellen würde. Über entsprechend segmentierte und manipulierte Kopien von automatisch aufgenommenen Recordings der MatchingEyes war es den Oneironauten gelungen, sich einen Freiraum zu schaffen, innerhalb dessen sie von den omnipotenten Agenten des Systems unbeobachtet agieren konnten: die Traumzeit. Sie hatten für jeden „Nauten“ ein umfangreiches und äußerst aufwändig gestaltetes Set von Fake-Schleifen entwickelt, die in sein Eye eingelesen werden konnten und ihn, während er einer subversiven Tätigkeit nachging, in unverfänglichen Situationen zeigten. Neben Modulen, die auf der üblichen Alltagsroutine des jeweiligen Nauten aufbauten, gab es auch etliche, RedAlertFakes genannte Settings, die eingesetzt werden konnten, um in kritischen Situationen der individuellen Überwachung eines MatchingEyes zu entkommen.
In der Regel provozierte es einen Alarm und den sofortigen Zugriff des Systems auf den Echttaktspeicher eines Eyes, der den synchronen Stream der Aufzeichnung enthielt, wenn die im Blutkreislauf der Citizens zirkulierenden Nanobots eine sprunghafte Veränderung ihres Körperstatus meldeten. Und da die Aktionen der Oneironauten meist mit aus dem Mittel fallenden Ortswechseln und hoher innerer Anspannung und Aufregung verbunden waren, manipulierte der Traumzeit-Hack neben dem Recording auch das GeoTracking und die Körperstatusdaten.
Esther, die inzwischen derart aufgeregt war, dass sie neben ihrem hämmernden Puls förmlich zu spüren vermeinte, wie auch ihr Blutdruck kontinuierlich anstieg, war sich sicher, dass sie jetzt unausweichlich einen Alarm ausgelöst hätte, würden ihre Körperstatusdaten nicht durch den Hack künstlich unterhalb einer unbedenklichen Schwelle gehalten. Um einen Alarm zu verhindern, hatte sie wohlweislich auch schon lange im Vorfeld, bevor sie ihren DreamKey zur Hand genommen hatte, damit begonnen, ihre Nervosität mit speziellen Atemtechniken einzudämmen.
Sie musste ihre Aktion im Rahmen eines großzügig gepufferten Zeitfensters planen, das zwischen den RetrievalPoints lag, an denen das System die für die dauerhafte Archivierung bestimmten Daten aus dem Zwischenspeicher ihres Eye abrief; Takt 43.200 und 86.400. Da das System alle seine stationären und mobilen Agenten als unmittelbare organische Verlängerung der eigenen Hardware betrachtete, liefen die Eyes in der Zeit zwischen den RetrievalPoints völlig autonom. An den RetrievalPoints aber wurde ein Sicherheitsstatus gezogen und dazu ein Monitoring sämtlicher in die Software eines Eyes implementierten Parameter vorgenommen. Es war nahezu unmöglich, eine Fake-Schleife über einen solchen Abfragepunkt hinweg aufrecht zu halten, ohne dass der Hack entdeckt werden würde. Esthers Aktion sollte Takt 72.000 starten und maximal 3 MacroTakte dauern; sie würde also genügend Takt haben, bis das System am nächsten RetrievalPoint die zu archivierenden Daten von ihrem Eye abzog.
Sie konnte aber nicht einfach voraussetzungslos eine Fake-Schleife einspielen, sondern musste dazu vielfach äußerst knifflige Übergangs- und Anschlussstellen einnehmen, um die Schnittstellen, an denen der Fake beginnen und enden sollte, mit dem automatischen Recording ihres Eyes zu synchronisieren. Je nahtloser Fake und Recording ineinander übergingen, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass der Fake nicht aufflog. Aus diesem Grund begann und endete jede Fake-Sequenz mit einem statischen Setting, das die bewegungslose Esther isoliert von anderen Citizens vor einem Hintergrund zeigte, der sich nicht veränderte. Die Position, die sie dazu jeweils als Anschlussstelle während des automatischen Recordings einnahm, musste mit den Einstellungen des jeweiligen Fakes deckungsgleich sein.
