Kitabı oku: «Perry Rhodan Neo Paket 2: Expedition Wega», sayfa 8
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26. Juli 2036
Reginald Bull
»Der Roboter ist verschwunden?«, rief Crest. Der alte Arkonide kam aus der Zimmerecke, in die er sich vor Tatjana Michalowna geflüchtet hatte. Er ignorierte den Stock, der auf dem Boden lag. Der Schock, den Bulls Eröffnung ausgelöst hatte, hielt ihn aufrecht. »Wie ist das möglich?«
»Wir wissen es nicht«, sagte Bull. »Noch nicht.« Er bedeutete den Soldaten, die Waffen zu senken. Tatjana Michalowna stand drei Schritte von Crest entfernt. Sie konnte ihm nichts tun. Nicht diese beinahe ausgezehrt wirkende Frau, die ihn aus großen – vor Überraschung geweiteten? – Augen anstarrte. »Spezialisten der chinesischen Armee untersuchen in diesem Augenblick das Behandlungszimmer, die Klinik und das Erdgeschoss des Stardust Towers auf Spuren. Ich bin sicher, sie werden Erfolg haben. Bai Jun hat während der Belagerung die Besten der Besten in die Gobi geholt.«
Bull wünschte sich, er wäre so zuversichtlich, wie er sich gab. Ricos Verschwinden war unerklärlich. Unmöglich. Eigentlich.
»Aber natürlich wäre ich erfreut, wenn wir die Angelegenheit abkürzen könnten. Miss Michalowna?« Er wandte sich der Russin zu. »Wo ist der Roboter? Was haben Sie mit ihm angestellt?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe nichts mit seinem Verschwinden zu tun!«
»Ja? Darf ich Sie erinnern, was sich in der letzten Stunde zugetragen hat?« Bull stemmte die Hände in die Hüften, baute sich breitbeinig vor der Telepathin auf. »Die Überreste des Roboters Rico treffen in Terrania ein, getarnt als medizinische Versorgungsartikel. Nur Dr. Manoli und Dr. Haggard wissen darum sowie den Ort, an dem die Untersuchung stattfindet. Und eine halbe Stunde später spazieren Sie hinein – die Gedankenleserin! –, locken Crest unter einem Vorwand hinaus und veranlassen uns, die Überreste allein zu lassen … und schwupp! Eine weitere halbe Stunde später hat sich der Roboter in Luft aufgelöst! Wie erklären Sie das?«
»D… das kann ich nicht.« Tatjana Michalowna schwankte. »Ich wusste nichts von einem Roboter. Ich wollte nur mit Crest sprechen. Es war nicht meine Idee, dass Sie, Manoli und Haggard den Raum verlassen!«
Das war richtig, musste sich Bull eingestehen. Manoli hatte den Vorschlag gemacht, eine Pause an der frischen Luft einzulegen. Aber, ermahnte Bull sich, er hatte keinen gewöhnlichen Menschen vor sich.
»Und worüber haben Crest und Sie geplauscht? Den Wetterbericht?«
»Das geht Sie nichts an!«
Bull sah auffordernd zu Crest. Der Arkonide blinzelte und wandte den Kopf ab. Er sagte nichts.
Was ging hier vor?
»Glauben Sie mir doch, Mister Bull«, beteuerte die Russin. »Die Angelegenheit ist privat.«
Reginald Bull schnaubte. »Für wie dumm halten Sie mich eigentlich? Privat! Sie kennen Crest nicht! Das Einzige, was Sie …«
Er zwang sich, nicht weiterzureden. Michalowna war dem Suggestor Clifford Monterny eine loyale Helferin gewesen. Aber nicht, weil er sie mit seiner Suggestivgabe dazu gezwungen hätte. Die Telepathin war immun gegen Monternys Psi-Kräfte gewesen. Sie hatte ihm aus freien Stücken gedient. Sie hatte Crest verhört.
