Kitabı oku: «Die Zecke», sayfa 2

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3. Der Zehnjahresplan

„Nur Eigentum macht frei!” Beglückt und überzeugt von dieser Erkenntnis schlief ich an diesem Abend voller Tatendrang ein.

In der Nacht hatte ich kühne Träume: Ich lebte als Landgraf in einem mittelalterlichen Schloss. Bei meinem letzten Ausritt schwängerte ich 15 Mägde und setzte so manches Dorf in Brand. Was durfte man nicht alles tun, wenn man frei war! Ich wachte gerade noch rechtzeitig auf, ehe es dem Pöbel gelang, mein adeliges Haupt aufzuspießen.

Es war Samstagmorgen. Ingo hatte mir die Augen geöffnet, ich hatte wirklich begriffen: Der Weg aus der Gosse führte nur über Eigentum. Teileigentum war das Zauberwort! Und um an Teileigentum zu gelangen brauchte ich einen Plan. Und um diesen Plan zu erstellen, zunächst einmal Ruhe zum Nachdenken. Eigentlich war heute ein ungünstiger Tag, um Pläne zu schmieden. Denn wirklich Zeit und Ruhe zum Nachdenken hatte ich nur in meinem Büro im Finanzamt. Aber bis Montag konnte und wollte ich nicht warten. Keinen Tag mehr würde ich zögern, uns aus der stinkenden Kloake mittelständischen Beamtentums zu befreien!

Also musste ich Britta heute Morgen irgendwie abschieben. Sie kam mir allerdings zuvor. Während sie an ihrem klumpigen Körnermüsli herumpickte, sagte sie, sie müsse unbedingt noch ein paar Dinge in der Stadt erledigen. Und außerdem würde sie heute Mittag im Fitness-Studio noch einen Aerobic-Kurs geben. Als Britta endlich Anstalten machte, sich zu verdünnisieren, maulte ich hinter ihr her: „Kauf bloß keine Schuhe!”

Britta würde Schuhe kaufen, sie kaufte immer Schuhe. Manchmal versäumte sie es jedoch, die Spuren ihrer Streifzüge zu verwischen. Und wenn ich richtig Glück hatte, fand ich in einer Plastiktüte noch den Bon. Zweimal war es mir bereits gelungen, Schuhe ohne Brittas Wissen wieder umzutauschen. Das Unglaublichste daran: Sie hatte es nicht einmal bemerkt.

Wenigstens hatte ich jetzt meine Ruhe. Feierlich legte ich „Die vier Jahreszeiten” von Vivaldi auf und nahm einen neuen Schreibblock zur Hand. Der Titel meines Werkes lautete: „Der Zehnjahresplan des Hartmut Schminke”. Darunter schrieb ich mit Textmarker: „Was ich will, das schaffe ich auch!” Diesen Satz hatte ich einmal in einem von Brittas Positiv-Büchern gelesen. Britta war nach diesen Büchern süchtig, sie lagen bei uns in jeder Ecke herum, nur ihre Fitnessbibeln hatten sie noch nicht verdrängt.

Jetzt ging es aber ans Eingemachte. Die wichtigste Frage lautete: Wie viel Schotter ließ sich für den Kauf einer Wohnung locker machen? Ersparnisse hatten wir natürlich keine – wovon auch? Die Fünf-Euro-Scheine, die ich hin und wieder in Sofaritzen und hinter Teppichleisten versteckte, um sie vor Brittas Streifzügen durch die Boutiquen zu retten, konnte man als Ersparnis kaum bezeichnen. Unser Konto war eigentlich nur dann nicht überzogen, wenn ich neues Geld bekam. Dann zog ich immer ganz schnell einen Auszug, um wenigstens einmal im Monat in der Illusion zu leben, noch nicht in der Gosse gestrandet zu sein. Es konnte also nur darum gehen, der Bank so viel Kohle wie möglich für eine Finanzierung aus den Rippen zu leiern.

Ich begann damit, auf der einen Seite des Blattes unsere Einnahmen aufzuschreiben. Ob sich die Bank von den großzügigen Schmerzensgeldzahlungen meines Arbeitgebers blenden ließ? Lähmende Zweifel stiegen in mir hoch, aber im Geiste hörte ich Britta meckern: „Ich will aber eine Eigentumswohnung!” Und was Britta wollte, bekam sie auch. Unter würdigen Umständen konnte man von diesem Gehalt nicht einmal einen Kaninchenwurf durchbringen, geschweige denn eine deutsche Beamtenfamilie – und dabei standen wir noch am Anfang unserer Familienplanung.

Auf der anderen Seite des Blattes listete ich tapfer unsere Ausgaben auf. Die Aufstellung wollte gar nicht mehr enden. Immer wieder fiel mir etwas ein, was ich bislang noch nicht berücksichtigt hatte: Frisör, ADAC-Mitgliedsbeitrag, Staubsaugerbeutel, Kondo­me. Hinter „Kondome” vermerkte ich als Randnotiz: Kondome nur bis zum sechsten Jahr. Im siebten Jahr sollte Stufe II der Familienplanung in Kraft treten. Spätestens dann würde – nein, musste – der kleine Schminke kommen. Wieder hörte ich Britta im Geiste meckern: „In sieben Jahren soll die Familienplanung aber schon abgeschlossen sein.” Mir war bewusst, dass sie hierbei nicht nur an einen Schminke-Junior dachte, sondern an mindestens drei.

Die Summe auf der Ausgabenseite war noch erschreckender als ich erwartet hatte: Meinem Auge bot sich das Bild eines typischen Staatshaushaltes, bei dessen Betrachtung die Frage berechtigt ist, wovon in der Vergangenheit alle Kosten bestritten wurden.

Es half nichts. Wenn wir bei der Bank nicht hochkant hinausfliegen wollten, musste drastisch gekürzt werden. Eines war klar: Britta, das Weib, verschuldete mich! Als erstes warf ich den Otto- und den Quelle-Katalog in den Müllschlucker. Beinahe hätte ich den Sonderkatalog mit der Spätübergangsmode von Hess übersehen. In diesem Katalog fand ich eine ausgefüllte Sammelbestellung von sage und schreibe 467,50 Euro!

Im Grunde ging es nicht um die Frage, ob ich mir eine Eigentumswohnung leisten konnte: Es ging darum, ob ich mir diese Frau weiterhin leisten konnte! Britta musste diese Verschwendungssucht von ihrer Mutter geerbt haben. Schwiegermutter Margot hatte schon in den 60er Jahren, also in einer Zeit, in der andere Familien samt Schwiegermutter und Erbtante einmal in der Woche am Samstag durch die Wanne geschleust wurden, zweimal am Tag geduscht! Verschwendung pur! Seit Margot plötzlich mit 56 an Krebs gestorben war, fand Schwiegervater Gerhard Gefallen am gnadenlosen Geldhorten. Bei Britta hatte sich durch den Tod ihrer Mutter und das Verhalten ihres Vaters ihre Verschwendungssucht sogar noch verstärkt.

Warum hatte ich mich nicht in eine einfache, biedere, graue Maus verguckt mit einer Lkw-Ladung Aussteuer und einem kleinen Depot in der Schweiz? Aber graue Mäuse sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Herr Hupe, unser Treppenterrier, der im Finanz­amt die Post in die einzelnen Zimmer verteilt, erzählte mir neulich von seiner Elisabeth. Elisabeth war eine reinrassige graue Maus und im seligen Alter von 47 Jahren, als er sie heiratete. Nach fünf Jahren Ehe sah sie ihn nach dem Abendbrot plötzlich komisch an und sagte, sie wolle jetzt reiten lernen. Und zwar ein richtiges Pferd mit Sattel und allem drum und dran. Als er begriffen hatte, dass sie es wirklich ernst damit meinte, flehte er sie an, schrie sie an, aber es nützte nichts. Sie blieb stur. Wozu will eine graue Maus reiten lernen? Es gibt eben Frauen, die sich als graue Mäuse verkleidet haben…

Nachdem ich von Brittas Budget noch ein paar Kosmetikartikel gestrichen und den teuren Kurzhaarschnitt gegen eine wild wachsende Langhaarmatte ausgetauscht hatte, sah die Ausgabenseite schon viel freundlicher aus. Ihren monatlichen Gang zu Coiffeur Monique musste ich ihr natürlich auch noch abgewöhnen. Wenn aus unserer Finanzierung etwas werden sollte, musste Britta sich in Zukunft von Elwine die Haare schneiden lassen. Anspruchsvollere Gemüter hätten sich von Elwine nicht einmal ihre Ligusterhecke schneiden lassen, aber dafür war Elwine mit ihren Dumpingpreisen für Familien mit einer knappen Finanzierung immer eine gute Empfehlung.

Selbstverständlich war auch ich bereit, bemerkenswerte Opfer zu bringen. Obwohl es mich wirklich Überwindung kostete, strich ich bei der Position „Autopflege” die Softhäutchen für die Lackoberflächenmassage und das zweite Ei morgens in der Kantine.

Mit der Besoldungstabelle berechnete ich nun meine Einkommensentwicklung für die nächsten zehn Jahre. Bislang konnte man sich immer darauf verlassen, dass sich in einem Beamtenleben in einem Zeitraum von zehn Jahren keine gravierenden Änderungen ergaben. Meiner Erinnerung nach bestanden die bemerkenswertesten Veränderungen der letzten Jahre in der Einführung einer dritten Wurstsorte in der Kantine – das musste vor ungefähr vier Jahren gewesen sein – und der Abschaffung des Vordruck EST 12 WB. Vordruck EST 12 WB wurde endgültig aus dem Verkehr gezo­gen, weil selbst die mit „gut” beurteilten Kollegen ihn nicht verstanden hatten. Aber wenn man die Pressemitteilungen über geplante Einsparungen in jüngster Zeit verfolgte, konnte einem schon schwindelig werden und selbst dem unbekümmertesten Idioten war klar, dass sich da ein verheerendes Unwetter zusammenbraute und meine kleine Oase stark bedroht wurde.

Ein gesunder Optimismus setzte sich dann aber doch bei mir durch und ich plante für das sechste Jahr eine Beförderung ein. Zum Glück ging es bei den Beförderungen nicht um die erbrachte Leistung. Befördert wurde, wer lange genug abgehangen war. Sicher, in den letzten Jahren hatte die Leistungsbeurteilung immer mehr Gewicht bekommen. Aber ich war mittlerweile nicht nur abgehangen, ich hatte bereits schon Moos angesetzt. Mein Optimismus war somit durchaus begründet.

Weniger berechenbar war Brittas Einkommensentwicklung. Wer sagte mir, dass sich Britta nicht beim Sport so unglücklich verletzte, dass sie keine Fitnesskurse mehr geben konnte? Oder noch schlimmer: Britta wurde unverhofft schwanger! Kalter Schweiß lief mir den Rücken hinunter. Vielleicht sollte ich vorsorglich beginnen, ihr die Pille ins Müsli zu mixen! Selbstverständlich mochte ich Kinder. Aber Stufe II ein paar Jahre vorzuziehen wäre Wahnsinn!

Im neunten Jahr konnte es noch einmal richtig eng werden. Zur Not könnten wir unser Auto verkaufen. Und wenn ich öfter die Fahrgemeinschaft für die Fahrten ins Büro wechselte, brauchte ich nicht mal Spritgeld zu zahlen. Da gab es sicherlich noch Einsparpotenzial. Im zehnten Jahr plante ich endlich den Abschluss von Brittas Studium ein und ihren Einstieg ins Arbeitsleben. Britta studierte Sozialwissenschaften mit den Nebenfächern Sport und Freizeitpädagogik. Irgendwann war vielleicht doch damit zu rechnen, dass sie richtiges Geld nach Hause brachte – wobei ich bei dieser Fächerkombination durchaus meine Zweifel hegte.

Am Ende war ich von meinem Plan hellauf begeistert. Nächstes Wochenende konnte also die Suche nach einer Eigentumswohnung beginnen.

Aus dem Bücherschrank nahm ich Brittas Lieblingsbuch zur Hand: Leitfaden für positive Transformationsformeln. Verschwörerisch murmelte ich die Transformationsformel für eine abgeschlossene Ziel-Imagination: „Das habe ich gemacht. Das habe ich gut gemacht. Das habe ich sehr gut gemacht. Ich bin eins mit meinem Plan und was ich will, das schaffe ich auch!”

4. Die Frauenbeauftragte

Kurz vor 14:00 Uhr klingelte Frau Hoppe-Reitemüllers Telefon. Es war Frau Doggenfuß, die Vorzimmerdame des Finanzamt-Vorstehers. Sie solle sofort zum Vorsteher kommen. Ausschließlich Frau Doggenfuß benutzte den Titel „Vorsteher” wenn sie vom Finanzamts-Vorsteher sprach. Für alle anderen war er „Der Kopf”. Nicht nur im übertragenen Sinne war Regierungsdirektor Niemeier der Kopf des Finanzamtes. Er hatte einen beinahe schon als abnorm zu bezeichnenden riesigen Schädel, dessen kantiges Profil durch eine eckige Goldrandbrille noch verstärkt wurde.

Frau Doggenfuß redete stets in einem Befehlston, der unbedingten Gehorsam forderte und jede noch so höfliche Nachfrage scharf unterband. Frau Hoppe-Reitemüller ließ deshalb sofort die gerade angebissene Nussecke fallen und machte sich auf den Weg zum Fahrstuhl.

Auf dem Flur kam ihr Hartmut Schminke mit einer Tasse Kaffee entgegen. Es ist schon auffällig, dachte Frau Hoppe-Reitemüller, immer wenn ich den Schminke sehe, holt er Kaffee oder bringt ihn gerade zur Toilette. Beim Frühstück in der Kantine ist er auch immer der Erste und der Letzte, genau wie sein Vater. Warum sie den Sohn überhaupt eingestellt haben, ist mir ein Rätsel! Bei dem Bockmist, den der alte Schminke verzapft hat. Ab mittags hing Kalle Schminke doch nur noch am Getränkeautomaten im Keller und hat sich eine Pulle nach der anderen genehmigt. Und wenn er abgefüllt war, hörte man das Geschnarche aus seiner Akten-Registratur noch drei Zimmer weiter.

Sie sah dem kleinen, rundlichen Mann hinterher. Etwas weniger Bauch und mehr Hintern würden ihm gut stehen, überlegte sie und dachte an Norberts Hintern. Norberts Hintern gehörte zu Norberts wirklichen Qualitäten. Nicht, dass Frau Hoppe-Reitemüller Norbert nur wegen seines Hinterns geheiratet hätte, aber in dem Sympathiepaket, welches für Norbert den Ausschlag gegeben hatte, war sein Hintern sicherlich kein zu vernachlässigender Pos­ten gewesen. Es hatte auf sie schon immer einen unwiderstehlichen Reiz ausgeübt, ihrem Norbert mit Daumen und Zeigefinger in seinen fleischigen Hintern zu kneifen. Aber seitdem Norbert bei seiner Versicherung seinen Stuhl für die junge Hauptsachbearbeiterin hatte räumen müssen und in den vorzeitigen Ruhestand enthoben worden war, hatte er sich stark verändert. Irgendwann hatte er sich die Kneiferei verbeten. Und als ihr dann doch einmal die Finger ausrutschten, hatte er ihr sogar angedroht, sich von ihr scheiden zu lassen. Und sie wusste, er meinte es damit ernst.

Seitdem ging es mit Norbert immer weiter bergab. Von morgens bis abends saß er nur schlecht gelaunt und lustlos herum. Frau Hoppe-Reitemüller war manchmal froh, dass sie wenigstens tagsüber seinem Anblick entfliehen konnte. Schade nur, dass sich im Finanzamt nicht ihr Telefon abstellen ließ. Mindestens viermal am Tag rief er an, um sie anzuschnauzen oder Bestellungen für den Supermarkt aufzugeben.

Der Weg zum Kopf führte über das Zimmer von Frau Doggenfuß. Es gab natürlich auch einen direkten Zugang zum Büro des Kopfes. Aber die Klinke von Zimmer Nr. 333 in die Hand zu nehmen, wäre eine genauso unmögliche Vorstellung gewesen, wie an der Panzersicherung im Keller herumzufummeln.

Ohne Frau Hoppe-Reitemüller eines Blickes zu würdigen, meldete Frau Doggenfuß sie telefonisch im Vorsteherzimmer an. Nicht-Personen wie der Hausmeister, die Putzfrau und Amtsinspektorinnen aus dem mittleren Dienst wurden von Frau Doggenfuß nur dann persönlich angesprochen, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Mit einem Blick über die Halbrandbrille deutete sie an, dass nun der Weg ins Allerheiligste für Frau Hoppe-Reitemüller offen stand. Ihr Herz begann zu rasen.

In seinem Büro wartete der Kopf hinter seinem drei Quadratmeter großen Schreibtisch. Der Schreibtisch war lediglich mit einem kleinen Notizblock und einem Telefon bestückt. Vor dem Schreibtisch saß ihr Chef, Herr Axthammer. Frau Hoppe-Reitemüller wur­de es noch mulmiger zumute. Herr Axthammer war nämlich nicht nur ihr Sachgebietsleiter, sondern zudem auch der Personalratsvorsitzende des Finanzamtes. Nervös fuhr sie sich durch ihr kurzes graues Haar und wie ein Film spulten sich vor ihren Augen die Sünden der vergangenen Tage ab: Volle zwei Stunden hatte sie mit Sybille in Berlin telefoniert ohne die „drei” für Privatgespräche vorweg zu wählen. Dann hatte sie die EDV-Prüfhinweise für die eingegebenen Steuererklärungen ausnahmslos vernichtet, weil sie mit ihnen nichts anzufangen wusste. Schweiß schoss ihr wie von Einspritzdüsen in die Achseln ihrer Bluse, als ihr einfiel, dass sie gerade gestern erst wieder im Internet unter www.knackigehintern.de unermüdlich gesurft hatte. Dabei wurde in der letzten Amtsverfügung noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Nutzung des Internets nur zu dienstlichen Zwecken gestattet sei und ein Vergehen disziplinarisch verfolgt würde. Es würde schwer werden, einen dienstlichen Bezug herzustellen. Oder war jemandem aufgefallen, dass sie fünf Locher aus der Materialausgabe herausgeschmuggelt hatte? Vielleicht Betriebsprüfer Glockemüller, so richtig war dem auch nicht zu trauen.

Der Kopf gab ihr ein Zeichen, sich ihm zu nähern. Er erhob sich nie, um seine Besucher zu begrüßen. Seine Körpergröße war nur öffentlichen Geheimnisträgern und seiner Mutter bekannt. Frau Stöhr hatte einmal behauptet, er wäre keine 1,50 m. Sie wüsste das ganz genau, weil er zu ihrem 25-jährigen Dienstjubiläum in ihrem Büro gewesen sei und nicht einmal so groß wie der Aktenbock in ihrem Zimmer gewesen wäre. Aktenbock A 102 C hätte aber garantiert eine normierte Höhe von 1,50 m.

Frau Hoppe-Reitemüllers Nervosität legte sich ein wenig, als ihr der Kopf die Hand reichte. Er hatte tellergroße, warme fleischige Hände, die bei einem Händedruck ein Gefühl der Geborgenheit vermittelten. Seine Stimme war tief und voll und seine kleinen ewig lächelnden Augen hinter dem kantigen Goldrahmen machten es einem so leicht, Vertrauliches aus dem Kollegenkreis so ganz nebenbei auszuplaudern.

Bei so viel Väterlichkeit war es ihm überhaupt nicht zuzutrauen, dass er auch seine Todesurteile fällte. Da war zum Beispiel der junge Steuersekretär, der im Finanzamt die Steuererklärungen seiner „Privatkunden” selbst bearbeitet und ihnen durch großzügige Ermessensentscheidungen zu üppigen Steuererstattungen verholfen hatte. Kaum zu glauben, dass so etwas wirklich vorkam!

Als Frau Hoppe-Reitemüller davon erfuhr, war ihr zuerst Hartmut Schminke in den Sinn gekommen. Schminke wäre der Einzige gewesen, dem sie das zugetraut hätte. Aber als dieser ihr einige Tage später, nachdem das Urteil gefällt worden war, mit seiner Kaffeetasse und diesem unverwechselbar idiotischen „Mahlzeit”-Grinsen entgegengekommen war, hatte sie gewusst, dass er es nicht gewesen sein konnte. Besagter Kollege war nämlich fristlos entlassen und disziplinarisch belangt worden. Wahrscheinlich arbeitete er jetzt als Handlanger Steuerberater Pfannengaul zu, der dafür bekannt war, seine Arbeit an gestrandete Existenzen aus der Gattung der steuerberatenden Berufe zu delegieren, während er sich auf dem Golfplatz vergnügte.

Frau Hoppe-Reitemüller hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit dem, was jetzt kam. Der Kopf hatte bereits eine ganze Weile mit ihr gesprochen, ehe sie überhaupt realisierte, was er eigentlich von ihr wollte: „…und so habe ich mich im Einvernehmen mit dem Personalrat dazu entschieden, Sie als Frauenbeauftragte zu benennen.”

Die Nachricht brauchte eine Weile, um auf Frau Hoppe-Reitemüllers Hirnrinde anzukommen. Das Einzige, was sie begriff, war die Anmerkung von Herrn Axthammer, sie wäre nun aufgrund dieser neuen Aufgabe zu 33 % von ihrer bisherigen Tätigkeit freigestellt. 33 %! Das waren mehr als eineinhalb Tage in der Woche! Dafür hätte sie fast alles gemacht.

„Sie können es sich noch in Ruhe überlegen”, meinte der Kopf abschließend – aber Frau Hoppe-Reitemüller nahm das Amt ohne eine Sekunde zu zögern an.

Von nun an gab es dienstags und donnerstags von 9:00 Uhr bis 12:00 Uhr eine Sprechstunde für weibliche Bedienstete. Dann zog sie sich ins Personalratszimmer zurück und wartete. Ihr fiel es nicht schwer, gut und gerne zwei Stunden und auch länger in dem bequemen Sessel mit Armlehne zu sitzen und auf das Ende der Sprechstunde zu warten. Die Zeit verbrachte sie damit, sich wie eine Raupe durch das Aldi-Süßigkeiten-Angebot regalweise durchzufressen. Mittlerweile war sie im letzten Regaldrittel bei der Prinzenrolle angelangt.

Von Tag zu Tag wurde sie unvorsichtiger. Irgendwann geschah es: Ausgerechnet als ihre Lieblingsillustrierte mit der Titelstory: Was bringen Frauen mit 50 noch im Bett? Offen auf ihrem Schreibtisch lag, kam Frau Stöhr in ihr Büro gefegt. Sie schaffte es nicht einmal mehr, die Illustrierte rechtzeitig verschwinden zu lassen. Frau Stöhr stierte auf die Zeitschrift und schnappte hörbar nach Luft. Noch bevor sie wieder zu Besinnung kam, sagte Frau Hoppe-Reitemüller geistesgegenwärtig: „Angelika, was sagst du denn dazu: Egal, was ich lese, ich habe immer mehr den Eindruck, wir Frauen sind in den Augen der Männer nur ein willenloses Stück Fleisch. Ich wollte im Namen aller weiblichen Amtsangehörigen gerade einen offenen Brief an die Redaktion dieses verkappten Macho-Blattes schreiben. Allein dieser Titel… Das ist doch pervers!”

Frau Stöhrs Zweifel waren augenblicklich verflogen. Sie sah Frau Hoppe-Reitemüller zufrieden an und blökte: „Rita, ich hab gleich gewusst: Die Rita wird den Männern mal richtig Feuer unterm Hintern machen!”

Frau Hoppe-Reitemüller winkte mit aufgesetzter Bescheidenheit ab: „Lass nur, Angelika!”, sagte sie.

„Aber was ich heute in der Kantine gehört habe, ist wirklich ein dicker Hund!”, fuhr Frau Stöhr mit empörter Stimme fort. „Ich habe ganz genau gehört, wie der Schminke heute in der Kantine zu Herrn Goller gesagt hat, Frau Graugans würde jedem Iltis noch Konkurrenz machen. Und wenn er an ihrer Stelle wäre, würde er sich sämtliche Schweißdrüsen wegoperieren lassen. Und ihrenBusen kann sie sich auch gleich mitmachen lassen, wenn sie schon mal am Schnippeln sind. Das ist doch ein starkes Stück, oder? Wenn ich Frauenbeauftragte wäre, würde ich sofort Schritte gegen den Schminke einleiten!”

Erst heute Morgen war Frau Hoppe-Reitemüller am Büro von Frau Graugans vorbeigekommen. Um den penetranten Schweißgeruch aus der Nase zu bekommen, musste sie erst einmal eine Zigarette rauchen und drei Mandarinen pellen. Sie wandte deshalb zögernd ein: „Angelika, findest du nicht auch, dass Frau Graugans immer ein bisschen streng riecht?”

Frau Stöhr war über den Einwand verärgert: „Aber Rita! Das ist schon viel besser geworden. Diese Bemerkung ist jedenfalls unerhört!”

Frau Hoppe-Reitemüller versuchte abzulenken: „Und das mit dem Busen hat er tatsächlich gesagt?”, hakte sie nach.

Frau Stöhr wich plötzlich aus: „Nun ja, jedenfalls sinngemäß. Zumindest ging es um irgendwelche Schönheits-OPs. Ich werde ihn jedenfalls weiter beobachten!”

Pikiert zog sie ab. Am liebsten wäre es ihr gewesen, wenn sie Schminke sofort abgeführt hätten. Aber noch war nicht aller Tage Abend.

Frau Hoppe-Reitemüller schauderte jetzt noch bei dem Gedanken, dass sie um ein Haar in dem Büro von Frau Graugans gestrandet wäre. Sechs Jahre war der zweite Platz in Graugans Büro leer geblieben, bis die Geschäftsstelle mit Hinweis auf Sparmaßnahmen mit Nachdruck darauf bestanden hatte, das Büro voll zu besetzen. Aber einmal in ihrem Amtsleben hatte sich Frau Hoppe-Reitemüller wirklich durchgesetzt und zu Herrn Axthammer gesagt, wenn er das wirklich von ihr verlangte, würde sie ab morgen mit Wäscheklammern auf der Nase erscheinen, und: Sie wäre nicht so privilegiert wie er und hätte ständig Schnupfen! Schminke gehörte sicherlich nicht zu den Männern, die sie gerne in Schutz nahm, aber in diesem Falle hatte er wirklich recht.

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Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
331 s. 2 illüstrasyon
ISBN:
9783482728211
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