In Bezug auf Sequenzen, die in ihrem Hexagon spielten, war die Erstellung solch eines passenden Kongruenzsettings kein Problem. Wollte sie dagegen ihr Eye außerhalb ihrer 6 Wände zu einem Ausflug in die Traumzeit überreden, war dies schon schwieriger. Das Andocken einer Fake-Schleife an ein Außensetting war immer dann erforderlich, wenn sie zu einer Aktion auf einem weiter entfernten Ground aufbrach oder zu einer Traumsitzung im Refugium der Oneironauten eingeladen war, das in den Katakomben unter GroundZero lag. Es war in jedem Fall sicherer, die Dauer einer Fake-Schleife so kurz wie möglich zu halten. Auf dem Weg zu einer Traumsitzung fuhr sie also zunächst unter den wachsamen Augen ihres Eyes zu einer auf GroundOne gelegenen Station der AntiGrav, die sich dadurch auszeichnete, über mehrere tote Winkel zu verfügen, in deren Schutz sie ihren DreamKey entsprechend der aktuell vorgefundenen Situation programmieren konnte. Wenn sie dann eine geeignete Ausgangsposition einnahm, an der sie das Recording ihres Eyes auf eine Fake-Schleife umstellen konnte – beispielsweise eine Shoppingtour, die just an dieser Station der „Grav“ begann –, musste sie darauf achten, dass weder andere Citizens noch der Stream eines InfluenceBoards oder hinter ihr dahingleitende Cabs in den Focus ihres Eyes gerieten. Um hier den richtigen Moment abzupassen, war es erforderlich, ständig den Überblick zu behalten und dann blitzschnell zu reagieren. Zu ihrem großen Bedauern hatte Esther schon so manche Sitzung ausfallen lassen müssen, weil sich mindergauß keine passende Gelegenheit ergeben hatte, ihre Position entsprechend freizustellen. Alle Fake-Schleifen endeten immer in ihrem Hexagon, so dass zumindest hier keine Schwierigkeit bestand, den Fake wieder in das normale Recording zu überführen.
Da ihre aktuelle Aktion sie nicht so weit weg führen würde, startete sie die dafür erforderliche Traumzeit von ihrem Hexagon aus und wählte eine Szene, die sie auf ihrem RestBoard liegend zeigte, während sie Musik hörte und daran anschließend dokumentierte, wie sie noch etwas Housekeeping erledigte, sich danach in ihrer Nasszelle mit einer üppigen Ganzkörperaquamassage für ihre Ruhephase fertig machte und sich dann auf ihr RestBoard legte. Der Fake lief exakt 3 MacroTakte, so dass sie sich gegen Takt 82.800 wieder in ihrem Hexagon einfinden musste. Den Beginn der Schlafsequenz würde sie zeitlich auch noch etwas strecken können, so dass sie noch einen Puffer hatte, sollte ihr etwas dazwischenkommen und ihre Aktion länger als geplant dauern.
Nachdem Esther ihren DreamKey entsprechend programmiert hatte, verbarg sie ihn so in ihrem Suit, dass sie den Startbutton durch den Stoff hindurch ertasten und betätigen konnte und arbeitete sich wieder hinter ihrem ManagingDesk hervor. Dann fuhr sie ihr RestBoard aus, legte sich rücklings ausgestreckt flach darauf und positionierte die linke Hand direkt an dem Button ihres DreamKeys. Diese Körperhaltung entsprach genau dem Eingangssetting der Fake-Schleife, die sie gewählt hatte. Per VoiceResponse schaltete sie ihre SoundSpheres ein und wählte den Anfang von „We all march to the Middle“, das dann auch in ihrer Fake-Schleife einsetzen würde.
