Kitabı oku: «Die Zecke», sayfa 3
5. Der Kennenlerntag
8:06 Uhr. Horst war noch nicht im Büro. Er würde also heute nicht mehr kommen. Um 8:09 Uhr rief Horst vom Flughafen aus an. In 10 Minuten wäre Einchecken und ich könnte jetzt die Krankmeldung an Frau Doggenfuß weiterleiten. Gestern hatte er die Krankmeldung schon vorbereitet, nachdem er mit Schrecken festgestellt hatte, dass ihm drei Urlaubstage fehlten. Der Last-Minute-Flug nach Kenia war allerdings bereits gebucht – ohne Reiserücktrittsversicherung – und der Flieger stand schon mit laufendem Motor auf dem Flughafen. Zum Glück war wenigstens auf seinen Hausarzt Verlass, der hatte die Krankmeldung gleich für vier Wochen ausgestellt. Kompetenter Mann, sollte ich auch mal ausprobieren.
„Wenn dir drei Wochen die Sonne auf die Festplatte brät, brauchst du anschließend einfach noch ein paar Tage, um dich wieder zu akklimatisieren”, hatte Horst zu mir gesagt und dabei seine Vollglatze massiert. „Und außerdem muss ich noch die Terrasse pflastern. Komm´ ich ja sonst auch nicht zu.”
Es war richtig entspannend, so allein in seinem Büro zu sitzen. Heute hatte ich wenigstens genügend Zeit, ungestört meine aufgestauten Privatgespräche abzuarbeiten. Und ich dachte die ganze Zeit nur an das Eine: eine Eigentumswohnung! Der Gedanke daran hatte sich bei mir regelrecht eingebrannt.
Zuerst rief ich Britta an: „Du, Britta, wir sollten uns den ganzen Samstag einmal Zeit nehmen, um uns Eigentumswohnungen anzusehen.”, schlug ich Britta vor.
„Am Samstag?!” – mehr sagte sie nicht, aber ihr Tonfall löste in mir augenblicklich eine Sirene aus. Da kannten wir uns bereits seit sieben Jahren und waren von diesen sieben Jahren fünf Jahre verheiratet und dennoch ließen sich gewisse Eskalationen nicht vermeiden. Zumindest begriff man eines mit der Zeit schneller: dass es mal wieder zu spät war und die einzige Lösung darin bestand, zügig den Rückzug anzutreten.
Doch ich beging einen Kardinalfehler: Ich versuchte mich herauszuwinden. Als wenn das einem Mann in meiner Situation jemals gelungen wäre – und bei Britta schon gar nicht. Ich sagte jetzt in einem wie ich fand sehr beruhigenden Tonfall: „Naja, es muss ja nicht diesen Samstag sein.” Aber es ließ sich nichts mehr retten.
„Sagtest du Samstag?”, wiederholte Britta und in ihrer Stimme schwang ein Giftcocktail aus Empörung, Wut und verletzter Eitelkeit mit. Schweiß stand auf meiner Stirn. Was konnte an einem gewöhnlichen Samstag, dem siebten Juni gewesen sein? Wie in einer Suchmaschine spulten sich vor meinen Augen sämtliche Geburts- und Todestage näherer Angehöriger und ihrer Haustiere ab. Nichts! Am siebten Juni war einfach nichts gewesen. Man hätte diesen Tag glatt vom Kalender streichen können und kein Mensch hätte davon Kenntnis genommen. Ich jedenfalls nicht.
Da kam mir eine Idee: Brittas Führerschein! Am siebten Juni vor sieben Jahren hatte Britta ihren Führerschein gemacht! Jetzt musste ich nur noch die Kurve kriegen. „Glaubst du etwa, ich hätte deinen Führerschein vergessen! Siebter Juni! Sieben Jahre Führerschein!”, säuselte ich.
„Wenn du noch einmal das Wort Führerschein in den Mund nimmst, lasse ich mich auf der Stelle von dir scheiden!” Britta hatte aufgelegt. Stimmt ja! Auch das war mir leider entfallen: Das Wort „Führerschein” sollte ich auch besser meiden. Britta hatte ihren Führerschein erst im dritten Anlauf geschafft. Einer psychologischen Untersuchung war sie nur knapp entgangen.
