Kitabı oku: «Verteidigung in Vollstreckung und Vollzug», sayfa 6
Anmerkungen
[1]
Ausf. Pollähne 2011, 73 ff.
Teil 2 Vollstreckung II Mandant ist in Freiheit › II. Kriminalprognose
II. Kriminalprognose
69
Die öffentliche Debatte über sog. „Bewährungsversager“ und schwere Rückfälle von Straftätern hat kriminalpolitische Rahmenbedingungen geschaffen, die vorzeitige Entlassungen und Lockerungen erschweren. Das Klima ist von Dämonisierung und Skandalisierung geprägt.[1] Das Ansehen des Straftäters als „Bestie“, „Monster“ o.Ä. verhindert eine fachgerechte soziale Integration. Wird die Entlassung mit dauerhafter polizeilicher Observation verbunden, erscheint die vermeintliche Gefährlichkeit des Entlassenen in der öffentlichen Meinung noch bestätigt.[2] Zunehmend wird das Bedürfnis nach vollkommener Sicherheit geäußert. Die reale oder vermeintliche Kriminalitätsfurcht der Bürger und das Bild der tatsächlichen Kriminalität klaffen z.T. erheblich auseinander: Gewalt- und Sexualdelikte sind rückläufig und trotzdem steigt die Zahl der Anordnungen von Sicherungsverwahrung. Ursachen für die Fehleinschätzung werden auch bei den Medien gesucht. Tondorf[3] fordert die am Strafverfahren Beteiligten auf, das geschilderte gesellschaftliche Klima gelassen zu registrieren und sich gegen überspannte Sicherheitsansprüche resistent zu zeigen; an einem richtungsweisenden „Gegenprogramm“ sollte gemeinsam gearbeitet werden.
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Die Kriminalprognose ist ein aussichtsreiches Feld für eine erfolgreiche Verteidigung, wenn man sich den gewachsenen Ansprüchen und Diskussionsansätzen stellt. Nicht nur sind die wissenschaftlichen Anforderungen an die Inhalte, die fachlichen Standards und die empirische Validität eines Gutachtens fortwährend gestiegen, auch die Anforderungen an die Person des Sachverständigen selbst, seine berufliche Ausrichtung (Psychiater oder Psychologe), seine Berufserfahrung als Forensiker[4] sowie seine praktische Erfahrung als Gutachter haben erheblich an Bedeutung gewonnen. Oftmals kann über die Auswahl des „richtigen“ Sachverständigen eine Prognoseentscheidung und damit der Ausgang des Verfahrens vorgezeichnet sein. Boetticher u.a.[5] haben in einer Expertenkommission aus Richtern, forensischen Psychiatern und Psychologen, Sexualmedizinern, weiteren Wissenschaftlern und Juristen Mindestanforderungen für Gutachten zusammengestellt. Aber bereits die systematische Auflistung stößt auf Kritik; unterschiedliche Praxiskonventionen und Konzeptionen von nicht an der Empfehlung beteiligten Experten können eine ganz andere Vorgehensweise empfehlen. So ist die fast ausschließliche Präsenz der Psychiater als forensische Sachverständige in Frage zu stellen; denn auch Kriminologen[6] und Psychologen kommen als Gutachter in Betracht. Aber bereits zwischen Juristen und Psychiatern gibt es Verständnisschwierigkeiten.[7] Auch zahlenmäßig sind die Anforderungen an Gutachten seit dem SexualdelBekG gestiegen; aufgrund des kriminalpolitischen Hintergrundes sollen bei Prognoseentscheidungen der Gerichte und Vollzugsbehörden Sachverständige hinzugezogen werden[8] (§§ 454 StPO, 57, 67d StGB, 88 JGG). Alle Entscheidungen erfordern ein hohes Maß an Verantwortung und Sachverstand – von Gerichten und Sachverständigen gleichermaßen. An die Ausbildung und Fortbildung sind angesichts der weitreichenden Folgen einer Entscheidung – auch für die Allgemeinheit, vor allem aber für die Mandanten – hohe Ansprüche zu stellen. Das BVerfG hat die Maßstäbe für die Überprüfung von Prognoseentscheidungen weiter konkretisiert.[9]