Im Grunde aber war ihr die Musik völlig egal. Im Grunde war auch ihr Leben unter dem MatchingEye völlig egal: ein Fake. In ihrem Job – sie war JuniorAdvisor bei einem der Betreiber der groundgebundenen AntiGrav – im OmniNet und den MatchingSessions verhielt sie sich wie eine Citizen, die begeistert Angebote wahrnahm und ihre Wahlmöglichkeiten nach allen Maßgaben ihres BuyingGuards voll ausschöpfte. Sie verkörperte die exakte abstrakte Mitte einer völlig ebenmäßigen Gaußkurve auf zwei Beinen: Sie war immer, im Rahmen einer jeden Wahl, einer jeden Kategorisierung und zu jedem Takt absolut und zu 100 Prozent gemittelt. Ihr wirkliches Leben aber spielte sich in der Traumzeit ab.
Jetzt dreimal tief durchatmen und dann vorsichtig, so, als würde sie sich kratzen, den Button ihres DreamKeys drücken. Ein leichtes Vibrieren bestätigte ihr, dass ihr Hack geglückt war: Traumzeit! Es hatte immer etwas aufregend Befreiendes, dem alles durchdringenden Blick des Dritten Auges entronnen zu sein. Im Grunde genommen konnte sie jetzt alles tun, was sie nur wollte, ohne befürchten zu müssen, reglementiert und von ihren sogenannten Mates in die zermürbende Routine eines MatchingLoops gezwungen zu werden, um wieder „gemittelt“ zu sein. Aber natürlich wäre es völlig verfehlt, die Traumzeit für irgendwelche mindergaußen Aktionen zu nutzen, dazu war sie den Oneironauten und allem, was sie mit dem Erlebnis des Träumens verband, viel zu sehr verbunden und verpflichtet. Denn nicht die Überlistung der Eyes und die Einleitung der technischen Traumzeit war es, worum es wirklich ging, sondern um das Träumen als solches. Ihr ganzes Bestreben drehte sich um das, was die Traumzeit an der Erfüllung naiver Neugier, grenzenlosen Hoffnungen, ziehenden Sehnsüchten, an neuem Erleben, tiefem Empfinden und ja – überwältigenden Träumen – bereithalten mochte.
Sie erinnerte sich noch sehr eindrücklich daran, wie es gewesen war, als sie zum ersten Mal die Erfahrung gemacht hatte zu träumen. Irgendwie war sie damals schon lange von dem deprimierenden und verflachenden Gefühl niedergedrückt worden, dass sich ihr Leben in einer endlosen Schleife der immer gleichen Routinen erschöpfte. Alles und jedes war berechnet, vorherbestimmt und absehbar. Ihr ganzes Leben war gemäß den Anträgen des Systems durchgetaktet und von den Mittelungen der Agency of SocialTechnology und den MatchingLoops ihrer Mates fixiert wie die auf Nadeln gespießten Urinsekten in ihren durchsichtigen ConservationBoxes, die sie einmal bei einem Besuch im AnimalDrom gesehen hatte. Jeder Tag begann auf die gleiche Weise, verlief auf die gleiche Weise und endete auf die gleiche Weise. Die wenigen Veränderungen, die sie erlebt hatte, zeichneten sich schon, lange bevor sie eintraten, mit exakt quantifizierbarer Eintretenswahrscheinlichkeit und Sicherheit ab, so dass sie sich, wenn sie dann gemäß sämtlicher Anträge des Systems und nach allen Regeln der Agency gemittelt umgesetzt waren, nicht nach etwas Neuem anfühlten, sondern nur als fade Fortsetzung der üblichen Routine. Es war, als liefen die im Mittel erwartbaren 95 MajorTakte ihres Lebens wie auf einem schnurgraden String der AntiGrav reibungs- und ereignislos ihrem gemittelten und erwartbaren Ende entgegen. An diesem Gefühl konnten auch die megagaußen Events und die stetige Flut von Produktinnovationen und neuen Services nichts ändern, die ihre Mates taktauf und taktab im OmniNet diskutierten, kategorisierten, wählten und rankten.