Jetzt gab es nur noch eine Rettung: Gundula! Brittas Studienfreundin Gundula! Sie war mir einiges schuldig. Mehr noch: Wenn es in der Welt so etwas wie Gerechtigkeit gäbe, wäre Gundula meine Leibeigene. Sie war schuld daran, dass mir Britta nicht mehr gehorchte. Als Britta und ich uns kennenlernten, hatte Britta sich gerade von Tommy getrennt. Sie fraß mir aus der Hand. Sie kochte für mich, manchmal sogar zwei Mal am Tag warm. Und wir schliefen sogar drei Mal am Tag miteinander – manchmal jedenfalls. Aber Gundulas Einfluss war nicht zu übersehen gewesen. Ich muss sogar eingestehen, dass sich unsere Rollen immer mehr vertauscht hatten. Neulich sagte Britta zum Beispiel, sie hätte keine Lust mehr zum Kochen. Und ich wusste ganz genau, da steckte Gundula dahinter. Gundula war auch schuld daran, dass Britta mittlerweile im 15. Semester studierte und noch lange kein Ende in Sicht war. Korrekterweise muss ich dazu sagen, dass Britta drei Semester nicht mitgezählt hatte, weil sie eine Auszeit brauchte, um die Trennung von Tommy, auch Scheißkerl genannt, zu verarbeiten.
Gundula gähnte unerzogen laut in den Hörer. Anscheinend hatte ich sie gerade aus dem Bett geschmissen. Tschuldige, Gundula – es war ja auch erst 10 Uhr. Ich schilderte ihr kurz mein Problem.
„Siebter Juni”, murmelte sie gedankenverloren. „Ich gehe davon aus, dass du die Geburts- und Hochzeitstage schon abgecheckt hast. Wann hat sie sich von dem Scheißkerl getrennt?”
„Am sechsten Juni”, antwortete ich.
„Und wann habt ihr euch kennengelernt?”, forschte Gundula weiter nach. „Am siebten Juni! – Gundula, du bist einfach genial!”
„Tja, Hartmut, wenn du mich nicht hättest!!!”, sagte Gundula und die drei Ausrufungszeichen hingen wie Atompilze in der Luft. So überschwänglich hätte ich Gundula nie loben dürfen. Hoffentlich war das jemals wieder gut zu machen. Während sie noch einmal unappetitlich in den Hörer gähnte, schaltete ich das Telefon auf Rufumleitung um und legte das Gespräch in den Aktenkeller K 40. Das war reine Notwehr, denn wenn Gundula erstmal am Hörer hing, musste man ihr schon die Ohren abschneiden, um sie zum Auflegen zu bewegen.
Den Rest des Vormittags verbrachte ich damit, leichte Steuererklärungen zu bearbeiten und mir den Kopf zu zermartern, wie ich Britta wieder milde stimmen konnte – und mir fiel tatsächlich etwas ein!
Als ich mit knurrendem Magen nach Hause kam, saß Britta mit einem Schälchen Müslikekse aus dem Reformhaus vor dem Fernseher. Ich war mir sicher, diese Kekse neulich bei Zoo-Warnecke in dem Hunde-Candyshop gesehen zu haben.
Britta schrie aus dem Wohnzimmer: „Wehe, du gehst in die frisch gewischte Küche!”
Sie war also immer noch sauer und ich hatte wirklich riesigen Hunger – und ich beging trotzdem nicht die Todsünde, die frisch gewischte Küche zu betreten. Das war wahres Märtyrertum!
Notgedrungen setzte ich mich zu Britta vor den Fernseher. Volle 42 Minuten wurden wir über die Vorzüge einer WC-Ente mit Saugfüßen und dem patentierten Superflex-Hals aufgeklärt, der in der Lage war, mit einem einzigen Sprühstoß den gefährlichen Urinstein zu eliminieren. Nachdem Britta unser neues Familienmitglied bestellt hatte, fragte ich beiläufig: „Wie wäre es, wenn wir unseren diesjährigen Kennenlerntag einmal ganz anders feiern als sonst?”
Britta schaute mich überrascht an: „Wie? Nicht zum Griechen und dann ins Kino?”
Sie hatte also tatsächlich angebissen. „Nein”, sagte ich, „einmal ganz anders.”
„Also erst zum Chinesen?”, fragte Britta irritiert.
„Nein, ganz, ganz anders! Da kommst du nie drauf: Wir spielen den Tag einfach nach, und zwar genau so, wie wir uns vor sieben Jahren kennen gelernt haben!”
Die Reaktion darauf übertraf alle meine Erwartungen: Britta war hellauf begeistert.
„Ich habe übrigens noch die Popeye-Unterhose”, bemerkte ich und fügte hinzu: „Und du, du hast doch noch dieses süße, gelbe Nachthemd mit dem Biene-Maja-Motiv!”
„Moment mal”, unterbrach mich Britta, „an unserem Kennenlerntag haben wir aber noch nicht miteinander geschlafen! Soviel ich weiß, haben wir uns noch nicht mal geküsst. Da lief noch überhaupt nichts! Ich bin ja schließlich kein Flittchen.”
„Zumindest habe ich dich am Arm gestreichelt”, sagte ich bestimmt.
„Na ja, von mir aus kannst du mich ja mal am Arm streicheln”, erlaubte mir Britta großzügig, „aber ansonsten halten wir uns an die Fakten!”
Noch einmal versuchte ich den Verlauf unseres Spiels zu beeinflussen und schlug Britta vor: „Wir können den Kennenlerntag auch als eine Lebensphase nachvollziehen, in der wir uns näher gekommen sind. Ich bin auf jeden Fall dafür, die Hochzeitsnacht mit einzubeziehen.”
„Wir können auch nur die Hochzeitsnacht nachspielen”, bemerkte Britta in einem ironischen Unterton, der mir allerdings glatt entging. „Oh Britta, du hast immer so gute Ideen!”, begeisterte ich mich. Aber Britta unterbrach mich kalt und sagte bestimmt: „Das hätte dir so gepasst! Nein, wir spielen alles, wirklich alles, so nach, wie es sich wirklich abgespielt hat und meinetwegen darfst du mich in der 89. Spielminute dann auch mal am Arm streicheln und von mir aus dabei denken, was du willst. Aber eines sage ich dir schon jetzt: Es wird sich an die Fakten gehalten! Und Flossen weg von meinem Busen!”
Der siebte Juni vor sieben Jahren war ein schöner, sonniger Tag. Mein Tag begann wie üblich: Nach dem Frühstück in der Kantine mit Frau Stöhr, Herrn Goller und Elke wollte ich in die Materialausgabe im Erdgeschoss gehen. Donnerstags war von 11:00 Uhr bis 12:00 Uhr Materialausgabe. Papa hatte mich gestern gefragt, ob ich ihm mal einen neuen Locher mitbringen könne und vielleicht noch ein paar Leitz-Ordner. Außerdem hätte Mama nächste Woche Geburtstag, vielleicht fände ich noch was Nettes für sie. Mama freute sich immer riesig, wenn ich ihr etwas aus der Materialausgabe mitbrachte. Als ich ihr zum 60. Geburtstag eine Tackerkralle mitgebracht habe, rief sie gleich am nächsten Tag an und erzählte begeistert, dass sie mit der Tackerkralle bei Papa sogar einen Holzbock erfolgreich entfernt hatte. Nach den Blessuren könnte manjetzt zwar vermuten, Papa sei von einer Klapperschlange gebissen worden, aber Hauptsache das Ding war draußen.
Papa war im Gegensatz zu Mama richtig unverschämt. Er dachte, das liefe bei uns in der Materialausgabe immer noch so ab wie früher, als er noch im Amt war. Papa hatte immer seinen ganzen Freundeskreis mit allem versorgt, was die Materialausgabe hergab. Manchmal musste ich mich mit Papa richtig anlegen: „Was, Junge, nur sieben Tacker?”, schmollte er. Und ich erwiderte: „Das ist nicht mehr so wie zu deiner Zeit. Du kennst den Schroeder nicht, der sitzt auf jeder Büroklammer.” Schroeder war unser neuer Hausmeister und der bewachte die Materialausgabe als beherberge sie die britischen Kronjuwelen.
Im Foyer ging ich an der Tür des Sprechzimmers vorbei. Vor der Tür warteten etliche Steuerpflichtige darauf, dass ihre Nummer aufgerufen wurde.
Steuerpflichtige sind eigentlich keine richtigen Menschen, so wie zum Beispiel Nachbarn oder Freunde. Sie sind die Grundlage eines Aktenaufbaus: Name, Vorname, Geburtsdatum, Steuernummer, Gewerbekennziffer. Von da aus teilt sich die Zelle immer weiter und wird zum Steuerpflichtigen. Sie machen eigentlich nur Arbeit, genauso wie Meerschweinchen eigentlich nur Dreck machen. Meerschweinchen sind aber dabei wenigstens noch niedlich anzuschauen. Steuerpflichtige machen darüber hinaus nur Ärger. Ärger, weil die Steuererklärung nicht rechtzeitig abgegeben wurde, Ärger, weil ständig die Belege fehlten, Ärger, weil die Zahlen in die falschen Zeilen eingetragen worden waren und Ärger, weil sie womöglich noch anriefen. Am Schlimmsten aber sind die Steuerpflichtigen, die dem Wahn verfallen sind, sie müssten ihre Steuererklärung persönlich bei ihrem Sachbearbeiter abgeben und könnten dann auch noch eine Belohnung erwarten. Oder aber er lege Wert darauf, den Steuerbescheid am Telefon mit ihnen auszudiskutieren.
