Kitabı oku: «Dismatched: View und Brachvogel», sayfa 8

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Doch eines Morgens war sie erwacht und hatte die Ahnung von etwas völlig anderem in sich gespürt. Sie war nicht wie sonst vom Sinuston ihres Morpheustrons aus ihrer Ruhephase gerissen worden, sondern irgendwie allmählich von selber aus dem Schlaf in den Tag geglitten. Neben der Tatsache, dass ihr „Tron“ offensichtlich einen Defekt hatte und der völlig ungewohnten Befürchtung, vielleicht zu spät zum Job zu kommen, drängte sich ihr da noch etwas anderes auf. Was war da? Was streckte da aus dem Schlaf völlig unbekannte Fühler nach ihr aus? Sie sprang nicht wie gewohnt gleich auf, sondern rührte sich nicht, blieb einfach liegen und spürte intensiv nach. Zunächst nahm sie nur Äußerliches wahr: Das Gewicht ihres ausgestreckten Körpers auf dem RestBoard. Die Decke, die etwas über ihren aufgerichteten Zehen spannte. Ein leichtes Jucken an der Nase, aber nicht so stark, dass sie sich hätte kratzen müssen. Das Licht, das schräg durch das Bullauge ihres Hexagons fiel. Allmählich drang sie tiefer. Da war die sachte Empfindung von etwas, dass sie während ihrer Ruhephase erlebt hatte. Wie konnte das sein? Sie hatte nur wie immer auf ihrem Board gelegen und ihre sieben MacroTakte dauernde Entspannungsphase durchgeführt, um ihre Ressourcen für den nächsten Tag wieder aufzuladen. Nicht mehr und nicht weniger. Da war sonst nie etwas. Doch heute war es anders.

Domescraperhoch war sie in der Luft gewabert. Über eine Landschaft geschwebt. Über Berge, Täler, Flüsse und mit Wäldern bestandene Ebenen, die es so in der Urb nicht gab. War gemächlich in unterschiedliche Höhen mäandriert. Hatte windbrausende Geschwindigkeit aufgenommen, bis die Konturen der Welt unter ihr verschwammen. Sich verlangsamt, bis die Luft zu einem leichten Säuseln wurde und sich jedes Detail unter ihr scharf stellte. Ganz wie es ihr beliebte. Ein grenzenloses Glücksgefühl war in ihr aufgestiegen. Sie durfte aber nicht zu hoch fliegen. Einen bestimmten Abstand zum Untergrund nicht überschreiten. Sonst hätte es sie weggerissen. Das taxierende Spiel mit der Gefahr der Grenze rief ein unbekanntes, prickelndes Kitzeln in ihrem Bauch hervor. Als sie sich lustvoll zwischen Höhen und Tiefen eingeschwungen hatte, fühlte sie, wie sie sich im schwerelosen Dahingleiten auflöste. In der unbekannten Landschaft, die unter ihr vorbeizog. In der Bläue des unendlichen Himmels, die sie trug. Und doch war sie völlig auf den innersten Kern ihres Selbst konzentriert gewesen.

So sehr sie auch versucht hatte, das Empfinden festzuhalten, verblasste es allmählich vor der Folie des sich unabwendbar aufdrängenden Alltags und sie war unendlich traurig, dieses unglaubliche Gefühl zu verlieren. Doch gelang es ihr, einen Abglanz davon festzuhalten und in ihren Tag hinüberzuretten.

In den nächsten Takten hatte sie dann immer wieder solche Erlebnisse und war völlig von diesen Zuständen vereinnahmt worden. Je mehr sie lernte, ihre Erfahrungen zu konkretisieren und sich bewusst zu machen, desto mehr schienen sie ihr einen Ausweg aus der endlosen Tristesse ihres Alltags zu bieten.

Was genau es mit dem Träumen auf sich hatte, sollte sie erst viel später von den Oneironauten erfahren. Vorerst hatte sie das, dem sie nach so mancher Ruhephase nachspürte, für sich als „aus dem Takt gefallen sein“ bezeichnet.