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Die Prognosestellung ist ein sehr komplexer Vorgang. Volckart hatte dies in den Vorauflagen in einem Exkurs eindrücklich dargestellt.[10] Die Ebenen des Entscheidungsvorganges sind klar zwischen dem (klinischen) Erfahrungswissen des Sachverständigen[11] und der gerichtlichen Prognose zu trennen. Die Entscheidung, ob die mit Hilfe des Gutachters ermittelte Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls eine Entlassung rechtfertigt, trifft der Richter. Geprägt durch öffentliche Meinung und Kriminalpolitik wird zwischen ungünstigen und günstigen Prognosen entschieden,[12] der Umschlagspunkt variiert entsprechend der politischen Diskussion. Soll den Sicherheitsbedürfnissen der Bevölkerung verstärkt Rechnung getragen werden, erhöht sich die Messlatte und es verbleiben im Zweifel mehr Gefangene länger im Strafvollzug.[13]
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Die Gesamtwürdigung von Tat, Persönlichkeit und ihrer Entwicklung während des Vollzuges ist Grundlage der Prognose. Eine Abwägung zwischen den Auswirkungen des Freiheitsentzuges und den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit muss getroffen werden. Welche Tatsachen als erheblich in die Prognosestellung einbezogen werden, richtet sich auch nach dem Beweisrecht der StPO. Ein prozessual zulässiges Verteidigungsverhalten des Angeklagten darf bei einer Prognoseentscheidung nicht zu seinem Nachteil gewertet werden.[14] Auch in der Exploration durch den Sachverständigen hat der Verurteilte das Recht, zu schweigen. Tatsachen, die sich bei der Prognose als ungünstig auswirken, müssen feststehen. Frühere Verurteilungen müssen sicher sein; die Verteidigung sollte positive Veränderungen herausarbeiten.[15]
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Wichtige Fehlerquelle bei der Kriminalprognose ist die Überbetonung der deliktischen Vergangenheit des Verurteilten oder frühen Versagens in beruflicher bzw. schulischer Bildung. Die mangelnde Auseinandersetzung mit der Tat wird überbewertet und verhindert so oft eine günstige Prognose. Dabei sind die Vollzugsanstalten mit der Bearbeitung selbst häufig überfordert; den Beamten und Therapeuten fehlen oft Zeit und fachliche Voraussetzungen für eine sachgerechte Deliktsbearbeitung.[16]
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Bei der Kriminalprognose wird neben der klinischen Methode auch auf statistische Prognoseinstrumente zurückgegriffen. Die klinische Prognose wird von Psychiatern und Psychologen gestellt, die entsprechend spezielle, auch kriminologische Erfahrungen mitbringen sollten. Die statistischen Prognoseverfahren nutzen Checklisten und beruhen auf der Annahme, dass die Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten umso größer ist, je mehr statistisch-kriminogene Merkmale einer Person zuzuschreiben sind. Das Individuum wird einer Gruppe zugeordnet, deren Rückfallquote bereits bekannt ist, die dann als individuelle Rückfallwahrscheinlichkeit interpretiert wird.[17]
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Die im angloamerikanischen Raum vorrangig angewandten Prognoseinstrumente sind die Psychopathie-Checkliste PCL-R von Hare[18], der HCR-20[19] zur Vorhersage von Gewalttaten und der SVR-20 zur Vorhersage von Gewalttaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Die Anwendungen sind sehr verbreitet, aber auch umstritten: die PCL-R repräsentiere einen neuen Biologismus.[20] Die verstärkt vergangenheitsbetonten und statischen Merkmale bieten kaum Spielraum für die Notierung von positiven Veränderungen. Der Straftäter bleibt Gefangener seiner Vergangenheit. Kritisiert wird aus den Kriminalrechtswissenschaften[21] auch die Zuverlässigkeit (Reliabilität) und Gültigkeit (Validität) der statistischen Verfahren.