Bull trat auf die Telepathin zu, um ihr aus nächster Nähe, von Angesicht zu Angesicht, zuzureden. Auf halbem Weg hielt er an. Ihr Atem stank nach Schnaps. Bull verharrte. Die Russin war angetrunken! Im selben Moment, als er es erkannte, zerbrach das Bild, das er sich von ihr gemacht hatte. Tatjana Michalowna war kein finsterer Übermensch, der mittels seiner telepathischen Gabe gewöhnliche Menschen manipulierte, sie wie ein Marionettenspieler an unsichtbaren Fäden führte.
Tatjana Michalowna war ein gewöhnlicher Mensch.
Ein schwacher, verzweifelter Mensch.
»Miss Michalowna«, sagte er leise. »Bitte helfen Sie uns! Ich haben Ihnen eben die Umstände erklärt – wie soll ich Ihnen vertrauen?«
Sie senkte den Kopf, hob ihn wieder. »Ich … ich habe einen Vorschlag. Ich bin bereit, mich John Marshall zu öffnen. Unter der Bedingung, dass er für sich behält, was er in meinen Gedanken liest. Er wird Ihnen sagen, dass ich nichts mit der Sache zu tun habe. John vertrauen Sie doch, oder?«
»Das tue ich. Aber John ist nicht in Terrania, das wissen Sie.«
»Das wusste ich nicht. Sie überschätzen mich.«
Tat er das? Er versuchte, die Frau, die vor ihm stand, mit anderen Augen zu sehen. Tatjana Michalowna war Mitte zwanzig. Ein zierliche Frau mit vollen, für seinen Geschmack zu grell geschminkten Lippen. Sie kam aus Petersburg. Er versuchte, sie sich in ihrer Heimat vorzustellen. Bull hatte vor einigen Jahren einige Tage in der großrussischen Hauptstadt verbracht, auf einer Goodwilltour, zu der NASA-Flight-Director Pounder ihn gezwungen hatte. Bull hatte sich gesträubt, hatte Kälte und Dunkelheit und düstere Menschen erwartet. Aber Petersburg im Juni war ein warmer, lebendiger Ort gewesen. Mit langen Tagen, die nicht zu Ende hatten gehen wollen, und mit jungen Leuten, die überall auf den Plätzen der Stadt feierten.
Tatjana Michalowna war jung – aber sie gehörte nicht in diese Welt der Leichtigkeit. Ihre Lippen waren aufgeplatzt, Schweiß verklebte ihre Haare, und in den Augenwinkeln hatten sich vor der Zeit Krähenfüße in die Haut gegraben. Ihre Gabe, verstand Bull, war eine Last, die die Russin niederdrückte, sie zu ersticken drohte.
Die Telepathin merkte, dass es in ihm arbeitete. »Mister Bull, ich bin bereit, mein Inneres komplett offenzulegen. Was kann ich noch tun?« Sie sah ihn an. Ihr Blick war flehend.
»Sie gehören nicht hierher«, entgegnete er, einer plötzlichen Eingebung folgend. »Wieso gehen Sie nicht?«
»Ich würde nichts lieber tun. Ich habe nicht in Ihre Stadt gewollt.«
»Es ist nicht meine Stadt.«
»Mag sein.« Sie zuckte die Achseln. »Aber Sie haben recht. Ich gehöre nicht hierher. Nur: Können Sie mir einen Ort auf der Erde nennen, an den ich gehöre?«
»Sie könnten zurück in Ihre Heimat, nach Russland.«
»Russland ist nicht mehr meine Heimat. Außerdem würde ich nicht über die Grenze hinauskommen. Der Geheimdienst weiß, wer ich bin. Und was ich kann. Ich bin zu wertvoll, um mich in Ruhe zu lassen.«
Und zu gefährlich!, dachte Bull. Kein Staat der Welt würde Tatjana Michalowna ungeschoren lassen. Eine Gedankenleserin war eine potenziell unbezwingbare Waffe – und eine, die man vorzugsweise auf der eigenen Seite wusste.