Nachdem sie ihr Eye unschädlich gemacht hatte, rollte sich Esther ihre EmptyFace-Maske über Kopf und Gesicht und zupfte sie solange zurecht, bis sie an Ohren, Augen, Nase und Mund richtig anlag. Die Iris ihrer auffallend grünen Augen verbarg sie hinter dem Hypergel grauer Kontaktlinsen. Zwar spannte die Latexhülle zunächst unangenehm auf ihrem Schädel, doch ertrug sie dieses Gefühl von Enge und Abgeschnürtsein in der Hoffnung, sich frei bewegen zu können, ohne erkannt zu werden. Sobald die Gesichtsfolie Körpertemperatur angenommen hatte, würde sich das ohnehin geben. Die Maske war auf der Grundlage der übereinstimmenden Merkmale der MimikScans hunderter Citizens entwickelt worden, so dass ihr Ausdruck so glatt und nichtssagend war, als wäre ihre Trägerin unsichtbar. Wahrscheinlich würde sich niemand an sie erinnern, auch wenn er ihr stundenlang gegenübergesessen hätte. Hier wurde Mittelung eingesetzt, um das System mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, pflegte Kassandra, die Seherin ihrer Sektion der Oneironauten, zu sagen.

Als Esther aus ihrem Hexagon in den CircuitWalk ihres Habitats trat, endete das Gefühl der Freiheit abrupt, das sie nach der Deaktivierung ihres Eyes überkommen hatte. Sie konnte die Linsen der überall montierten stationären Aufnahmeeinheiten, der in den Gängen zirkulierenden mobilen Drohnen und der MatchingEyes, die über den Köpfen der anderen Citizens schwebten, wie zudringliche Blicke, die ihren Körper abtasteten, fast körperlich spüren. Sie war hoch nervös. In dem abgeschirmten Refugium der Nauten in der Mnemosyne-Lösung im Tank zu liegen und seine Träume zu analysieren, war etwas völlig anderes, als in aller Öffentlichkeit gegen das System aktiv zu werden. Sie war die allgegenwärtige Beobachtung und Überwachung so gewohnt, dass sie sich nur schwer vorstellen konnte, direkt unter den Augen des Systems MorpheustronDisrupter zu positionieren.

Auf dem Weg zum Lift kam ihr einer ihrer FirstMates entgegen, Greve2m8, mit dem sie die UniqueSchool besucht hatte und dessen Hexa­gon ein Stück den CircuitWalk hinunter lag. Wie sie während der Mittelungen der letzten MatchingSessions erfahren hatte, war Greve seit Neuestem Anhänger des Rhythm­Climbing, eines von CreativeClimb.Inc. massiv auf allen Kanälen des OmniNet forcierten neuen Trends. Hier erklomm man zum Takt eigens kompilierter Klangfolgen Kletterwände und gruppierte sich dabei mit weiteren Climbern zu Teams, die jeweils synchron die Bewegungen anderer Teams widerspiegelten. Das Ganze gipfelte dann in einer symmetrisch schwingenden Aufwärtsbewegung der Teams aller Beteiligten. Mit dem ihm eigenen Sendungsbewusstsein für seine Marken wurde Greve nicht müde, seinen Mates die MovingPics der so entstehenden LevitationChoreografien zu promoten, um neue Anhänger für seine aktuelle Obsession zu werben. Im Gegensatz zu Esthers Social­Score war der seine kein Fake, denn Greve setzte voll auf die Empfehlungen seines BuyingGuards und folgte den aktuell gaußen Marketing-Trends wie ein MatchingEye seinem Citizen, ohne dabei zu merken, dass der absolut ultimative Thrill ständig immer wieder aufs Neue versprochen wurde. Im Grunde schien das eigentlich auch sonst niemand zu bemerken.

Greve kam von seinem Job als DataAggregator bei der MatchingAdministration und würde wohl gleich wieder zu einer ClimbingSession aufbrechen. Wahrscheinlich kam sie, um den Schein zu wahren, nicht darum herum, sich demnächst ebenfalls an einer dementsprechenden Kletterwand abzustrampeln. Da sie ihrem Mate jetzt nicht mehr ausweichen konnte, wollte sie ihn schon grüßen und wie immer ihren unverbindlichen Smalltalk abspulen, der unter Beweis stellen würde, in welch hohem Grad sie gemittelt war und interessiert an allen aktuellen Trends teilnahm und natürlich auch die gaußen Moves seiner RhythmClimbings verfolgte, als ihr die leichte Spannung auf ihrer Gesichtshaut ins Bewusstsein rief, dass sie ja ihre Maske trug. Greve ging an ihr vorbei, als wäre sie unsichtbar. Esther atmete auf. Ganz offensichtlich erfüllte ihre Gesichtsfolie ihren Zweck und es würde schon alles gut gehen. Etwas zuversichtlicher betrat sie den Lift, der sie nach kurzer Fahrt in das Basement ihres Habitats entließ. Es war exakt Takt 72.000.