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Das Gericht hat die Prognoseentscheidung selbst zu treffen, auch wenn es sich von einem Sachverständigen beraten lässt. Es darf die Entscheidung nicht an diesen abtreten, sondern hat seine Ausführungen zu kontrollieren.[22] Oder um es mit den Worten des BGH zu sagen: „Der Richter hat seine Entscheidung selbst zu erarbeiten und zu durchdenken.[23] Es ist die Aufgabe der Verteidigung, dafür zu sorgen, dass das angemessen geschieht.“[24]
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Psychowissenschaftliche Gutachten müssen durchschaubar („transparent“) und kontrollierbar („nachvollziehbar“) sein. Für die Verteidigung gibt es zahlreiche Ansätze, das zwingend schriftlich vorzulegende Sachverständigengutachten[25] zu prüfen. Es empfiehlt sich, auch die statistischen Prognoselisten auf (unzutreffende) Anknüpfungstatsachen aus dem Leben des Verurteilten zu hinterfragen. Die Besonderheiten bei der Exploration und Prognose von Jugendlichen und ausländischen Verurteilten ist zu beachten wie auch der Erfahrungshorizont und ggf. das Alter des Gutachters. Eine Anzahl von ungünstigen Prädiktoren lässt zunächst nur den Schluss zu, dass der Proband zu einer Risikogruppe gehört. Die eigentliche Prognose muss auch die individuelle Einschätzung in der konkreten Lebens- bzw. Entlassungssituation einbeziehen. Dazu gehört eine realistische Zukunftsperspektive, die in der helfenden Familie oder einer beruflichen Stabilisierung liegen kann. Aber auch Erwerbslosigkeit ist kein kriminogener Faktor per se und Erwerbstätigkeit kein Schutz vor Kriminalität.[26]
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Die Entscheidung, Anordnung und/oder Fortdauer der Freiheitsentziehung von einer Kriminalprognose abhängig zu machen, erzeugt zwei Arten von Opfern: diejenigen, die unter den sog. falschen Negativen zu leiden haben, und diejenigen, die als falsche Positive ungerechtfertigt eingesperrt werden/bleiben.[27] Das Fehlerrisiko muss auf beide Seiten verteilt werden: wollte man es einseitig einer Seite aufbürden, könnte man sich den ganzen Prognoseaufwand sparen, denn es hieße, die Prognose hinterrücks wieder abzuschaffen. Insbesondere ist die naheliegende Versuchung, das Fehlerrisiko bei den falschen Positiven zu verstecken, weil man diese ja nicht von den wahren Positiven unterscheiden kann, aus Gründen der Logik der Kriminalprognose unzulässig. Außerdem: Wer die Prognosesicherheit, die er erfahrungswissenschaftlich betrachtet nicht haben kann, über die rechtliche Beurteilung herbeizuzwingen versucht, der handelt unverhältnismäßig, weil er die eine Opferseite zugunsten der anderen einseitig belastet[28], und er lässt die Prinzipien der Rechtssicherheit außer Acht.[29] Die kriminalprognostische Beurteilung hat Grenzen; sie kann nicht über eine Wahrscheinlichkeitsaussage hinausgehen. Eine exakte Vorhersage menschlichen Verhaltens ist mit keiner Methode möglich.
Anmerkungen
[1]
Pfeiffer FAZ v. 5.3.2004: „Dämonisierung des Bösen“; Schröder sprach 2001 in einem Interview der BamS von „Wegschließen, und zwar für immer“, dazu u.a. Prittwitz 2003.
[2]
Da kann es kaum wundern, wenn sich integrationsfeindliche Bürgerinitiativen (Mahnwachen u.ä.) bilden oder Beschäftigte einen illegalen Streik anzetteln, weil sie die Wiedereinstellung eines verurteilten Sexualstraftäters verhindern wollen (so im Juli 2013 in Bremerhaven).
[3]
Tondorf/Tondorf 2011, 70.
[4]
Bei den verstärkt hinzugezogenen niedergelassenen Gutachtern ist bisweilen die praktische, insb. therapeutische Erfahrung zu vermissen.
[5]
Boetticher u.a. NStZ 2006, 537 (Prognosegutachten), vorher dies. NStZ 2005, 57 (Schuldfähigkeitsgutachten); vgl. Eisenberg NStZ 2005, 304 sowie Konrad R&P 2010, 30 zu „Schlechtachten trotz Einhalten der Mindestanforderungen“.
[6]
Feltes 2003, 5; Eisenberg NStZ 2005, 304.
[7]
Nedopil NStZ 1999, 433.
[8]
Neubacher NStZ 2001, 449; Müller-Metz StV 2003, 42.
[9]
Exempl. BVerfGE 117, 71 = JR 2007, 160 m. Anm. Kinzig und BVerfGK 2, 55 = NStZ-RR 2004, 76; vgl. auch BVerfG NStZ-RR 2010, 122; StraFo 2008, 516; 2009, 236, 413; BVerfGK 14, 514 und 16, 304; BVerfGE 129, 326 Rn. 99 ff.; BVerfG StV 2012, 291, 543; 2013, 218; R&P 2012, 54; 2013, 42.