Die Vernunft sagte Bull, dass das auch für ihren Traum für Terra galt. Sie brauchten Menschen wie Tatjana Michalowna, damit er Wirklichkeit wurde.
Sein Gefühl sagte Bull, dass er diese Frau aus der Stadt jagen sollte. Er wünschte sie sich nur weg. Wünschte, dass statt tausend unlösbar scheinenden Aufgaben sich nur neunhundertneunundneunzig vor ihm auftürmten.
Was sollte er mit ihr anstellen?
Bai Jun enthob ihn einer Antwort. Der ehemalige General trat in Crests Apartment. Er trug ein Datenvisier, das sein Gesicht ab der Mitte der Wangen verdeckte. Lichtreflexe, in denen Bull eingehende Statusmeldungen erkannte, huschten über das Display.
Bai Jun blieb neben Bull stehen, klappte das Visier hoch. »Terrania ist abgeriegelt. Nicht einmal eine Wüstenmaus kommt mehr unerkannt hinein oder hinaus.«
»Haben Sie schon erste Mäuse gefangen?«
»Nein, aber das ist nur eine Frage der Zeit. Meine Leute sind überall in der Stadt und in den Tunneln, die die Belagerer angelegt haben, unterwegs. Wer immer hinter diesem Diebstahl stecken mag, wird nervös werden und einen Fehler begehen. Dann schlagen wir zu.«
Der Blick des Generals hatte etwas Glasiges. Als wäre er nur mit einem Teil seiner Aufmerksamkeit zugegen. Eine Beobachtung, die zutraf, wie Bull im selben Moment erkannte. Bai Jun trug ein Headset im Ohr, lauschte den einlaufenden Berichten.
»Was ist mit der Klinik?«
»Wir sind an der Arbeit. Meine Leute haben DNA-Spuren gefunden, die weder Ihnen noch Crest, noch Miss Michalowna oder den beiden Ärzten zugeordnet werden können. Wir überprüfen das Personal der Klinik und werden die Betreffenden beizeiten befragen.«
Bai Jun drehte den Kopf weg, flüsterte auf Chinesisch in sein Headset.
»Sie sehen, Miss Michalowna«, sagte Bull, »Ihre Komplizen sind so gut wie gefasst. Ich bitte Sie: Überdenken Sie noch einmal Ihre Entscheidung! Sagen Sie uns die Wahrheit! Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass Ihnen nichts geschehen wird.«
Die Russin schlug die Hände vor das Gesicht und sank mit dem Rücken gegen die Wand. Die Telepathin schluchzte leise.
»Mister Bull?«, sagte Crest vorsichtig. Der Arkonide schien einen Entschluss gefasst zu haben. Er suchte Blickkontakt mit Reginald Bull – und hielt ihm stand. »Sie irren sich. Diese Frau ist unschuldig.«
Und wieso rücken Sie damit erst jetzt heraus?, dachte Bull. Wieso haben Sie die ganze Zeit geschwiegen? Was haben Sie zu verbergen, Arkonide?
»Ich würde Ihnen nur zu gern glauben, Crest.«
»Mein Wort genügt Ihnen nicht?«
»Wenn ich ehrlich bin, nein.« Bull strich sich über das Kinn, auf dem kratzige rote Stoppeln sprossen. »Zu viel steht auf dem Spiel. Terrania ist ein Traum, der in Erfüllung gegangen ist. Ein Symbol der Hoffnung. Auf eine bessere Welt, eine gerechtere Gesellschaft. Sie wissen das so gut wie ich. Dieser Turm, der nach Ihren Entwürfen gebaut wird, ist der handfeste Beweis.« Bull stampfte auf. »Aber noch ist Terrania ein Brückenkopf, der jederzeit überrannt werden kann. Um uns zu halten, brauchen wir jedes Stück arkonidischer Hightech, das wir in die Finger bekommen können.«
»Darf ich Sie darauf hinweisen, dass dieser Roboter kein arkonidisches Erzeugnis ist? Darüber hinaus handelt es sich um Trümmer.«
»Sie dürfen. Beide Hinweise sind korrekt, beide sind nebensächlich. Diese Trümmer sind Erzeugnisse einer Technologie, die der arkonidischen noch weit überlegen sein dürfte. Nicht wahr?«
Crest antwortete nicht und bestätigte damit Bulls Vermutung.