Auf dem MainWalk zwischen den Habitaten herrschte Feierabendstimmung. In den Kuppeln der Domes war die Abendanimation angebrochen und die über ihr auf den Strings der AntiGrav dicht an dicht dahinschwebenden Cabs kurvten lange Lichtschleifen in den künstlichen Himmel. Die spiegelnden Fassaden der umliegenden Habitate, OfficeTower und ShoppingCenter strahlten in antiseptisch klaren Komplementärfarben. Über der in der Mitte des Grounds ragenden Dependance von Pear.Inc. kreiste das dreidimensionale SculptureLogo in Form einer riesigen Birne, über die in weithin sichtbarer Schrift ständig wechselnde Werbebotschaften liefen. Andere Anbieter mit geringerer Marktmacht mussten sich damit be­gnügen, ihre Werbung auf flachen Boards zu streamen, die Esther deswegen aber als nicht weniger aufdringlich empfand, weil sie überall ihr Blickfeld infiltrierten. Immerhin sah sie ab und an auch die Botschaft der Oneironauten aufblitzen: „Dein Schlaf gehört dir!“ Sie war dankbar, dass die Beschallung mit Entspannungsmusik, die den rekreativen Flow der Citizens anregen sollte, gerade ausgesetzt hatte.

Den olfaktorischen Angeboten der Hersteller von BodyCare-Produkten konn­te sie dagegen nicht entgehen. Den gesamten Walk entlang waren SmellJets angebracht, die je nachdem, welche Gruppe von Citizens gerade an ihnen vorbeizog, die zu ihrem gemittelten Einkaufsprofil passenden Düfte emittierten. Sobald die nächste Gruppe nahte, wurde der aktuelle Geruch neutralisiert und von einem neuen überlagert. Da Esther nicht wie alle anderen in einer Gruppe, sondern alleine unterwegs war, registrierten die Sensoren der Jets sie als nicht kaufkräftig genug, und sie schwamm in einer Wolke ständig wechselnder penetranter Gerüche.

Die Citizens, die zu Fuß oder in Pulks von Hovern den MainWalk bevölkerten, strebten zu den MarketingEvents, den PromoShows der HoloCines, in die SensualCaves, die GameMiles, die BodyPower-Center oder in eines der zahlreichen LoveGyms, die auf dem JoyCircle des Grounds lagen. Die aktuell gaußen Farben, Outfits, Gadgets und Accessoires wurden zur Schau getragen. Direkt vor Esther produzierte sich eine Gestalt in den grellsten CoatingColours, die dort, wo sie direkt auf der Haut auflagen, je nach Veränderung des Hautwiderstands anders changierten. Und mit freier Haut geizte die Citizen nicht; wahrscheinlich war sie auf dem Weg in ein LoveGym. An beiden Handgelenken trug sie AeroFlats, die sie synchron bediente. Da Esther aus ihrem Blickwinkel die Projektionsfläche der Flats nicht wahrnehmen konnte, sah es aus, als tippe die Citizen mit beiden Händen in der leeren Luft herum.

Sie entdeckte etliche SecurityCorps in ihren charakteristischen grauen Carbonharnischen in der Menge. Sie hatte weder gesehen noch davon gehört, dass ein SecCorp jemals seinen Paralysator eingesetzt hätte, doch gewiss gab es eine vom Board of PredictiveProfiling auf der Basis welcher Parameter auch immer ausgewiesene Korrelation, dass pro Menge X Citizens in Feierabendlaune ein ganz bestimmter Prozentsatz von Y SecCorps zu patrouillieren hatte. Und wahrscheinlich war dieser Prozentsatz auf der nach oben offenen Sicherheitsskala eher zu hoch als zu niedrig angesetzt.

Die Gesprächsfetzen, die sie aufschnappte, drehten sich um neue und alte Marken, neue und alte Trends und darum, ob der Relaunch ehe­maliger Kulttrends wohl greifen würde. Es wurde heftig darüber diskutiert, wann welcher Anbieter welche Innovation auf den Markt bringen könnte oder würde. Es ging darum, wer, was schon angetestet oder länger in Gebrauch hatte und wer, wem, was empfehlen konnte. Es ging darum, ob das eigene Psycho­gramm oder der Kauftrend seiner SocialUnit mit bestimmten Produkten oder Services kompatibel war und was die BuyingGuards dazu zu sagen hatten. Und natürlich ging es um die Abweichungen von Mates, die einem MatchingLoop unterzogen worden waren.

„Kennt ihr Mea7y2? Der ServiceTrend ihrer SocialUnit geht signifikant in Richtung Convenience-Food. Die rühren in ihrer Küche keinen Finger, bestellen sich alles fertig ins Habitat. Übrigens soll da PleasureMeal.Inc. gauße Sachen haben. Die erwärmen sich, nachdem du die Folie aufgerissen hast, durch die Zufuhr von Sauerstoff von selbst. Aber egal. Jedenfalls fing diese Mea auf einmal an, selber Sachen zu kochen. Also ich hätte das ja nicht essen wollen. Und was soll das überhaupt? Entweder ich bin in einer Unit, die kocht oder in einer, die Fertiggerichte mag. Und wenn man unterschiedliche Fertiggerichte mag, ist das ja auch in Ordnung. Produktvielfalt soll ja sein. Aber so was? Wie will die je mit ihrem BuyingGuard klarkommen und durch eine einigermaßen stringente Einkaufsbiografie ihr Psychogramm optimieren, wenn sie gegen den Trend der eigenen Unit angeht und sich in solch grundlegenden Merkmalsausprägungen nicht mit ihren Mates matcht?“

Esther wandte sich ab. Sie konnte und wollte das alles nicht mehr hören. Früher war es auch für sie megagauß gewesen, völlig in dieser kurzlebigen und oberflächlichen Welt des Marketing im künstlichen Kosmos der Produkte aufzugehen. Doch nach ihrem ersten Traum war sie immer öfter „aus dem Takt gefallen.“ Was geschah mit ihr? Woher kamen diese Bilder, Gefühle, Eingebungen, Eindrücke und Gesichte, die sie stärker berührten als alles, was sie bisher gesehen und erlebt hatte? Je intensiver sie die verlockenden Verheißungen ihre Träume umschmeichelten, desto eindrücklicher setzte sich die Ahnung in ihr fest, hier aus völlig unbekannten Tiefen von etwas berührt zu werden, das sie weiter bringen würde, als sämtliche gaußen Trends, Produktinnovationen und lebenserleichternden Services zusammen. Die Jagd von Innovation zu Innovation glich immer mehr einem auf Hochtouren betriebenen Leerlauf. Als sich die Erfahrung des Träumens dann verstetigte und es ihr gelungen war, ihre Traumbilder bewusst festzuhalten und mit ihrem Alltag zu kontrastieren, war in ihr die Erkenntnis gereift, dass ihr Bestreben, immer im signifikanten Trend ihrer SocialUnit mit zu schwimmen, ihr zwar ein Gefühl der Zugehörigkeit und Sicherheit vermittelte, sie letztlich aber dazu verurteilte, auf der Stelle zu treten. Die Mittelung nahm ihr nicht nur die Verantwortung, eigenständig zu sich selbst zu finden, sondern verstellte ihr ganz grundsätzlich den Weg dazu.

Diese Einsicht ging mit einer existentiellen Verunsicherung einher. Da sie mit niemandem über ihre Träume und die Irritationen, die sie in ihr auslösten, reden konnte, fühlte sie sich zunehmend getrieben, Votings abzugeben, Wahlen zu treffen und Kategorisierungen vorzunehmen, die von ihrem bisherigen Verhalten und vom Mittel ihrer SocialUnit abwichen. Immer öfter wurde sie von ihren Mates in MatchingLoops eingebunden und ehe sie sich versah, drohte sie völlig abzudriften, ohne jedoch den neuen Weg, den ihr ihre Träume zu weisen schienen, konkret beschreiten zu können.

In dieser Situation waren die Oneironauten an sie herangetreten und sie war glücklich gewesen, endlich eine Orientierung gefunden zu haben und hatte sich, mit allem, was ihr noch geblieben war, auf die Vision der Traumzeit eingelassen.