[10]
Vgl. auch Volckart 1993, 1997 und 1999.
[11]
Kröber NStZ 1999, 593.
[12]
Woynar 1998, 122.
[13]
Ausf. Pollähne 2011, 249 ff.
[14]
BGH NStZ-RR 2008, 304.
[15]
Ausf. Tondorf/Tondorf 2011, 66 ff.
[16]
Ausf. Brettel 2007.
[17]
Tondorf/Tondorf 2011, 89.
[18]
Hare Psychopathy Checklist-Revised (PCL-R) 1991 – deutsche Übersetzung von Nedopil/Müller-Isberner 2001.
[19]
Müller-Isberner u.a. 1998.
[20]
Tondorf/Tondorf 2011, 99 m.w.N.; Strasser KrimJ 2005; Ross/Pfäfflin MschrKrim 2005, 1; Pollähne 2011, 158 ff.
[21]
Eisenberg StV 2005, 346; Müller NStZ 2011, 665; Pollähne 2011, 157 ff.
[22]
St. Rspr. des BVerfG exempl. StV 2000, 265; 2009, 38 und 708; R&P 2009, 58.
[23]
BGHSt 8, 113; vgl. auch StV 1983, 404 sowie zur „Arbeitsteilung“ Pollähne 2011, 220 ff.
[24]
Tondorf/Tondorf 2011, 242 ff., 291 ff.
[25]
KG StV 2011, 42; bedenklich BGHSt 54, 177 = StV 2011, 197 m. krit. Anm. Ziegert und Deckers u.a. NStZ 2011, 69.
[26]
Graebsch/Burkhardt ZJJ 2006, 140.
[27]
Zur Terminologie „richtige/falsche … Positive/Negative“ Volckart in den Vorauflagen sowie Pollähne 2011, 12 f., 232 ff. m.w.N.
[28]
Ausf. Vorauflage Rn. 134 ff., vgl. auch Pollähne 2011, 249 ff.
[29]
Pollähne 2011, 267 ff., auch zur kriminalprognostischen Bedeutung des „in dubio pro reo“-Grundsatzes (a.a.O. S. 206 ff.).
Teil 2 Vollstreckung II Mandant ist in Freiheit › III. Freiheitsstrafe
III. Freiheitsstrafe
79
Mit Eintritt der Rechtskraft einer strafgerichtlichen Verurteilung ist zwar eine konkrete strafrechtliche Sanktion festgesetzt. Ob sie auch durchgesetzt werden muss und wenn ja, ob dies sofort zu geschehen hat, steht damit noch nicht fest. Bei Verurteilung zu Freiheitsstrafe ist die häufigste Art des Schwebezustandes die Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung nach § 56 StGB. Ganz ähnlich liegen die Dinge bei der Aussetzung des Strafrestes bei zeitiger Freiheitsstrafe (Zwei-Drittel-Aussetzung; Halbstrafenaussetzung; Aussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe) nach §§ 57, 57a StGB. Im Folgenden wird gezeigt, dass es noch eine große Zahl weiterer Möglichkeiten der Verteidigung gibt, die Vollstreckung aufzuhalten oder zu modifizieren, nicht nur bei der Freiheitsstrafe, sondern auch bei der Geldstrafe, den Nebenstrafen, den Maßregeln der Besserung und Sicherung und den Nebenfolgen.
Teil 2 Vollstreckung II Mandant ist in Freiheit › III › 1. Die Vollstreckung ist nicht ausgesetzt
1. Die Vollstreckung ist nicht ausgesetzt
a) Einwendungen gegen die Zulässigkeit der Vollstreckung
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Niemand darf darüber hinwegsehen, dass vollstreckbare Verurteilungen im Rechtsstaat grundsätzlich dazu da sind, auch vollstreckt zu werden. Hiervon muss auch die Verteidigung ausgehen. Allerdings gibt es einige Vollstreckungshindernisse, also echte Verbote, die die Vollstreckung unzulässig machen. Sie sind zu unterscheiden von den Aufschubgründen, die es der Behörde nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen ermöglichen, die Vollstreckung befristet oder unbefristet aufzuschieben. Vollstreckungshindernisse bestehen nicht selten, ohne dass die Vollstreckungsbehörde sie erkennen kann. Die Wahrung des Rechts hängt dann von der Aufmerksamkeit und den Reaktionen des Verurteilten und der Verteidigung ab.