»Wir können aus den Trümmern dieses Roboters unendlich viel lernen. Deshalb kann ich diese Sache nicht auf sich beruhen lassen. Deshalb werde ich notfalls Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um herauszufinden, was geschehen ist. Und deshalb frage ich Sie ein letztes Mal: Was hatten Sie und Tatjana Michalowna zu besprechen?«
Ein feuchter Glanz trat in Crests Augen. Tränen lösten sich und rannen über die Wangen des Arkoniden. »Es tut mir leid, Mister Bull. Ich kann es Ihnen nicht sagen. Unser Gespräch war vertraulich.«
Reginald Bull war es gewohnt, gegen Mauern zu rennen und sich eine blutige Nase zu holen. Er war ein dickes Kind gewesen. Der Fettsack, den auf dem Schulhof alle hänselten, beim Sportunterricht auslachten und auf dem Heimweg verdroschen. Seine Eltern, die damit beschäftigt gewesen waren, sich gegenseitig die Schuld daran zuzuschieben, dass ihr Leben nicht so verlaufen war, wie sie sich das vorgestellt hatten, hatten seine Not nicht bemerkt. Der junge Reginald war geflohen. In sich selbst und zu den Sternen in Büchern und Filmen. Und nach und nach hatte er die Kraft in sich gefunden, zu bestehen. Aus dem dicken Jungen war ein kräftiger junger Mann geworden. Aus dem Sohn eines arbeitslosen Automobilarbeiters war ein Stipendiat, dann ein Testpilot und schließlich ein Astronaut geworden.
Jeden Meter seines Weges hatte sich Reginald Bull aus eigener Kraft geebnet. Oft hatte seine gewinnende Freundlichkeit ihm weitergeholfen, aber mindestens ebenso oft seine Hartnäckigkeit, die an Sturheit grenzte. Ein Schlag ins Gesicht war für Bull lediglich die Aufforderung, sich den nächsten abzuholen, hatte Eric Manoli einmal angemerkt und damit den Nagel auf den Kopf getroffen. Nur, hatte der Arzt hinzugefügt, diese Strategie war nicht immer klug. Es gab Situationen, in denen Hartnäckigkeit eine Sackgasse darstellte, die einem statt einer blutigen Nase nur zwei, drei oder vier einhandelten. Manchmal durfte man nicht mit dem Kopf durch die Wand. Manchmal musste man die Wand erklettern. Oder sie umgehen. Oder sie mit einem einzigen Satz nehmen.
Aber wie das anstellen? Crest und Michalowna hatten ein Geheimnis – und sie würden es für sich behalten, ganz gleich, ob er bat, bettelte oder drohte.
Diese Wand war unüberwindlich.
»Mister Bull?« Bai Jun war wieder an seine Seite getreten.
»Was ist?«
»Wir empfangen einen Hilferuf über Funk. Ein paar Freiwillige haben Schmuggler gestellt, aber sie sind ihnen nicht gewachsen.«
Ein Gedanke kam ihm: Was, wenn er der Wand den Rücken kehrte?
»Wo sind sie?«
»Etwa 40 Kilometer nordwestlich von Terrania, in der Wüste.«
Die Chance, dass diese Schmuggler die Diebe Ricos waren, war verschwindend gering. Aber es würde ihm guttun, endlich wieder etwas anderes zu tun, als endlos zu reden, sich blutige Nasen zu holen – und hinterher würde er vielleicht wissen, wie er vorzugehen hatte.