Aus den Augenwinkeln bemerkte ich eine Steuerpflichtige, eine junge, große, blonde Frau mit Kurzhaarschnitt, die hilflos in demStänder mit den Steuererklärungsvordrucken ein Formular suchte. Ich war schon fast an ihr vorbei, da drehte sie sich plötzlich zu mir um und sprach mich an: „Entschuldigen Sie, ich suche diesen Lohnsteuer-Erstattungsantrag.”
An Sprechtagen sollte man gar nicht erst in die Nähe des Sprechzimmers kommen, um nicht von Steuerpflichtigen angefallen zu werden! Ich wollte mich zunächst gar nicht umdrehen, sondern einfach so tun, als hätte ich sie nicht gehört. Einem Impuls folgend drehte ich mich dann aber doch nach ihr um.
Es gibt nicht viele Momente, in denen es einfach nur „Dong” macht. Es war der Super-GAU! Ich glaube, ich starrte sie fast eine halbe Minute lang an. Es ist kaum zu glauben, dass ich überhaupt so etwas wie einen vollständigen Satz heraus brachte. Ich sagte so etwas wie: „Sie suchen sicherlich eine Einkommensteuererklärung.” Nein, ich bin mir sicher, dass es kein vollständiger Satz gewesen ist. Wahrscheinlich hatte sie auch gar nicht verstanden, was ich gesagt hatte. Sie antwortete ein bisschen ungeduldig, aber nicht unfreundlich: „Nein, ich bekomme was wieder.”
Mit zittriger Hand reichte ich ihr das Formular und: Sie lächelte mich an! Dieses Lichtwesen lächelte mich an!
Ich brachte nur ein stockschüchternes „Dann Tschüss” heraus. Sie sagte: „Nochmals Danke!” Und dann wieder dieses Lächeln!
Steifen Schrittes und doch bemüht, betont locker zu wirken, ging ich weiter in Richtung Materialausgabe. Ich wagte nicht, mich noch einmal umzudrehen. Auf der Schwelle zur Tür der Materialausgabe flog dann die Sicherung bei mir komplett heraus. Es pochte in meinem Kopf: Dong! Du musst jetzt hinter ihr her. Das ist die Frau!
Ich musste etwas unternehmen, rannte zurück in die Wartezone vor dem Sprechzimmer. Sie war nicht mehr da. Vielleicht ließ sie sich gerade von der Kollegin beraten. Panik stieg in mir hoch. Ich konnte unmöglich länger warten, riss die Tür zum Sprechzimmer auf. Eine Steuerpflichtige im verwesungsfähigen Alter saß miteinem Schuhkarton, aus dem Busfahrkarten, Zinsbescheinigungen und Rentenbescheide herausquollen, vor meiner Kollegin und heulte. Tür schnell wieder zu und wieder zurück in die Wartezone. Was sollte ich jetzt tun? Ich musste unter allen Umständen hinter ihr her, nahm meinen letzten Mut zusammen und fragte die wartenden Steuerpflichtigen: „Haben Sie die blonde, junge Frau gesehen, die eben noch hier war?” Keiner sagte einen Ton, alle glotzten nur wie bayerische Almkühe. Ich wollte gerade weiter rennen, da fragte endlich eine Steuerpflichtige mit Hausfrauenleggins Kaugummi kauend: „Wie sah sie denn aus?” Ich zögerte. Wie sah sie eigentlich aus? Toll, einfach toll! Und dieses Lächeln! Sie hat mich, Hartmut Schminke, dieses armseliges Würstchen, angelächelt! Aber wie konnte ich sie beschreiben?
„War das diese große Blonde mit der hellen Windjacke?” „Ja, ja!”, sagte ich schnell, „das ist sie!” Wortlos deutete sie mit dem Kopf Richtung Südausgang. Südausgang, das bedeutete, sie würde jetzt durch den Stadtpark gehen in Richtung Busbahnhof. Zum Glück war ich heute mit dem Fahrrad im Amt, weil mein alter Ford Granada mal wieder nicht angesprungen war. Mit dem Fahrrad würde ich sie vielleicht einholen können. Es war nur eine winzige Chance, aber ich musste es versuchen.
Im Stadtpark waren nur wenige Fußgänger unterwegs. Wenn ich sie jetzt nicht gleich einholte, war alles vorbei. Ich hatte die Hoffnung schon beinahe aufgegeben, da sah ich sie plötzlich von Weitem! Das musste sie sein. Ihre helle Windjacke reflektierte im Sonnenlicht, es bestand kein Zweifel, da ging sie. Mein Puls raste und mir war hundeelend. Hatte die Steuerpflichtige „groß” gesagt? Stimmt! Sie war riesig! Sie war bestimmt einen Kopf größer als ich. Es war Wahnsinn! Sie würde auf mich herunterschauen, meinen Kopf tätscheln, so wie man das bei einem Kleinkind macht, und sagen: „Na, Kleiner, was willst du denn?” Egal, sollte sie machen, was sie wollte. Wie programmiert fuhr ich weiter und zermarterte mein Hirn nach einer Möglichkeit, sie anzusprechen. Ich konnte siedoch nicht einfach überholen und zu ihr sagen: Hallo, ich bin ihr Finanzbeamter und habe mich gerade tierisch in sie verknallt. Nein, ausgeschlossen! Die Begegnung musste wie zufällig wirken. Es blieb mir nichts anderes übrig, als sie erst einmal in einem sicheren Abstand zu verfolgen. Hauptsache, ich wusste, wo sie wohnte. Ich durfte sie jedenfalls auf keinen Fall aus den Augen verlieren. Hoffentlich hatte sie nicht irgendwo ihren Wagen geparkt, dann hätte ich sie nicht einmal mehr verfolgen können. Halt! Ein Auto wäre sogar sehr gut! Anhand des Kennzeichens könnte ich im Finanzamt den Halter ermitteln. Und ich hätte sogar ihre Steuernummer! Ich könnte sie dann sogar wegen eines fadenscheinigen Grundes ins Finanzamt zitieren. Der Gedanke daran ermutigte mich.
Ich hatte Glück. Sie ging tatsächlich auf direktem Weg zu dem Parkplatz am Rande des Stadtparks und stieg in eine knallrote Ente. Eine Ente – kein ordinärer VW Polo. Beinahe hätte ich nicht auf das Kennzeichen geachtet. BW 95 – sicherlich ihre Initialen. Wahrscheinlich hieß sie Bianca – ein wirklich schöner Name.
Es war für mich ein Leichtes, im Amt per PC das Kfz-Kennzeichen abzufragen, um ihren Namen und Anschrift herauszubekommen. Bianca hieß Britta und mit Nachnamen Werner. Ich zog mir ihre Akte. Studentin der Sozialwissenschaften mit den Nebenfächern Sport und Freizeitpädagogik. Neben dem Studium jobbte sie in einem Sportstudio. Bei der letzten Steuererklärung hatte sie bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit ein Arbeitszimmer erklärt. Was macht eine Aerobic-Trainerin mit einem häuslichen Arbeitszimmer? Was mich noch stutziger machte: Der Bearbeiter, Herr Budde, hatte hinter dem Eintrag der Aufwendungen für das Arbeitszimmer zwei Fragezeichen gemacht und geschrieben: Unbedingt Nachschau durchführen! In diesem Schaffensprozess war Herr Budde in die Betriebsprüfungsstelle versetzt worden. Seine Nachfolgerin, Frau Hoppe-Reitemüller, hatte ohne mit der Wimper zu zucken die Steuererklärung ohne eine einzige Änderung durchgewinkt. Das sah ihr ähnlich! Der Vorgang musste nochganz frisch sein, denn der Steuerbescheid war gerade gestern im Rechenzentrum verarbeitet worden. Der Bescheid würde frühestens in einer Woche zugestellt werden. Mir kam eine geniale Idee: Noch wusste Britta nicht, dass das Arbeitszimmer genehmigt worden war. Noch war sie sicher bereit, alles zu tun, um die fürstliche Steuererstattung von 1.423 Euro zu retten. Und ich würde ihr Retter sein, ihr deutlich zu verstehen geben, dass sie die Erstattung nur meinem Wohlwollen zu verdanken hatte. Schminke, von Gottes Gnaden, drückt noch mal ein Auge zu.
Kurz vor Feierabend rief ich Britta an, um anzukündigen, dass ich in den nächsten Tagen ihr Arbeitszimmer begutachten müsste. Mir war speiübel vor Aufregung. Drei Zettel mit vorgefertigten Dialogen lagen vor mir. Natürlich hatte ich auch den Ernstfall, den Super-GAU, eingeplant. Der Super-GAU würde eintreten, wenn sie anfangen sollte, herumzuschreien. Richtig schlimm würde es, wenn sie meinen Chef verlangte oder direkt beim Kopf anrief, um sich über mich zu beschweren. Dann säße ich wirklich in der Tinte.
Aber Britta bezweifelte gar nichts. Sie fragte nur: „Wann wollen Sie denn kommen?”, und fügte schnell hinzu: „Es geht aber frühestens nächste Woche Montag.” Na selbstverständlich, Britta! Natürlich musste sie erst den Raum herrichten. Alle Möbel und wahrscheinlich ein Klavier rausschmeißen. Montag war im Übrigen gut, denn frühestens am Donnerstag würde ihr der Bescheid vom Finanz-Rechenzentrum zugestellt werden. Um sie positiv auf mich einzustimmen, informierte ich sie darüber, wie ein steuerlich anerkanntes Arbeitszimmer auszusehen hat und beendete das Telefonat mit den Worten: „Ich bin überzeugt davon, dass wir da keine Probleme haben werden.”
Es war genau so, wie ich es vermutet hatte: Britta hatte ganze Arbeit geleistet und musste ihre Wohnung innerhalb von vier Tagen völlig umgekrempelt haben. In dem „Arbeitszimmer” standen ein Schreibtisch und ein Multifitness-Center mit Laufband. Außerdem lagen jede Menge Hanteln herum. Wahrscheinlichhätte ich mir schon beim leichtesten dieser Folterinstrumente einen soliden Bandscheibenvorfall geholt.
„Und was führen Sie hier für Arbeiten aus?”, fragte ich Britta. Sie erzählte mir ausführlich, dass sie fast den ganzen Tag, bevor sie zu den Aerobicstunden ginge, hart trainieren und nach Feierabend bis spät in die Nacht die Trainingspläne für die Mitglieder ausarbeiten würde. Für private Dinge bliebe überhaupt keine Zeit. Ich musterte sie, während sie sprach, verstohlen von der Seite.
Ihr Gesicht strahlte eine ungeheuere Lebensfreude aus. Ihre braunen Augen glänzten und wenn sie lachte, zeigte sich auf der Wange ein Grübchen. Ihre Unterlippe war einen Tick nach vorn gewölbt, irgendwie hatte das etwas sympathisch Freches. Wie ich befürchtet hatte, war sie mindestens einen Kopf größer als ich, da ließ sich nichts beschönigen. Und auch wenn ich mir Spezialschuhe aus Italien mit versteckten Absätzen kaufen würde, der Größenunterschied würde sich allenfalls mit Stelzen vertuschen lassen. Die meisten Frauen hatten mit kleineren Männern ja ein Riesenproblem. Das konnte man schon den Bekanntschaftsannoncen entnehmen: Nur bei molligen Frauen ab 50 hatten auch zu kurz geratene Dackeltypen wie ich noch eine Chance. Hauptsache sie waren tierlieb und treu.
Was Brittas sportliche Ambitionen anbelangte, war unübersehbar, dass sie täglich Gewichte stemmte wie ein Gabelstapler. Die breiten, kräftigen Schultern und sehnigen Arme sprachen für sich. Ich zog intuitiv die Ärmel meines grauen Pullis weiter nach unten, damit sie von meiner weichen, blässlichen Haut nicht auf die Substanz meines nicht vorhandenen Bizeps schließen konnte.
Wenn ich ehrlich war, hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie richtig Sport getrieben. Selbst als Zweijähriger wurde ich vom Kinderturnen disqualifiziert, weil ich die ganze Zeit nur Butterkekse gefressen und die ganze Turnhalle vollgekrümelt hatte. Sportlicher Ehrgeiz überfiel mich allenfalls, wenn es galt, die üppige Portion Gyros bei unserem Griechen zu vertilgen. Beim Völkerballspiel in der Schule war ich regelmäßig in der ersten Spielminutewie eine reife Tomate abgeworfen worden. Wenn eines der Mädchen einen Treffer brauchte, um wieder ins Spiel zu kommen, war es immer eine sichere Sache gewesen, auf mich zu zielen. Bis ich den Ball wahrgenommen hatte, war er auch schon an mir abgeprallt und ich auf die Verliererseite abgeschoben worden. Nie hat mir jemand einen Ball zugeworfen, damit ich wieder ins Spielfeld kam. Stattdessen musste ich für die anderen immer die Bälle holen, die zu weit weggekullert waren. Seit der Pubertät war mein Bauch immer rundlicher geworden und die Arme waren weich und dicklich.
Sie musterte mich jetzt: Ihr Blick fiel auf meine Arme und wanderte über meine Brust zu meinem Bauchnabel. Krampfhaft zog ich den Bauch ein, mit kaum merklichem Erfolg. Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn. Wenn ich sie jetzt nicht für mich einnahm, war es endgültig zu spät. Mein Mund war trocken. Hoffentlich hatte ich keinen Mundgeruch. Endlich brachte ich heraus: „Frau Werner, da sehe ich gar kein Problem mehr für Ihr häusliches Arbeitszimmer! Und was die Erstattung anbetrifft, ich denke, das kriegen wir noch diese Woche hin.”
Zwei Jahre später würde Herr Döll vom Rechnungshof die Akte Werner ziehen und die Genehmigung des Arbeitszimmers als unglaubliche Schlamperei anprangern. Der Kopf würde Herrn Döll mit den Worten beruhigen: Das Problem sei ihm bekannt, er werde sich für die Sachbearbeiterin, Frau Hoppe-Reitemüller, eine adäquate Lösung einfallen lassen.
Britta würdigte meine Rechtsauffassung auf ganz andere Weise. Sie strahlte dieses unglaubliche Britta-Strahlen. Dong!
Mein Blick fiel auf ihr Dekolletee: ziemlich kleiner Busen, schade. Oder täuschte ich mich? Naja, so klein auch wieder nicht.
Ich spürte, wie Brittas Anspannung nachließ – im Gegensatz zu meiner Anspannung, denn ich arbeitete in Gedanken fieberhaft daran, das Gespräch auf eine private Schiene zu bringen. Ich öffnete die Wohnungstür. Gleich wäre ich wieder draußen und alles wäre nur ein schöner, bunter Traum gewesen. Doch halt, das wargar nicht die Haustür! Mit einem Mal stand ich in einer großen Rumpelkammer. Das Zimmer war mit Kartons und Möbeln so vollgestellt, als stände ein Umzug an. Na, irgendwo mussten die Möbel aus dem Arbeitszimmer ja auch untergebracht worden sein. „Ziemlich voll hier”, entfuhr es mir. Dann besann ich mich jedoch auf meine Mission und stotterte: „aber auch ganz schön… gemütlich.” – Meine Zweifel schienen mir ins Gesicht geschrieben zu sein.
Aber Britta hatte alles im Griff und mit düsterer Miene sagte sie: „Sagen Sie es schon: Es sieht hier chaotisch aus! Eine Katastrophe! Ich habe vorher in einem Vier-Zimmer-Penthouse gewohnt, bis Tommy und ich beschlossen haben, vorübergehend getrennt zu wohnen. Nun leb’ ich schon seit eineinhalb Jahren in diesem Zustand. Und als ich Tommy gestern zufällig im Fitness-Studio traf, fragt der Scheißkerl mich doch glatt, ob ich schon wüsste, dass er nächste Woche heiraten würde!”
Sie begann leise zu schluchzen. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und legte ihr meine Hand auf ihren Arm. Dann sagte ich: „Kommen Sie, ich kenn hier ganz in der Nähe ein kleines Café… Reden tut immer gut.” Als sie tatsächlich ohne Widerspruch ihre helle Windjacke von der Garderobe nahm, wusste ich, dass ich zumindest zweimal im Leben zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen war: Das erste Mal, als das Finanzamt zum Volkssturm aufrief und selbst versetzungsgefährdete Realschüler ohne mit der Wimper zu zucken eingestellt wurden und das zweite Mal, als Tommy, der Scheißkerl, Britta für immer verließ und ich just in dem Moment als Seelentröster zur Stelle war.
Heute, siebter Juni. Britta hatte tatsächlich noch in letzter Minute eine rote Ente auftreiben können. Eine Kommilitonin im 27. Semester hatte ihr ihre Ente geliehen. Der TÜV war zwar bereits seit zwei Monaten abgelaufen, aber es blieb keine Zeit mehr, nach einer anderen Ente Ausschau zu halten.
Vom Park aus war ich Britta, die die einmalige Chance genutzt hatte, sich für diesen Tag eine sündhaft teure, neue helle Windjacke zu kaufen, bis zum Parkplatz gefolgt. Die Scheiß-Ente sprang – wie von mir erwartet – natürlich nicht an. Dabei hatten wir in der „Geflügelfarm”, einer Entenfreak-Werkstatt auf dem Lande, noch die Zündkerzen austauschen lassen. Schadenfroh saß ich hinter einem Busch und genoss zu beobachten, wie Britta immer rasender wurde. Die Frau konnte sich aber auch wirklich aufregen! Kurz bevor Britta aufgeben wollte, erbarmte sich ein nickelbebrillter Citroën-XM-Fahrer mit Intellektuellen-Strubbel-Grauhaarmähne und schleifte die Ente an seiner rostigen Abschleppstange so lange auf dem Parkplatz hinter sich her, bis nach mehreren kleinen Explosionen das Entenherz wieder zu schlagen begann.
In Brittas Wohnung angekommen, zeigte sie mir das Arbeitszimmer und heulte mir etwas von Tommy, dem Scheißkerl, vor. Sie spielte ihre Rolle richtig gut. Bevor wir zu dem entscheidenden Satz mit dem kleinen Café um die Ecke kamen, sagte Britta: „Entschuldigen Sie mich, ich muss mal eben ins Bad.”
Eines muss ich schon sagen, selbst nach sieben Jahren verstand es Britta, mich immer noch zu überraschen. Nach einer Weile öffnete sich die Badtür: Da stand Britta in ihrem gelben, mittlerweile etwas verblichenen Biene-Maja-Nachthemd im Türrahmen und flüsterte lasziv: „Kleine Drehbuchänderung!” Schnell zog sie mich zurück ins Arbeitszimmer auf die Turnmatte.
Es war wie das erste Mal. Wie die Tiere fielen wir übereinander her. Und wenn wir in dem Moment zwei Stufen der Familienplanung übersprungen hätten, wäre es mir egal gewesen. Irgendwann während einer Atempause hörten wir ein penetrantes Klingeln an der Wohnungstür. „Lass es klingeln, wir sind nicht da!”, raunte ich Britta zu. Aber nach einer Minute hielt es Britta nicht mehr aus: „Es ist bestimmt wichtig. Ich bin gleich wieder da.” Flink bekleidete sie sich notdürftig und ging zur Tür. „Kleine Drehbuchänderung!”, murmelte ich düster. An der Tür war Gundula. Warum war ich nicht gleich drauf gekommen! Es konnte nur Gundula sein. Sie war völlig in Tränen aufgelöst.
„Gundula! Was ist denn mit dir los? Komm doch rein!”, rief Britta erschrocken und zog Gundula in die Wohnung. In dem Moment hätte ich nicht nur Gundula erwürgen können. Gundula konnte vor lauter Schluchzen kaum sprechen. Endlich stotterte sie: „Ich habe ganz viel Blut im Urin. Ich glaube, ich hab einen Tumor im Darm – oder in den Eierstöcken!”
Britta war bestürzt: „Ich fahr dich sofort ins Krankenhaus!”
Im nächsten Moment waren sie schon fort.
Das war also der siebte Kennenlerntag. Nach Abwägung aller Risiken hätte ich wahrscheinlich doch lieber die Kombination Grieche/Kino vorziehen sollen. Ich war zwar kein hoffnungsloser Pessimist, aber es war kaum anzunehmen, dass sich im Laufe dieses Tages unsere Session auf der Turnmatte nahtlos fortsetzen ließe.
Zu meinem Erstaunen war Britta keine Stunde später wieder zurück. „Die Frau ist ja völlig bescheuert!”, zeterte Britta.
„Wen meinst du denn?”, fragte ich irritiert zurück.
„Na, Gundula!” Gedacht hatte ich das bisher auch immer, aber bislang nie so deutlich ausgesprochen.
Dann platzte Britta los: „Rote Beete! Sie hat kiloweise rote Beete gefuttert, weil sie irgendwo gelesen hat, dass sich damit die Abwehrkräfte stärken lassen.”
„Und dann wundert sie sich, dass ihr Urin rot ist wie italienischer Chianti. Die Ärzte haben sich jedenfalls halb schlapp gelacht. An Gundulas Stelle würde ich mich im Uni-Klinikum jedenfalls höchstens noch zu Obduktionszwecken blicken lassen”, schimpfte Britta.
Nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte, fragte ich Britta: „Und, was machen wir jetzt mit unserem angebrochenen Kennenlerntag?” Britta überlegte kurz und sagte dann: „Na, zum Griechen und dann ins Kino, oder was meinst du?”