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Mangelnde Rechtskraft des Urteils: Die Rechtskraft tritt ein, wenn ein Rechtsmittel nicht statthaft war oder nicht rechtzeitig eingelegt wurde oder bei der Rücknahme eines bereits eingelegten Rechtsmittels. Dass ein Strafurteil entgegen § 449 StPO vor Rechtskraft vollstreckt wird, kommt gelegentlich vor. Zu denken ist an den Verlust der Berufungs- oder Revisionsschrift nach Einwurf in den Briefkasten des Gerichts oder bevor sie zu den Akten gelangt – ein Umstand, für den allerdings der Verurteilte die Beweislast trägt. Es kann auch vorkommen, dass ein auf Freiheitsstrafe lautendes Urteil in Abwesenheit des Mandanten ergangen ist (§§ 231 Abs. 2, 231a, 231b, 233, 329 Abs. 1 StPO) und die vermeintliche Rechtskraft auf dem Ablauf der Rechtsmittelfrist nach §§ 314 Abs. 2, 341 Abs. 2 StPO beruht, obwohl diese Frist infolge einer fehlerhaften Zustellung des schriftlichen Urteils gar nicht in Lauf gesetzt worden war.
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Ein Zustellungsfehler macht die Zustellung regelmäßig unwirksam. Sie setzt dann die Frist zur Einlegung des Rechtsmittels nicht in Lauf. Hat der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle gleichwohl die Rechtskraft bescheinigt (§ 13 Abs. 2, 3 StVollstrO), so ist das unbeachtlich. Zustellungsfehler sind häufig. Nach einer umstrittenen, aber infolge einer Entscheidung des BGH[1] in der Praxis verbreiteten Auffassung ist die Zustellung schon unwirksam, wenn sie nicht gem. § 36 Abs. 1 StPO vom Vorsitzenden angeordnet ist[2], oder wenn entgegen seiner Anordnung, der Verteidigung zuzustellen, dem Betroffenen zugestellt worden ist oder umgekehrt.[3] Ein weiterer, verbreiteter Zustellungsfehler ist bei Ersatzzustellung nach §§ 37 StPO, 178 ZPO gegeben, wenn der Mandant nicht oder nicht mehr in der Wohnung gewohnt hat, in der die Zustellung versucht wurde. Werden vorhandene Räume längere Zeit nicht genutzt, etwa bei längerer Haft, Krankenhaus oder Auslandsaufenthalt, Wehrdienst oder bei Flucht des Adressaten, so ist die Ersatzzustellung nicht zulässig.[4] Es kommt vor, dass Verurteilte die Zustellung durch Umzug oder scheinbaren Umzug zu verhindern suchen, um den Eintritt der Rechtskraft zu vereiteln – dies darf die Verteidigung ihrem Mandanten weder aufzeigen noch dazu raten (Strafvereitelung oder deren Versuch, vgl. § 258 Abs. 1, 4 StGB).[5]
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Ein weiterer häufiger Zustellungsmangel liegt in zu Unrecht angeordneter öffentlicher Zustellung. Nach früherer Unsicherheit hat es sich durchgesetzt, dass die öffentliche Zustellung in Strafsachen unwirksam ist und keine Frist in Lauf zu setzen, mithin keine Rechtskraft zu begründen vermag, wenn ihre gesetzlichen Voraussetzungen nicht vorgelegen haben.[6] Unzureichende Nachforschungen nach dem Verbleib des Adressaten machen die öffentliche Zustellung z.B. unzulässig. Rechtsbehelf: § 458 Abs. 1 StPO.
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Mangelnde Rechtskraft des Widerrufs ist nicht selten, weil die Vollstreckung noch von einem rechtskräftigen Beschluss abhängt (vgl. § 14 StVollstrO), wie beim Widerruf der Aussetzung der Vollstreckung einer Strafe (§ 56 StGB) oder eines Strafrests (§§ 57, 57a StGB) zur Bewährung, sowie beim Widerruf eines Straferlasses (§ 56g Abs. 2 StGB). Diese Beschlussentscheidungen werden erst mit Ablauf der Beschwerdefrist von einer Woche nach Zustellung (§§ 453 Abs. 2 S. 2, 311 Abs. 2 StPO) oder mit Erlass der Entscheidung über die sofortige Beschwerde (§ 34a StPO) rechtskräftig. Vorher sind sie nicht vollstreckbar.