»Haben Sie einen Hubschrauber für uns einsatzbereit?«
Bai Jun lächelte. »Er ist eben auf dem Dach des Stardust Towers gelandet.«
»Ich hatte nichts anderes von Ihnen erwartet.« Er erwiderte das Lächeln. »Los, gehen wir! Die Soldaten werden dafür sorgen, dass Miss Michalowna uns nicht auch noch verloren geht!«
Der Halb-Chinese rührte sich nicht vom Fleck.
»Worauf warten Sie, Bai Jun?«
»Nichts. Ich komme nicht mit.«
»Wieso das?«
»Mein Platz ist hier. Ein guter General stellt sich nicht an die Spitze seiner Truppen, er stellt sich hinter sie. Er sorgt dafür, dass ihr Einsatz wohl überlegt und wohl ausgestattet ist, und das gilt auch für ehemalige Generäle.«
Bull musterte den kleinen, dunkelhäutigen Mann, der vor ihm stand. »Ich danke Ihnen, Bai Jun«, sagte er und wandte sich zum Gehen, um sich im Antigravschacht in die Höhe zu hangeln.
Ein Ruf hielt ihn zurück. »Mister Bull, einen Augenblick!«
Tatjana Michalowna stand in der Mitte des Raums. Sie weinte nicht mehr, aber ihre Augen waren gerötet. »Nehmen Sie mich mit!«
»Weshalb?«
»Ich weiß nicht, was Sie vorhaben – aber vielleicht können Sie dabei eine Gedankenleserin gebrauchen?«
Reginald Bull zögerte – und gab sich einen Ruck. »Gut möglich. Kommen Sie!«
12.
26. Juli 2036
Mildred Orsons
Vier Minuten nachdem der Geländewagen sie am Stadtrand von Terrania in einer Staubwolke hatte stehen lassen, traten Julian Tifflor, Mildred Orsons und Timothy Harnahan in einen Rohbau am Nordwestende der Stadt.
Julio erwartete sie mit hochgeklapptem Visier, die Arme verschränkt und stolz auf sein Werk: zwei Royal Enfield Bullets, die glänzten, als hätten sie eben das Werk im indischen Chennai verlassen.
Nach vier Minuten und dreißig Sekunden hatte Julian Tifflor sich bei Julio mit einem Schulterklopfen bedankt, den Helm übergezogen und raste hinaus in die Vormittagssonne.
Timothy sah ihm keuchend und fassungslos nach. »Das ist aussichtslos! Sie sind längst über alle Berge. Er kann sie unmöglich einholen.«
Mildred war auf die Bullet gestiegen. Der abgenutzte Ledersattel, an dem sie sich die ersten Tage so gestört hatte, fühlte sich vertraut an. »Da kennst du Tiff schlecht. Bist du dabei, Timothy?«
»Klar! Was denkst du?« Timothy beeilte sich, hinter sie auf den Sitz zu klettern.
Mildred setzte den Helm auf und ließ den Motor an. Er sprang augenblicklich an, dröhnte kraftvoll. Julio hatte nicht nur das Chrom der Maschinen gewienert. Sie gab dem Spanier, der davon träumte, sich mit Maschinen zu verbinden, einen hochgestreckten Daumen und Gas.
Von hinten hörte sie einen erschreckten Aufschrei. Gleich darauf klammerte sich Timothy fest an sie. Seine Finger drückten ihr beinahe schmerzhaft in die Hüften.
»Dein Freund ist verrückt!«, brüllte er. Es war gerade laut genug, dass sie ihn trotz des Fahrtwinds und des hochtourig laufenden Motors verstehen konnte.
»Ich weiß«, antwortete sie.