Neben dem Träumen und der nun von berufener Seite angeleiteten Beschäftigung mit ihren Gesichten erfuhr Esthers Leben durch die Oneironauten eine weitere Bereicherung: Bücher lesen! Die ihr von den Oneironauten zugänglich gemachten alten Bücher aus der Zeit vor dem Finalen Kataklysmus zu lesen, erwies sich als pure Wonne für ihr vom Marketing schaler Angebote ausgetrocknetes Herz. Die Botschaften, die ihr längst vergangene Menschen ins Hirn raunten, deren Schicksal noch nicht dem unerbittlichen, alles Lebenswerte verdrängenden Systemtakt überantwortet war, erschlossen ihr Welten, die denen, derer sie im Traum teilhaftig wurde, in nichts nachstanden. Esthers bevorzugte Fake-Schleifen in die Traumzeit waren Auszeiten des Lesens und sie arbeitete nun bewusst daran, ihrem Gefühl, „aus dem Takt gefallen zu sein“, eine konstruktive Richtung zu geben. Wenn sie las oder wie die antike Göttin der Erinnerung, Mnemosyne, im Refugium der Oneironauten der gleichnamigen Salzwasserlösung des Traumtanks entstieg – „etwas entsteigen“, auch so ein Wort, das sie im Lesen kennen gelernt hatte – erfuhr sie Dinge über sich und das Leben, die ihr unter dem Diktat der Mittelung nie zugänglich geworden wären.

Wie betonte Kassandra immer:

„Das stählerne Gehäuse hundertprozentiger Berechenbarkeit und Sicherheit betrügt uns um jede Möglichkeit herauszufinden, wer wir wirklich sind und vor allem, wer wir sein könnten. Die Mittelung stutzt unser Potential auf konfektionierbare Normgrößen zurück und die allgegenwärtige Beobachtung durch die Agenten des Systems legt sich wie Mehltau über unser Leben. Erst Träume zu träumen und Bücher zu lesen öffnet uns die Pforten zu unserem wahren Sein.“

Die ersten Generationen von Citizens in den Anfängen der Urb hatten noch Bücher gekannt und sie hatten auch geträumt und sich an ihre Träume erinnert. Mit zunehmendem Erstarken des Systems aber war irgendwann der Punkt erreicht, an dem die meisten Bücher den systematischen Cleanings zum Opfer gefallen waren und die damals noch nicht mit den MatchingEyes verschmolzenen Morpheus­trone die Erinnerungen an die nächtlichen Träume flächendeckend abgeschnitten hatten. Einige Generationen weiter hätte der bei weitem überwiegende Teil der Citizens auf die Frage, was sie gerade lasen oder ob und was sie letzte Nacht geträumt hatten, mit völligem Unverständnis reagiert.

Doch waren das Träumen und seine Symbole viel zu tief im evolutionären Erbe und dem kollektiven Unbewussten der Menschen verwurzelt, als dass sie innerhalb weniger Generationen unter dem Takt des Systems hätten ausgerottet werden können. Und so konnten die Mor­pheustrone nicht das Träumen als solches verhindern, sondern lediglich die Alphawellen stören, die zwischen den unbewussten und bewussten Hirnarealen der Träumenden vermittelten, und so einen undurchsichtigen Firnis über die Träume legen, der die morgendliche Erinnerung daran verblassen ließ. Diesen Firnis zu zerreißen, hatten sich die Onei­ronauten zur Aufgabe gemacht.

Citizens, die sich am System vorbei mit dem beschäftigten, was sozial nicht erwünscht und unter dem Systemtakt nicht möglich war, hatte es natürlich immer schon gegeben und es ließ sich im Detail nicht mehr nachvollziehen, wann und wie die Gruppierung der Traumschiffer konkret entstanden war. Lange Zeit wa­ren die Oneironauten lediglich ein mehr oder weniger loser Zusammenschluss von Citizens gewesen, die unter welchen Umständen auch immer, Bücher gefunden und gelesen hatten oder den Manipulationen der Morpheustrone nicht erlegen waren und sich an ihre Träume erinnern konnten. Es gab Citizens, die im Kreise weniger eingeweihter Mates mit ihren Traum- und Leseerlebnissen kokettierten, für die ein Traum oder ein Buch aber letztlich ein Angebot unter vielen war, das ihnen nicht mehr bedeutete als ein Besuch in den SensualCaves oder im LoveGym. Es waren aber auch echte Outcasts darunter, die sich, völlig fasziniert von der neuen Welt, die sich ihnen da erschloss, gänzlich vom System losgesagt, ihr MatchingEye deaktiviert hatten und als Solisten dauerhaft in den Untergrund abgetaucht waren.

Mit der unaufhaltsam fortschreitenden Entfremdung der Menschen von ihren Ursprüngen war in diesen Kreisen dann zunehmend das gesellschaftliche Potential von Büchern und Träumen in den Focus geraten und allmählich hatten sich die Oneironauten zu einem organisierten Widerstand gegen das System, die Überwachung und die Mittelung formiert. Tief unter der Sohle von GroundZero, der natürlichen geologischen Basis, auf der die gigantischen Pylone gründeten, die die 32 Grounds der Urb trugen, in den Tunneln, Gängen, Röhren und Kavernen uralter Versorgungs- und Ableitungssysteme, war das Refugium entstanden, von dem aus die Oneironauten ihren Widerstand planten und umsetzten.

An Esthers Aktivität in den Reihen der „Nauten“ war indes nichts Umstürzlerisches. Sie war es gewohnt, allnächtlich mit ihrem DreamKey die Funktion ihres „Trons“ zu überlagern, so dass sie sich an ihre Träume erinnern würde. Sie war es ge­wohnt, Bücher zu lesen. Sie wollte ihre tiefe Freude am Träumen und Lesen und die Fülle der Möglichkeiten, die sich ihr darüber eröffneten, an andere Citizens weitergeben. Sie wollte diesen Erfahrungen, die ihr der Schlüssel für eine sinnvolle Begründung ihrer Existenz zu sein schienen, nicht im Geheimen nachgehen müssen, sondern sie offen mit anderen Citizens teilen können. Vergaußt, was könnte nicht alles daraus erwachsen, wenn nicht mehr das Mittel, sondern jeder sein eigener Maßstab wäre? Wie würde es sein, wenn dann wie in Träumen und Büchern das Leben nicht mehr berechenbar wäre? Eine Vorstellung, die sie gleichermaßen ängstigte wie faszinierte. Letztlich aber hatte sie nichts zu verlieren. Seit sie Bücher las und sich an ihre Träume erinnerte, war ein Leben unter dem Takt des Systems nicht mehr lebenswert. Je mehr Citizens aus dem Takt fielen, umso besser konnten die Dinge nur werden. Und genau diesen Zweck verfolgte ihre aktuelle Aktion.

Esther war auf ihrem Ground eine Sektion zugeteilt worden, in der Mor­pheus­tronDisrupter positioniert wurden, die ihrerseits die Strahlung der Trone überlagerten und unschädlich machten. Damit sie unentdeckt blieben, waren Stärke und Reichweite der Disrupter eng begrenzt, doch würde sich in ihrem Einflussbereich, einem Radius von etwa 300 Meter, ein hoher Prozentsatz von Citizens an ihre Träume erinnern.

Die Disrupter waren so flüchtig wie die Träume selbst. Jeden Abend brachten wechselnde Nauten ihre Saat aus, die sich bis zum Morgen selbst zerstörte. Eine in jeden Disrupter eingekapselte Säure fraß sich innerhalb der Einsatzzeit von 8 MacroTakten durch eine Membran und löste die Elektronik restlos auf; zurück bleib nur eine unverdächtige Kunststoffhülle, wie sie für die Verpackung vieler EnergizerPops üblich war. Dabei störten die Disrupter nicht die Funktion der Morpheustrone, denn das hätte sofort einen Alert ausgelöst, sondern überlagerten lediglich deren Wellen, die verhinderten, dass sich die Citizens an ihre Träume erinnerten.

Strategie der Oneironauten war es, möglichst viele Citizens durch dauerhafte Traumerlebnisse derart zu irritieren und in MatchingLoops zu treiben, dass möglichst viele SocialUnits destabilisiert wurden. War hier dann eine kritische Masse von Dismatchten erreicht, die sich bewusst für einen DreamKey entschieden hatten, war das die Basis, um das System und seine Agenten lahm zu legen. Doch vorerst blieb das lediglich eine kühne Vision.

„Es gibt Träume, die uns in der Nacht widerfahren und über die Maßen staunen lassen. Diese begründen die Hoffnung auf ein besseres, menschengerechteres Leben. Und es gibt Träume, die den Stoff von Visionen bilden, die wir wahr werden lassen müssen, um auf diesem Fundament eine neue Gesellschaft zu errichten“, waren die Worte Kassandras.

Noch aber waren die Zellen aktiver Oneironauten dünn gesät und die Kapazitäten, die erforderlichen, immer größeren Mengen von Disruptern herzustellen, nahezu ausgeschöpft.

Wegen der geringen Reichweite musste Esther, um einen möglichst großen Einflussbereich abzudecken – und das wollte und sollte sie auch – viele Disrupter ausbringen. Die 50 Störeinheiten von der Größe einer Energizerpille, die sie mit sich führte, würden es etwa 2.500 Citizens ermöglichen, sich morgens über ihre Träume zu wundern. Um statistisch auffällige Häufungen von verändertem Verhalten innerhalb eines zusammenhängenden Gebietes zu vermeiden, wurden die Disrupter in zufallsbestimmten, weit auseinander liegenden Sektionen positioniert. Sie hatte also eine große Runde vor sich.

Damit ihr Weg nicht auf direkter Linie zurückverfolgt werden konnte, entfernte Esther sich langsam von ihrem Hexagon, wechselte ständig die Richtung, tauchte immer wieder in Gruppen von Citizens unter und fuhr dann eine Strecke mit der AntiGrav etwa in die Mitte ihres Operationsgebietes. Von hier ging sie sternförmig vor und arbeitete systematisch Cluster von Gebieten ab, die auf möglichst kurzem Wege zu Fuß, mit dem Hover oder der „Grav“ erreichbar waren. Auf dem CircuitWalk eines Habitats konnte sie mit wenigen Disruptern möglichst viele Citizens, die einander Face-to-Face kannten und zu einem hohen Prozentsatz sogar Mates ein und derselben SocialUnit waren, direkt in ihren Hexagons erreichen. Die Habitate waren die Hotspots, die Inkubatoren der Wandlung von der System- in die Traumzeit. In Geschäfts- oder Bürovierteln – viele Citizens übernachteten regelmäßig an ihrem Arbeitsplatz – war die Trefferquote dagegen geringer. Aber auch hier war die Streuung einer gewissen Quote von Disruptern sinnvoll, denn die Citizens, die nach einem langen Arbeitstag ihre knappe Ruhephase in einer der am Arbeitsplatz zur Verfügung stehenden NappingCells verbrachten, würden die Saat der Träume punktuell in sämtliche Bereiche des Grounds oder gar in die gesamte Urb tragen. Hier lag das Zufallsmoment der Wandlung, von dem sich die Oneironauten mit der Zeit eine exponentielle Weitung ihrer Aktivitäten versprachen.

Esther konnte ihre Disrupter nicht einfach irgendwo auslegen. Zu groß war die Gefahr, von einer Kamera erfasst oder einem Citizen beobachtet zu werden. Und würde ein Disrupter entdeckt, bevor er sich selbst zerstört hatte, musste das Untersuchungen nach sich ziehen, die die Oneironauten gefährden konnten. Deshalb waren die Disrupter auf molekularer Ebene nanotechnisch mit einer Haft- und Mimikryschicht ausgestattet. So hielten sie auf jedem Untergrund, nahmen Farbe und Textur jeder Oberfläche an und konnten mit einer knappen Handbewegung überall dort angebracht werden, wo sie nicht auffielen. Zwar waren sämtliche Oberflächen der Urb antiseptisch glatt und wiesen weder Simse noch Überkragungen auf, doch gab es an den Anschlusstellen von Verblendungen und Deckplatten immer wieder Dehnungsfugen, Ritzen und Spalten, in die die Onei­ronauten ihre Saat säen konnten.

Nachdem ein „Naut“ einmal im AnimalDrom beobachtet hatte, wie äonenalte Echsen, die, wie ihnen wohl vorgegeben war, auch den Finalen Kataklysmus überlebt hatten, senkrecht die Wände ihres Biotops hoch liefen und sich dabei der Farbe des jeweiligen Untergrundes anpassten, hatte sich für das Ausbringen von Disruptern der Begriff „Geckos Kleben“ eingebürgert. Und selbst die dumpfen Reptilienhirne der prähistorischen Echsen mochten Botschaften bergen, die der erstarrten Citizenship der Urb hilfreich sein konnten, die Fesseln von Mittelung und Marketing zu sprengen.

Mit einem Kreisumfang von 1.500 Metern bog sich jetzt vor Esther der gigantische Circuit des Wohnbereichs der School of PoliticalIndoctrination, an den die Hexagons von etwa 300 Anwärtern für eine Stelle bei der gleichnamigen Authority grenzten. Um psychologisch besser vereinnahmt werden zu können, wohnten diese in dem gleichen Gebäude, in dem sie auch trainiert und geschult wurden. Inzwischen hatte Esther erfolgreich 39 „Geckos“ für ihr nächtliches Treiben freigesetzt, sich beruhigt und würde wohl auch ohne die Fake-Schleife, die in ihrem Dritten Auge lief, keinen Alarm mehr auslösen. Sie war fast ausgelassener Stimmung: „Wohlan denn ... “ – das war eine Floskel, die sie in einem der alten Bücher gelesen hatte – „Geckos Kleben!“ Ihre kleinen Tierchen würden schon dafür sorgen, dass die angehenden „PolitIndocs“ morgen früh etwas zum Staunen hatten, das sie vielleicht von ihrem vorgezeichneten Weg abbrachte.

„In den Zeiten vor der Übernahme des Taktes durch das System konnten die Menschen ihres Lebens nie sicher sein.“

„Die Sicherheit aller dominiert die Freiheit Einzelner.“

„Berechenbarkeit bedeutet Sicherheit und Wohlstand durch stetigen Fortschritt. – Unberechenbarkeit bedeutet Bedrohung und Verelendung durch lähmenden Stillstand.“

„Hoher Innovationsdruck und steter Konsum sichern die Grundlagen unserer Citizenship.“

Mit den BadPastLessons, die die Urb im Lichte einer düsteren und bedrohlichen Vergangenheit als die beste aller Welten erscheinen ließen, und ihren rund um den Takt auf die InfluenceBoards gestreamten Indoctrinations, hämmerte die Authority die ideologische Grundlage für den Primat der Sicherheit durch Berechenbarkeit und Mittelung in die Köpfe der Citizens. Im Verbund mit der Agency of SocialTechnology war sie die mäch­tigste und einflussreichste Organisation der Urb. Gerade die zukünftigen „PolitIndocs“ verdienten es also, in ihrem Glauben an die Sinnhaftigkeit der Mittelung erschüttert zu werden.

Die waagerecht hinter einer Lichtleiste verlaufenden Anschlussfugen der Innenverkleidung des Circuits boten Esther eine gute Möglichkeit, ihre Disrupter anzubringen. Sie fischte einen Gecko aus ihrer Tasche und wischte dann wie beiläufig über den oberhalb der Lichtleiste angebrachten Handlauf, wobei sie ihr Tierchen von der flachen Hand verdeckt in die Fuge darunter drückte. Keiner der zahlreichen Citizens, die den Circuit bevölkerten, um das Habitat zu verlassen und sich auf dem JoyCircle des Grounds zu vergnügen oder in den höher gelegenen Stockwerken des IndoctrinationTowers eines der nächtlichen ImpressiveSeminare zu besuchen, schenkte ihr Beachtung und soweit sie aus dem Augenwinkel heraus beurteilen konnte, fokussierte sich auch keiner der oft aufdringlich näher rückenden mobilen Agenten des Systems auf sie. Am Morgen würde die Säure neben der Elektronik auch die Adhäsions- und Mimikryschicht der Disrupter zerstören, die Hülle herunterfallen und wie achtlos weg geworfener Abfall wirken. Den Rest würden die CleaningBots erledigen. Ausgezeichnet, ja, so würde es gehen!

Würde sie im Bereich der Einlassöffnung jedes fünfzigsten Hexagons einen Disrupter positionieren, hätte sie den gesamten Circuit abgedeckt und maximal 300 Citizens erreicht, die als zukünftige Member der Authority eine maßgebende Rolle in der Urb spielen würden. Im besten Fall wären die, denen Esthers Tierchen Träume zugewispert hatten, derart irritiert, dass sie diese Stelle gar nicht erst antreten würden. Es war mittlerweile schon Takt 79.450 und zu Fuß würde die Runde zu lange dauern. Esther wollte ihre Fake-Schleife nicht überdehnen und schwang sich auf einen Skater, um den Circuit zügig abzuarbeiten. Ohne Zwischenfall hatte sie ihre Traumfracht bald ausgebracht und verließ die School of PoliticalIndoctrination.

Ihr letzter Job war die Repräsentanz von Pear.Inc. Während alle Citizens in der Regel zu den CircuitWalks der Wohnbereiche von Habitaten freien Zugang hatten und es hier also relativ einfach war, Traumsporen zu säen, bestand bei den meisten Büro- und Geschäftsgebäuden das Problem, sich über einen RetinaScan authentifizieren zu müssen. Ganz besonders galt das für Pear.Inc. Aber die Mitarbeiter des führenden Technologieanbieters waren natürlich auch ein besonders lohnendes Ziel für die Infiltration durch Träume. Im Prinzip verfügten die Onei­ronauten durchaus über das technische Know-how und auch die entsprechenden Ressourcen, das retinale Pigmentepithel des Auges jedes beliebigen Citizens nachzubilden. Aber das Risiko, dann im Gebäude auffällig zu werden, war nicht tragbar. Und einen Pear-Mitarbeiter selbst für die Traumzeit zu gewinnen, war den Nauten bislang noch nicht gelungen.

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