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Rechtsweg: An sich ist die Einwendung gegen die Zulässigkeit der Vollstreckung nach §§ 458, 462 StPO mit der sofortigen Beschwerde bei Misserfolg gegeben. Die Zulässigkeit dieses Rechtsbehelfs unterliegt allerdings Zweifeln. Wenn der Mandant sich nicht gegen den Widerruf selbst wendet, dann ist seine Beschwerde durch die mangelnde Rechtskraft fragwürdig. Deshalb ist das richtige Rechtsmittel die sofortige Beschwerde gegen den Widerrufsbeschluss, die mit einem Antrag nach § 307 Abs. 2 StPO auf einstweilige Aussetzung der Vollstreckung zu verbinden ist. Dieser Eilantrag ist sowohl an das Gericht, dessen Entscheidung angefochten wird, als auch hilfsweise an das Beschwerdegericht zu richten. Die hier behandelten Zustellungsfehler werden bei der Prüfung der Rechtzeitigkeit der sofortigen Beschwerde berücksichtigt.
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Doppelaburteilung: Ein Verstoß gegen das Verbot der Doppelaburteilung oder – synonym – gegen den Verbrauch der Strafklage ist nicht nur Revisions- und Wiederaufnahmegrund, sondern kann auch nach Rechtskraft und nach Versäumung der Frist von einem Monat zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde nach § 93 BVerfGG geltend gemacht werden. Art. 103 GG erfordert es, diesen Verstoß im Verfahren nach § 458 StPO zu beachten.[7] Er ist keineswegs so selten, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Die Gefahr der Doppelaburteilung liegt vor allem in Fällen des Nebeneinander von Urteil und Strafbefehl nahe, wobei es sich um Doppelverurteilung oder um Verurteilung trotz Freispruchs handeln kann,
• | wenn verschiedene Strafverfahren, die mehrere einzelne Geschehnisse betreffen, einander zeitlich überschneiden: Dann kann es leicht geschehen, dass ein in dem einem Urteil bestraftes oder mitbestraftes Verhalten ein Teilakt der in einem anderen Urteil bestraften fortgesetzten Tat ist, mag er nun dort erörtert und festgestellt oder unbekannt geblieben sein[8] (solche Fallgestaltungen treten auch nach Aufgabe der Rechtsfigur des Fortsetzungszusammenhangs[9] noch auf); |
• | wenn eine Dauerstraftat vorliegt, die mehrere Einzelakte zu einer einzigen tateinheitlichen Tat verklammert und diese Klammerwirkung bei einer der Verurteilungen nicht bemerkt worden ist; |
• | wenn das in der einen Sache bestrafte Verhalten einem in der anderen Sache ebenfalls abgeurteilten zeitlich oder aus anderen Gründen so nahe liegt, dass es sich hierbei, wenn auch nicht materiell-rechtlich so doch im prozessrechtlichen Sinn, um eine Tat, um einen einzigen zusammenhängenden Vorgang handelt.[10] |
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Strafe ohne Gesetz: Eine Verletzung des Verfassungssatzes „nulla poena sine lege“ (Art. 103 Abs. 2 GG) wird ähnlich zu beurteilen sein wie die Doppelaburteilung. Selbst wenn also die Verfassungsbeschwerde wegen Versäumung der Frist des § 93 BVerfGG nicht mehr eingelegt werden kann, besteht ein Vollstreckungshindernis.[11] Wer das bestreitet, der mutet der Vollstreckungsbehörde u.U. ein bewusst materiell verfassungswidriges Handeln zu, weil er die Rechtskraft höher bewertet als das Grundgesetz. In die Fallgruppe „nulla poena sine lege“ gehören die Verurteilungen nach einem Gesetz, das nicht besteht, weil es bei Verkündung des Urteils bereits aufgehoben oder noch nicht in Kraft getreten war. Gesetzesänderungen erreichen die Gerichte häufig mit einiger Verspätung. Das ist besonders zu befürchten, wenn die Zeit zwischen Verkündung und Inkrafttreten sehr kurz ist. Außerdem kommt es vor, dass neue Gesetze komplizierte Inkrafttretens- oder Überleitungsvorschriften enthalten, die leicht übersehen oder missverstanden werden können.[12]
88
Die weiter in Betracht kommenden Einwendungen fehlender Rechtsgrundlage sind selten, sie können entsprechend kurz abgehandelt werden:
89
An erster Stelle ist die Vollstreckungsverjährung nach §§ 79–79b StGB zu nennen. Sie kommt vor, wenn der Verurteilte nach dem Urteil ins Ausland gegangen ist und entweder sein Aufenthalt der Vollstreckungsbehörde unbekannt war oder ein Ersuchen um Auslieferung (genauer: um Einlieferung) aus welchen Gründen auch immer unterblieben ist. Kehrt der Betroffene zurück und will die StA vollstrecken, so können für die Berechnung der Frist wegen der Möglichkeit von Zeiten ihres Ruhens nach § 79a StGB und wegen der Möglichkeit einer Verlängerung nach § 79b StGB Probleme auftreten.[13]
90
Die Personenverwechslung gehört zu den Merkwürdigkeiten der Strafrechtspflege, die man für völlig ausgeschlossenen halten möchte, die aber doch schon einige Male eingetreten sind. Das kriminalpsychologische Phänomen des falschen Geständnisses erstreckt sich auch auf das Sich-unter-falschem-Namen-Verurteilenlassen.