Mildred zog Julian oft genug damit auf. Eigentlich jeden Tag. Ihren »Weltraumkadetten«. Julian war verrückt. Auf seine Art. Er setzte sich ständig Sachen in den Kopf, die unmöglich waren. Sich als Ausländer in die verbotene Stadt Lhasa einzuschleichen. Afghanistan, seit Jahrzehnten ein Kriegsschauplatz, zu Fuß zu durchqueren. Mit ausgedienten ehemaligen indischen Militärmotorrädern von Ulan-Bator nach Terrania vorzustoßen. Oder eben Verfolgungsjagden durch die Wüste.
Setzte sich Julian etwas in den Kopf, ließ er sich durch nichts und niemanden aufhalten. Doch es gab eine Sache, die ihm noch wichtiger war als Abenteuer: Gerechtigkeit.
Mildred glaubte, dass Julian diesen Zug von seinem Vater übernommen hatte. Der Vater, vor dessen alles erdrückendem Schatten Julian davongelaufen war. William Tifflor war einer der Topanwälte der Vereinigten Staaten, seine Honorare bewegten sich im zweistelligen Millionenbereich. Gleichzeitig hatte sein Vater sich immer wieder ohne Honorar für Menschen eingesetzt, die keine Mittel besaßen, um Gerechtigkeit für sie zu erstreiten: schon während seines Studiums für die Internierten von Guantanamo Bay, später für Occupy-Aktivisten, aber auch für radikale Libertarianer und rechtsgerichtete Waffennarren. Oder, wie zuletzt, für den Außerirdischen Crest da Zoltral. William Tifflor hatte es gewagt, den alten Arkoniden in dem Schauprozess zu verteidigen, den US-Präsident Drummond in Washington hatte inszenieren lassen. Julians Vater hatte die Inszenierung kräftig durcheinandergewirbelt – und hatte damit möglicherweise sein Leben verspielt. William Tifflor war spurlos verschwunden.
Julian hatte sich bei ihr oft über seinen Vater beklagt. Er wollte anders sein – und glich ihm weit mehr, als ihm bewusst war.
Gerechtigkeit war der eigentliche Grund, weshalb Julian Tifflor vor ihr in einer Staubwolke in die Wüste raste. Nicht drei Flaschen Wasser. Nicht, was dieser Mann in Terrania gestohlen haben mochte. Sondern dass dieser Mann sich herausnahm, seine Rechte über die seiner Mitmenschen zu stellen.
Terrania blieb rasch hinter ihnen zurück. Mildred konzentrierte sich auf die Staubwolke, die Julians Weg unübersehbar markierte. Sie folgte ihr, achtete aber darauf, schräg hinter ihr zu bleiben. Sie hatte genug Sand und Staub geschluckt.
Nach und nach schloss sie auf. Die Maschine lief sauber, besser als je zuvor. Julio hatte sie von der schweren Ausrüstung befreit, die sie für die Wüstenquerung gebraucht hatten. Timothy war ein Fliegengewicht im Vergleich, fiel buchstäblich kaum ins Gewicht.
Trotzdem standen ihre Chancen schlecht. Der Geländewagen hatte mehrere Minuten Vorsprung. Die Piste war sandig, in den vergangenen Wochen von unzähligen Rädern aufgewühlt. Senken hatten sich gebildet. An manchen Stellen schien der Sand so tief, dass die Bullet darin zu versinken drohte.
Immer wieder geriet die Maschine ins Schlingern, musste Mildred Gas herausnehmen, die Bullet einige Augenblicke lang gleiten lassen, bis sie sich wieder stabilisiert hatte, um dann vorsichtig wieder zu beschleunigen.
Der Geländewagen hatte es einfacher. Sein Allradantrieb war rechnergesteuert, verhinderte, dass einzelne Räder durchdrehten oder der Wagen ins Schleudern geriet. Der Fahrer musste einfach Gas geben, den Rest regelte der Bordrechner.