91
Erledigung durch bereits vollendete Vollstreckung ist nur als Folge eines ganz besonderen Versagens der Justizbürokratie denkbar, das eigentlich infolge der gegenseitigen Kontrolle von Vollstreckungsrechtspfleger einerseits und Vollzugsgeschäftsstelle der JVA andererseits nach §§ 35 Abs. 1 Buchst. d, 36 Abs. 1 S. 2 StVollstrO nicht vorkommen kann. Ähnliches ist zur Erledigung durch Straferlass zu sagen, weil sich hier die Vollstreckungsbehörde einerseits und Gericht oder Gnadenbehörde andererseits gegenseitig kontrollieren (sollen).
92
Die Rechtsgrundlage der Vollstreckung fehlt weiter, wenn die StA Freiheitsstrafe vollstrecken will, das Gericht aber zu Jugendstrafe verurteilt hat. Es gibt Verurteilungen, die dem Sprachgebrauch der Meinungsmedien folgend auf „Haft“ oder „Freiheitsentzug“ lauten und bei denen erst durch Auslegung zu ermitteln ist, dass es sich um Jugendstrafe handelt. Nicht hierher gehören die Fälle des § 92 Abs. 2 JGG. Danach kann die Jugendstrafe bei erwachsenen Verurteilten wie Freiheitsstrafe und nach den für diese geltenden Vorschriften vollzogen werden. Es bleibt aber vollstreckungsrechtlich bei der Jugendstrafe, so dass nicht die StA, sondern nach § 82 JGG der Vollstreckungsleiter die zuständige Vollstreckungsbehörde ist, es sei denn, dieser habe die Vollstreckung nach §§ 85 Abs. 6, 89a Abs. 3 JGG an die StA abgegeben.
93
Schließlich ist zu den Fällen der fehlenden Rechtsgrundlage für die Vollstreckung die Nichtigkeit des Urteils zu zählen. Es gibt hierüber eine ausgedehnte dogmatisch-juristische Diskussion. Gliedert man aber die Vollstreckungshindernisse aus, die in den vorstehenden Abschnitten bereits abgehandelt sind, so bleiben fast nur Phantasiefälle übrig. Der BGH hat einmal als Beispiel die Verurteilung zu Prügelstrafe oder zum Tode herangezogen.[14] Es kann schon eher passieren, dass das Gericht die Zahl der Tagessätze der Einzelgeldstrafe bei einer nach § 53 Abs. 2 S. 1 StGB gebildeten Gesamtfreiheitsstrafe vergisst (s.u. Rn. 96).[15]
94
Fehlen einer rechtskräftigen Entscheidung nach § 56 StGB: Die Vollstreckung ist verfrüht, wenn in einem Verfahren nur eine oder mehrere Einzelfreiheitsstrafen unter zwei Jahren rechtskräftig geworden sind, aber die Entscheidung über die Aussetzung zur Bewährung noch aussteht. Solche „vertikale“ Teilrechtskraft tritt ein
• | wenn Berufung oder Revision auf eine Tat oder einige von mehreren Taten beschränkt wird, |
• | wenn das Revisionsgericht die Revision gegen die Verurteilung wegen einer oder einiger Taten verwirft, das tatgerichtliche Urteil aber wegen anderer Taten oder allein wegen des Ausspruchs der Gesamtfreiheitsstrafe aufhebt und die Sache zurückverweist, |
• | wenn für einen Teil der in eine Gesamtfreiheitsstrafe einbezogenen Strafen die Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 370 StPO angeordnet wird und die Gesamtstrafenbildung damit ihre Rechtskraft verliert, so dass nur die Einzelstrafe noch übrig ist.[16] |
Solche Einzelstrafen dürfen nur vollstreckt werden, wenn wenigstens eine von ihnen höher ist als zwei Jahre; sind mehrere Einzelfreiheitsstrafen rechtskräftig, darf nur eine davon vollstreckt werden.