Mildred und Julian hatten nur das Gespür für die Wüste, das sie sich in den letzten Tagen erworben hatten.
Timothy drängte sich noch enger an sie. Er war steif wie ein Brett. »Was denkst du, was hat der Typ gestohlen?«, brüllte sie, um Timothy von seiner Angst abzulenken.
»Schwer zu sagen«, brüllte er zurück. »Sah aus wie eine Leiche. Oder Teile davon. Gruselig!«
»Das glaube ich nicht. Was sollen sie mit einem Toten anfangen? Und da war Metall!«
»Ja, schon.«
»Ein arkonidischer Roboter?«, riet sie.
»Kaum. Ich habe noch keinen gesehen, der aussieht wie ein Mensch!«
Die Staubwolke, die Julians Standort markierte, war zum Stehen gekommen. Julian hatte angehalten. Er winkte Mildred zu, bedeutete ihr, neben ihm zu halten.
Julian hatte den Helm abgenommen. Staub war in das Innere gedrungen. Er hatte sich in dunklen Striemen auf seiner nackten Haut abgelegt, betonte noch die Kantigkeit seiner Züge.
»Da vorne! Das müssen sie sein!« Er streckte den Arm aus, zeigte auf eine Staubwolke, die sich nach Nordwesten entfernte.
»Dort ist nur Wüste!«, warf Timothy ein.
»So ist es. Deshalb haben sie versucht, sich mit Wasservorräten auszustatten.«
»Aber dort draußen gibt es nichts!«
»Einige hundert Kilometer weit nicht. Aber im Norden liegt die Mongolei. Dort herrscht praktisch Bürgerkrieg. Der passende Ort, um mit seiner Beute unterzutauchen, findet ihr nicht?« Er beugte sich vor und wischte mit der flachen Hand über das Display des Pods, der in der Lenkermitte angebracht war. »Mildred, sieh dir die Karte an!«
Mildred wischte ebenfalls über ihr Display, hielt dann beide Hände um seine Ränder, als wolle sie eine Kerzenflamme vor dem Wind schützen. Es war Vormittag geworden. Die Sonne stand hoch, machte das von Sand und Staub abgeschmirgelte Display nur mit Mühe leserlich.
»Auf dem Weg nach Terrania sind wir hier in ungefähr zehn Kilometern Entfernung vorbeigekommen«, sagte Julian. »Im Süden und Westen erstreckt sich weiter die Ebene, schließt sich die Sandwüste der westlichen Mongolei an.«
Mildreds Pod übernahm automatisch die Bildschirmdarstellung von Julians Gerät, zeigte fast ausschließlich konturloses Braun. Dann verschob er den Ausschnitt. Höhenlinien erschienen. Hügel, die von lang gestreckten, beinahe schnurgeraden Tälern durchzogen wurden.
»Im Norden beginnt die Felswüste«, erklärte Julian. »Wenn die Mongolei ihr Ziel ist, müssen sie sie durchqueren – und dieses Tal hier ist der schnellste Weg. Es gibt dort eine Piste, die für Geländewagen befahrbar ist.« Einer der Einschnitte auf dem Display leuchtete auf. »Aber«, fuhr er fort, »ein zweites, engeres Tal verläuft parallel dazu.« Ein zweiter Einschnitt leuchtete auf. »Beide Täler münden auf diesem Höhenrücken. Seht ihr das?«
»Ja.« Timothy war im Sitz aufgestanden, lugte über Mildreds Schultern auf das Display. »Aber was nützt uns das?«
»Wir trennen uns. Ihr bleibt an dem Geländewagen dran. Ich fahre durch das parallel führende Tal, überhole den Wagen, drehe um und versperre ihm an dieser Engstelle den Weg.« Julian zoomte die Karte heran. »Kurz vor der Mündung in den Höhenrücken müssen sie zwischen diesen Felsen durch. Die Engstelle reicht genau aus, um ein Fahrzeug passieren zu lassen – solange sich ihm kein Hindernis in den Weg stellt. Klar?«
Er zog den Helm auf, ohne eine Antwort abzuwarten, und fuhr los. Mildred folgte ihm. Innerhalb einer Minute hatten sie die Mündung des engen Tals erreicht. Julian bog ab, verschwand rasch zwischen den über den Boden verstreuten, mannshohen Felsen.
Mildred fuhr weiter über den trügerisch weichen Sand, bis sich die Mündung des breiteren Tals vor ihr öffnete. Sie schlug nach rechts ein. Der Sand blieb hinter ihnen zurück, abgelöst von Felsen und Geröll. Mildred beschleunigte. Die Bullet, befreit von den unsichtbaren Krallen, mit denen der Sand sie festgehalten hatte, folgte willig. Das war ihre Chance. Der schwere Geländewagen war in diesem Gelände im Nachteil. Sie würden ihn einholen – wenn Julians Spekulationen zutrafen und die Diebe diese Strecke genommen hatten.
Eine eher zu erahnende als zu sehende Fahrspur führte in weiten Bogen das Tal hinauf, überquerte mehrmals das Geröllfeld im Talboden. Es war ein saisonales Flussbett. Es regnete selten in der Gobi. Aber wenn es regnete, fiel das Wasser in solchen Mengen vom Himmel, dass sich innerhalb von Stunden reißende Flüsse bildeten, die ebenso schnell wieder versiegten.
Waren sie richtig? Mildred beäugte den Weg vor ihnen forschend. Hin und wieder passierten sie kleinere Überbleibsel von Sand. Mehrmals glaubte sie Reifenspuren zu sehen, aber sie war sich nicht sicher. Zu schnell hatte sie die Passagen hinter sich gelassen, und anzuhalten kam nicht infrage. Sie mussten dranbleiben, Julian beistehen.
Das Tal wurde enger, wandelte sich zu einer Schlucht. Felswände begannen zu beiden Seiten aufzuragen, zunehmend höher. Fahrspur und Flussbett wurden eins. Die Bullet bockte, als die Federung die Stöße nicht mehr auszugleichen vermochte. Mildred nahm Gas heraus, sah auf den Pod. Gleich waren sie an der Stelle, an der Julian den Geländewagen aufhalten wollte.
Sie passierten eine Felsnase. Das Flussbett verengte sich, knickte scharf nach links ab – und da war der Geländewagen!
Mildred stieg in die Bremsen. Timothy wurde hart gegen ihren Rücken geworfen. Mildred nahm den Schmerz kaum wahr. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem, was sich vor ihr abspielte.
Dreißig Meter weiter war Julian. Er hatte sich mit der Bullet schräg auf die Fahrspur gestellt. Er hatte den Helm abgenommen und streckte einen Arm in die Höhe. Er hatte die Handfläche geöffnet. Ein Stopp-Zeichen.
Auf der Ladepritsche des Geländewagens stand der Mann auf, den sie verfolgt hatten. Den Rucksack hatte er abgelegt, dafür hielt er ein chinesisches Sturmgewehr in den Händen. Er zielte auf Julian und sagte: »Aus dem Weg! Oder …«
Julian Tifflor rührte sich nicht.
Mildred Orsons stockte der Atem. Sie wollte Gas geben, Julian zu Hilfe eilen. Aber sie unterdrückte den Impuls. Sie würde zu spät kommen. Sie konnte Julian nicht helfen.
Sie spürte, wie Timothy hinter ihr das Gewicht verlagerte. Wollte er zu Julian rennen? Sie drehte sich um, um ihn aufzuhalten. Aber das war nicht nötig. Timothy Harnahan tat lediglich, was er immer tat, wenn er vor einer schwierigen Aufgabe stand: Er zog sein Tablet aus der Hosentasche.