95
Einzelstrafen sind vollstreckbar, jedoch gilt der in § 56 StGB enthaltene Rechtssatz: Eine Freiheitsstrafe, die zwei Jahre nicht übersteigt, darf nicht vollstreckt werden, wenn noch keine rechtskräftige Entscheidung über die Aussetzung zur Bewährung vorliegt. Das Vollstreckungsverbot besteht danach solange, wie es möglich ist, dass eine Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden ist und diese nicht länger als zwei Jahre sein wird.[17]
96
Ein Vollstreckungshindernis kann auch bei einer Gesamtfreiheitsstrafe mit Geldstrafe ohne Festsetzung der Tagessätze vorliegen, wenn das erkennende Gericht bei der Einbeziehung einer Einzelgeldstrafe in eine Gesamtfreiheitsstrafe nach § 53 Abs. 2 S. 1 StGB die Höhe der einzelnen Tagessätze in den Urteilsgründen anzugeben vergisst. Solche Gesamtfreiheitsstrafen sind unvollstreckbar.[18] Solange der Fehler nicht repariert ist, kann allenfalls die parallele Einzelfreiheitsstrafe vollstreckt werden. Das ist aber nur möglich, wenn diese Einzelfreiheitsstrafe zwei Jahre übersteigt. Ist sie niedriger, so ist ihre Vollstreckung grundsätzlich aussetzbar, § 56 StGB, und es fehlt eine rechtskräftige Entscheidung hierüber. Was die Reparatur der fehlerhaften Gesamtstrafenbildung anlangt, so handelt es sich um eine Frage des Erkenntnisverfahrens: Das Fehlende ist in einer neuen Hauptverhandlung nachzuholen.[19]
97
Kein Vollstreckungshindernis, sondern die Möglichkeit für einen Strafaufschub besteht bei nachträglicher Gesamtstrafenbildung, wenn die Aussetzung zur Bewährung möglich ist. Von den erörterten Fällen vertikaler Teilrechtskraft sind diejenigen zu unterscheiden, in denen bereits eine Verurteilung zu Freiheitsstrafe mit rechtskräftiger Ablehnung der Aussetzung zur Bewährung vorliegt, es aber abzusehen ist, dass die Freiheitsstrafe in einer aussetzbaren Gesamtstrafe aufgehen wird. Wenn nämlich in einem weiteren Verfahren eine Strafe und eine Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB zu erwarten oder wenn ein Gesamtstrafenbeschluss nach § 460 StPO zu treffen ist, dann stellt sich bei Freiheitsstrafen von bis zu zwei Jahren die Frage der Bewährung neu.
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Die Vollstreckung ist nicht zulässig, wenn ein Vollstreckungshindernis wegen absoluter Vollzugsuntauglichkeit besteht. § 455 Abs. 1 StPO ordnet einen Aufschub der Vollstreckung bei Geisteskrankheiten an, also ein Vollstreckungsverbot. Diese Vorschrift hat in der Praxis sehr an Bedeutung verloren, obwohl sie angesichts des immer älter werdenden Klientels im Strafvollzug, das oftmals von psychischen Erkrankungen betroffen ist, von der Verteidigung viel häufiger herangezogen werden sollte. Auch § 455 Abs. 2 StPO verbietet einen Vollzug, wenn nahe Lebensgefahr oder schwere Gesundheitsgefahr droht.[20] Der Aufschub der Vollstreckung ist zwingend vorgeschrieben. Die Dauer ist gesetzlich nicht beschränkt. Es sind aber zwei gesetzliche Ungereimtheiten zu erörtern: