Kitabı oku: «Vom Imperiengeschäft», sayfa 3

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Und zusätzlich können die Ticketanbieter theoretisch selbst Tickets von ihrer Erstverkaufs- in die eigene Zweitmarkts-Plattform verschieben, ohne daß es irgendjemand merkt. Ob sie es wirklich tun, wie immer wieder behauptet wird, läßt sich nicht beweisen, die Tickethändler sind den Konzertveranstaltern ja nur über die auf ihrer ursprünglichen Plattform verkauften Tickets Rechenschaft schuldig. Aber der Toronto Star veröffentlichte im Herbst 2018 ein Video-Interview, indem ein Verantwortlicher bei Ticketmas­ter zugab, daß seine Firma eine Software namens »TradeDesk« anbietet, die Wiederverkäufern das schnelle Up- und Downloaden von Tickets auf und von Ticketmasters eigener Wiederverkaufsplattform erlaubt, ohne daß Ticketmaster einen besonderen Einblick in diese Aktionen habe oder sie kontrollieren würde. Demzufolge unternahm Ticketmaster nichts dagegen, daß praktisch alle Tickethändler mehr als 200 Ticketmaster-Konten führten und diese täglich synchronisierten. »Ich kenne keinen einzigen meiner Klienten, der keine Multiples verwendet«, läßt sich der Ticketmaster-Mitarbeiter vernehmen. »Klar, man muß das so machen, wenn der Kauf von Tickets auf sechs oder acht begrenzt ist – vom Weiterverkauf von acht Tickets kann man schließlich nicht leben.«29

Natürlich haben die Ticketingkonzerne kein Interesse daran, daß Fans auf der Ursprungsplattform feststellen, daß es für ein Konzert keine Tickets mehr gibt, woraufhin sie dann direkt zu unkontrollierten Zweitmarkts-Anbietern wie Viagogo oder Stubhub wechseln. Ein Interesse haben sie vielmehr an der direkten Verschränkung ihrer eigenen Primary und Secondary Platformen. Offizielle Statements der Ticketkonzerne, daß sie den Zweitmarkt bekämpfen würden, dürfen also getrost als Lippenbekenntnisse gewertet werden.

Allerdings geraten auch die Ticketingkonzerne unter öffentlichen Druck, und so hat Ticketmaster, der weltgrößte Tickethändler, im Sommer 2018 bekanntgegeben, daß die beiden konzerneigenen Zweitmarkts-Plattformen Seatwave und Get Me In geschlossen werden. »Wir haben euch gehört und können gut verstehen, daß Wiederverkaufs-Plattformen nicht mehr der richtige Weg sind. Und vor allem verstehen wir, daß ihr keine Lust mehr darauf habt, daß euch heißbegehrte Tickets vor der Nase weggeschnappt werden, um an anderer Stelle gewinnbringend weiterverkauft zu werden«, läßt sich Ticketmaster vernehmen.30 Stattdessen will Ti­cketmaster einen »Marktplatz für Tickets, von Fan zu Fan« eröffnen, auf dem Fans ihre Tickets »ganz einfach kaufen oder verkaufen« können, »und zwar zum Originalpreis oder günstiger«. Zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Buchs ist ein derartiger Marktplatz bei Ticketmaster in Deutschland allerdings noch nicht am Start, wohl aber bereits in Großbritannien. Wenn man bei Ticketmaster UK zum Beispiel Tickets für das Konzert von Mariah Carey in der Londoner Royal Albert Hall im Mai 2019 erwerben wollte, ploppte gleich beim ersten Klick auf das »Event« die Meldung auf: »More Ticket Choices: Resale Tickets are available for this event.« Und diese Tickets werden demzufolge von Fans »zum Originalpreis oder weniger« angeboten.

Ticketmaster reagiert damit eindeutig flexibler auf Fans und auf öffentliche Kritik als der deutsche Ticketing-Gigant CTS Eventim. Letztlich hat Ticketmaster die erste und die zweite Ticketing-Plattform zusammengelegt. Und dahinter steht wohl eine zukunftsgewandte Strategie: Die Fans, die die Unterscheidung zwischen Erst- und Zweitmarkt sowieso nicht verstehen, wollen heute alles auf einer Plattform erledigen. Der alle Gesetze des Handels umstülpenden Onlinehändler Amazon hat es vorgemacht. Sucht man einen Artikel bei Amazon, finden sich direkt neben dem offiziellen Angebot weitere Angebote von kleineren Händlern oder privaten Anbietern. Für Amazon gilt: Wenn es diese Konkurrenz schon nicht ausschalten kann, will es wenigstens mitverdienen. Längst sind die Konsument*innen durch Amazon konditioniert. Sie wollen derartige Angebote auch in allen anderen Bereichen, also auch beim Ticketing. Das gilt übrigens auch für ein generöses und unkompliziertes Rückgaberecht, das Ticketmaster bereits für 72 Stunden anbietet (das von den Käufer*innen von Eintrittskarten praktisch kaum genutzt wird, aber eben »kundenfreundlich« daherkommt).

Aus der Malaise gibt es, so weit ich sehe, nur einen pragmatischen Ausweg – zumindest solange wir im System des kapitalistischen Realismus leben und Kultur als Ware verkauft wird: die Rückbesinnung auf Instrumente des Ordo­liberalismus, also einer sozialen Ausrichtung und regulatorischen Beschränkung des sogenannten freien Markts, mit einem funktionsfähigen Preissystem und der Verhinderung von Monopolen, Kartellen und anderen Formen der Marktbeherrschung. Daß man nach Instrumenten des Ordoliberalismus ruft in dem Wissen, daß diese schon eine Verbesserung der Realität bedeuten, beschreibt recht deutlich den Zustand unserer Gesellschaft, das »durchaus Scheißige« (Goethe) der Welt, in der wir leben.

In unserem konkreten Beispiel würden bereits simple Formen von Verbraucherschutz weiterhelfen: Ticketingfirmen sollte es nicht erlaubt sein, mehr als einen bestimmten Prozentsatz auf den ursprünglichen Ticketpreis aufzuschlagen – ich denke an zehn Prozent (also an die Höhe der bereits bestehenden Vorverkaufsgebühr). Zusätzliche Gebühren sollten grundsätzlich verboten werden, und nur der aufgedruckte Ticketpreis sollte beim Kauf bezahlt werden müssen. Außerdem sollte der Ticketzweitmarkt gesetzlich reguliert werden, indem er nur noch von denjenigen selbst betrieben werden darf, die die Original-Tickets verkaufen. 31 Hier sollten nur Preisaufschläge von maximal weiteren zehn Prozent auf den aufgedruckten Preis erlaubt sein. Ähnliche Regulierungen gibt es bereits in Ländern wie Frankreich, England, Belgien und natürlich im Musterland des Verbraucherschutzes, den USA, wo derartige Gesetze Verbraucher*innen in die Lage versetzen, die Ticketingfirmen bei Verstößen zu verklagen. So hat etwa ein US-Konzertgänger eine Sammelklage gegen Ticketmaster und Live Nation wegen »ungesetzlicher und unfairer Geschäftspraktiken« beim kalifornischen Bundesgericht eingereicht. 32

Darüber hinaus sollten Konzerthäuser und Veranstaltungsorte, die sich in der öffentlichen Hand befinden oder die nennenswerte Subventionen erhalten, grundsätzlich ver­pflichtet werden, eine nicht-kommerzielle Ticketing-Platt­form zu nutzen. Es ist nicht einzusehen, daß sich Konzert- und Opernhäuser der Ticketing-Plattformen kommerzieller Anbieter bedienen und damit den Ticketing-Konzernen zusätzliche Profite und weitere Kundendaten verschaffen. Sinn­voll wäre es, eine öffentliche, nicht-kommerzielle Ti­ cketing-Plattform zu installieren, auf der diese Eintrittskarten mit einer geringen Gebühr von zum Beispiel 1 Euro, aber ohne weitere Aufschläge angeboten werden. Die Nutzung eines derartigen öffentlichen »Kultur-Ticket-Portals« könnte und sollte auch soziokulturellen Zentren und Clubs zur Verfügung gestellt werden, damit möglichst vielen Konzertbesucher*innen die Eintrittskarten kostengünstig und ohne die Raubrittermethoden der Ticket-Kraken angeboten werden können.

Doch es gibt auch noch andere Trends im Ticketing, neben »Secondary Platforms« und »Dynamic Pricing«. Etwas ganz Besonderes hat sich die Country-Pop-Sängerin Taylor Swift in Zusammenarbeit mit Ticketmaster ausgedacht: ein sogenanntes »Boost«-System unter dem Namen »Verified Fan«. Swift hat eine virtuelle Schlange am virtuellen Ticketschalter kreiert, und die Fans können durch Einkäufe von Taylor-Swift-Merchandise-Produkten ihren Platz in der Schlange verbessern. Zunächst müssen die Fans ihre Mobil-Tele­fon­nummer preisgeben – Big Data eben. Und dann sollen die Fans »Boosts« sammeln, eine Art Fleißpunkte, die sie allerdings zum Teil teuer bezahlen müssen. Manche Fleißaufgaben sind noch einfach: »Schau dir das neue Taylor Swift-Video an!«, »Fotografiere und poste einen UPS-Truck mit Taylor-Swift-Aufdruck!«, oder »Melde dich beim Newsletter an«. Um in der Warteschlange für das begehrte Ticket nicht abzurutschen, wird den Fans empfohlen, derartige Tätigkeiten möglichst täglich durchzuführen. Aber so richtig bringen die kostenlosen Fleißarbeiten nichts. Um vordere Plätze in der virtuellen Schlange zu erreichen, müssen Aufgaben erfüllt werden, die mit »High Boost« gekennzeichnet sind. Und die kosten: Man kann das neue Album vorbestellen. Und eben Merchandising-Produkte ordern, etwa einen Schlangenring aus angeblich 24-karätigem Gold für 60 Dol­lar, oder ein T-Shirt für sage und schreibe 45 Dollar.33 Wobei mit all diesen Käufen nicht einmal ein Ticket garantiert ist, sondern lediglich ein Platz weit vorne in der Warteschlange. Und lediglich als ein »verifizierter Fan« kann man überhaupt ein Ticket für ein Taylor-Swift-Konzert erwerben. Die Fans werden von ihrem Idol nicht nur zur Kasse gebeten, sondern geradezu über den Tisch gezogen.

Das Perfide im Fall Taylor Swift: Die meisten Stadien waren wenige Wochen vor den Auftritten nicht einmal ausverkauft, da die Künstlerin und ihr Management eben das Konzept des »High Pricing« bevorzugen. Der »freie Markt« wird ad absurdum geführt. Aber die Künstlerin hat dank des Verkaufs ihrer Merchandising-Produkte trotzdem prächtig verdient.

Daß Taylor Swift ihre Fans nicht nur als willige Opfer betrachtet, sondern geradezu als Feinde, zeigt die von ihr gewählte Rasterfahndung im Konzert. Die Künstlerin setzt auf biometrische Überwachung. Wie der Rolling Stone berichtet, haben Kameras die Besucher*innen eines Konzerts im Rose Bowl Stadion im kalifornischen Pasadena mit seinen 90 000 Plätzen ohne deren Einwilligung gefilmt und die Aufnahmen mit einer Datenbank abgeglichen. Das Material sei dann quer durch die USA zu einem »Kommandoposten« in Nashville übertragen worden, um es dort mit einer Datenbank abzugleichen, in der Hunderte von Stalkern gespeichert sind.34 Nach deutschen Datenschutzgesetzen wäre ein derartiges Vorgehen illegal, in den USA dagegen ist es legal, weil Konzerte eben als private Veranstaltungen gelten. Man mag Verständnis dafür haben, dass Taylor Swift sich gegen ihre zahlreichen Stalker wehren möchte, doch das Mittel, zu dem sie greift, wirft zahlreiche Fragen auf: Wurden die Fans informiert? Natürlich nicht. Kamen die Kameras auch bei anderen Konzerten zum Einsatz? Es ist anzunehmen. Wer hat die Aufnahmen in Auftrag gegeben, und wie lange bleiben sie gespeichert? Wir wissen es nicht, eine Stellungnahme der Künstlerin oder ihres Managements gibt es nicht.

Diese und ähnliche Fragen stellen sich nicht nur im Zusammenhang mit Taylor Swift, denn auf immer mehr Konzerten oder auch Sportveranstaltungen sind Kameras installiert, die die Besucher*innen filmen. Die Aufnahmen können theoretisch verknüpft und verkauft werden. Theoretisch? Wenn uns die digitale Wirtschaft eins gelehrt hat, dann dies: Was theoretisch möglich ist, wird früher oder später auch praktisch umgesetzt. Derartige Filmaufnahmen von Konzerten machen die Besucher*innen zu gläsernen Fans, »sie geben Aufschluß über Musikgeschmack, Freundeskreise, Konsumvorlieben und weitere Merkmale, für die werbetreibende Unternehmen viel Geld bezahlen würden«, so Simon Hurtz in der Süddeutschen Zeitung.35

Eng mit dem Konzept des »High Pricing« hängt das sogenannte »Slow Ticketing« zusammen. Hier geht es darum, sehr hohe Eintrittspreise durchzusetzen, selbst wenn ein Konzert deswegen nicht ausverkauft sein sollte. Dafür hat man ja höhere Einnahmen aus dem Kartenverkauf.

Nehmen wir ein simples Beispiel: Gehen wir von einem Saal mit 1000 Plätzen aus. Gehen wir außerdem von einem Eintrittspreis von 50 Euro aus, dann ergibt sich bei einem ausverkauften Saal eine Bruttoeinnahme von 50 000 Euro. Verkaufen sich nur 800 Plätze, die statt dessen aber 75 Euro kosten, haben wir schon eine Bruttoeinnahme von 60 000 Euro. Und bei den Künstlern, die das »Slow Ticketing« be­vorzugen, reden wir von Ticketpreisen in ganz anderen Di­mensionen: Die regulären Tickets für die beiden Deutsch­land-Konzerte von Jay-Z und Beyoncé 2018 kosteten zwischen 69 und 179 Euro, wollte man allerdings wenigstens am Rand vor der Bühne (»Front of Stage«) stehen, mußte man 285 Euro ausgeben, und außerdem waren verschiedene »VIP-Packages« im Angebot (bis zu 889 Euro). Alles natürlich zuzüglich der allseits bekannten und beliebten Gebühren! Der Vorteil des Slow Ticketing mit hohen Eintrittspreisen: Die Fans können jederzeit Tickets kaufen, denn das Konzert wird nicht so schnell ausverkauft sein. Somit sind natürlich auch die Secondary-Plattformen ausgeschaltet (hier sind die überhöhten Ticketpreise schließlich bereits im Originalticket enthalten). In der Konzertbranche wird das Modell deshalb auch als eine Möglichkeit gefeiert, das Geld in die Hände der Künstler statt in die der »Scalper« vom Schwarz- und Zweitmarkt zu geben. Und Louis Messina (von der Messina Touring Group, die zu AEG gehört, dem Veranstalter der US-Stadion-Tour von Taylor Swift) bringt noch einen anderen Punkt zur Sprache: Die Fans seien sowieso schon den höheren Preis gewohnt, den sie für Karten auf der Secondary-Plattform zahlen müßten, da sei es doch nur logisch, wenn die Künstler dieses Geld selbst einnehmen wollten.36

Jeff Nickler vom knapp gut 19 000 Plätze fassenden BOK Center in Tulsa, Oklahoma, versucht gar, hohe Ticketpreise mit dem Stolz der Bevölkerung zu begründen: Einzelne »Märkte« wollten beweisen, daß ihre Arenen »seven-figure grosses«, also siebenstellige Umsatzzahlen, liefern können. »Wir wollen den Tourveranstaltern zeigen, daß die Bürger von Tulsa Live-Musik schätzen und bereit sind, ihre Veranstaltungshallen mit aggressiven Ticketpreisen zu unterstützen«, so die etwas verquere Logik des Hallenbetreibers, der 2018 für zwei Auftritte des laut Wikipedia »neo-tradi­tio­nel­len« Country-Superstars George Strait mit 5 Millionen US-Dollar etliche Umsatz- und Zuschauerrekorde seiner Halle gebrochen hat. Der durchschnittliche Ticketpreis muß nach Adam Riese bei über 130 Dollar gelegen haben. Die Bürger von Tulsa werden mächtig stolz sein. Wenn auch gewiß nicht alle, denn auch in Tulsa dürfte es etliche Menschen geben, die nicht mal eben 130 Dollar für eine Konzertkarte ausgeben können.

Doch der Konzertmarkt ist längst segregiert und richtet sich vornehmlich an Besserverdienende und Reiche, in den USA wie in Europa. Ein Vergleich der Stadionkonzerte der Rolling Stones 1982 und 2018 mag da aufschlußreich sein.

Die Stones hatten seit 1976 nicht mehr in Deutschland gespielt, und so wurde der Auftritt im Münchner Olympiastadion Mitte Juni 1982 mein erstes Stones-Konzert – und ein unvergeßliches Konzerterlebnis! 40 D-Mark haben die Kar­ten gekostet. 38 DM »zzgl. DM 2.- Vorverkaufsgebühr«, so stand es auf der Eintrittskarte. Die VVK-Gebühr betrug also gerade einmal 5,26 Prozent. Und die Stones haben das Münchner Olympiastadion mit jeweils 73 000 Tickets gleich zweimal hintereinander ausverkauft.


Mick Jagger hatte im ZDF, im heute-journal, geschäftsmäßig die Tourneedaten verkünden dürfen, »so, als verläse Josef Stingl (der damalige Präsident der damaligen Bundesanstalt für Arbeit) die neuesten Arbeitsmarktdaten«, wie der Spiegel berichtete. Schon damals standen »die Medien bei Fuß« und ließen »sich Journalisten von Tournee-Offizieren herumkommandieren«.37 Die Deutschland-Tournee der Stones machte einen Umsatz von etwa 19 Millionen D-Mark, wovon die Stones (laut Spiegel) »geschätzt 60 bis 90 Prozent einsacken« (ziemlicher Unterschied, ob 60 oder 90 Prozent, würde ich sagen, aber darauf kam es offenbar nicht so sehr an).

Während die US-Tour der Rolling Stones 1981 noch von einem Parfümhersteller gesponsert wurde, kam die »Millionensumme« für den Sponsor der Deutschland-Daten von der japanischen TDK, einem der führenden Leerkassettenhersteller der damaligen Zeit (was EMI-Chef Wilfried Jung, auf dessen Label die Alben der Stones erschienen, zum Seufzer »Jetzt sehen wir ziemlich dumm aus« veranlaßte, denn damals kämpften die Plattenfirmen nicht gegen das böse Internet, sondern gegen die bösen Leerkassetten, die ihnen angeblich beträchtliche Umsatzeinbußen bescherten). Der Öffentlichkeitsreferent der Erzdiözese München-Frei­sing, deren Erzbischof bis Jahresanfang 1982 noch ein gewisser Kardinal Josef Aloisius Ratzinger war, der spätere Papst Benedikt XVI., hatte sich darüber empört, daß die Stones just am Fronleichnamstag in München auftreten durften. Aber nun war es soweit: An einem heißen Donnerstag lungerten wir zunächst im Münchner Olympiapark auf dem nahegelegenen Schuttberg herum, weil wir uns Peter Maffay, der als erster Supportact gebucht worden war, lieber sparen wollten. Das proppenvolle Olympiastadion mit dem geschwungenen Zeltdach sah toll aus. Es folgte die J. Geils Band, und wir machten uns auf den Weg ins Stadion, wo wir leider nur Plätze in der »Bayern-Kurve«, also im Sitzplatzbereich gegenüber der Bühne, ergattert hatten. Als dann ein heftiges Sommergewitter über dem Olympiastadion tobte, waren wir allerdings froh, unter dem Dach zu sitzen, wohin sich aus Sicherheitsgründen auch die Leute mit den Innenraum-Karten (die ebenfalls 40 DM gekostet hatten, alle Tickets hatten den gleichen Preis) zurückziehen durften. Natürlich wollten wir so nahe an die Bühne wie möglich gelangen und hatten schon verschiedene Strategien entworfen, trotz unserer Tribünenkarten in den Innenraum zu kommen. Die Öffnung der Tribüne wegen des Gewitters erwies sich als Glückslos, denn ich wußte, welches Stück die Stones als Auftrittsmusik ausgewählt hatten: Duke Ellingtons »Take The A Train«. Und, zweiter Vorteil: Ich kannte als jemand, der sich auch für Jazzmusik interessierte, dieses Stück ziemlich genau. Kaum waren die ersten Töne des Ellington-Tracks zu hören, stürmten wir daher los. Irgend jemand wollte noch kontrollieren, ob wir Innenraum-Tickets hatten, doch solche Personen hat man damals einfach überrannt, und schon standen wir etwa zehn Meter vor der Bühne, die sich in der 1860er-Kurve befand. Ganze zehn Meter von Mick Jagger entfernt, der eine rot-weiß-gestreifte hautenge Hose und ein enges, rotes Muskelshirt trug, das er im Lauf der Show hochrollte, wie es chinesische Männer bei Sommerhitze zu tun pflegen, nur daß man bei ihnen dann einen Bauch sieht. Mick sang und schlug seine Kapriolen, und aus unserer Sicht rechts von ihm, noch näher, stand Keith Richards, der zunächst noch eine Leopardenmuster-Jacke anhatte, die er später ablegte. Dann stand er in einem weißen Unterhemd mit riesigem Ausschnitt und einer aufgedruckten bunten Comicfigur da, und wie er seine Gitarre spielte, war so etwas von cool. Und wir waren so nah dran! Es war großartig.

Das Konzert begann mit »Under My Thumb«, schon als dritter Song kam »Let’s Spend The Night Together«, in der Konzertmitte brachten die Stones eine unglaubliche Version von »Time Is On My Side«, das für uns Twens, die in den aufrührerischen frühen achtziger Jahren alternative Lebensstile ausprobierten und gewillt waren, alles anders zu machen als unsere Eltern, eine besondere Bedeutung hatte, und ich kann bis heute noch jede Sekunde davon erinnern, das Tempo, die wiederholten »Time! Time! Time«-Schreie Jaggers und dann das weit hergeholte, befreiende »... is on my side«. Wir hörten »Let It Bleed« und schließlich ein furioses Finale mit »Honky Tonk Woman«, »Brown Sugar«, »Start Me Up« und »Jumpin’ Jack Flash«. Die Zugabe war, natürlich, »Satisfaction«.

Was mir allerdings ebenfalls als besonders in Erinnerung blieb bei meinem ersten Stadionkonzert, war das Gemeinschaftsgefühl. Das »Time Is On My Side« galt uns allen gleichermaßen, es einte uns, diese 73 000 Menschen, die da begeistert im Münchner Olympiastadion standen, und es war klar, daß wir alle die Nacht zusammen verbringen wollten, daß wir alle nicht zu stoppen waren, niemals aufhören würden. Und ja, es galt für uns alle, daß wir nur Verachtung für den Mann im Radio und den Mann im Fernsehen übrig hatten, diese Typen, die uns nur nutzlose Informationen lieferten und die nicht einmal unsere Zigarettenmarke rauchten: We can’t get no satisfaction, we can’t get no, we can’t get no...

Elias Canetti hat in seinem Buch Masse und Macht über die Bedingungen derartiger Gemeinschaftsgefühle geschrieben zu einer Zeit, als es noch keine Popkultur gab. Es geht darum, daß man als Teil einer derartigen Gemeinschaft auch Teil einer Art Über-Person werden kann, also Teil von etwas, das größer ist als man selber, das einen aber gleichzeitig auch zu etwas Größerem macht als der, der man sonst ist. Das haben Popkonzerte und Stadion-Fußball gemeinsam. Mit Blick auf den Fußball schreibt Gunter Gebauer: »In der Gemeinschaft schließen sich die vielen Mitglieder zu einem großen Wesen zusammen, das mehr, höher und mächtiger ist als die einzelnen Subjekte. Wer innerhalb der Grenzen der Gemeinschaft lebt, nimmt Platz in einer Über-Person ein, die er gemeinsam mit den anderen bildet. Dieses überpersönliche Gebilde ist die eine entscheidende Instanz des religiösen Lebens im Fußball und in der Pop-Kultur«.38

Eine Bedingung dieses Gefühls in dem Rolling-Stones-Konzert war aber auch, daß wir in diesem Moment, in diesen gut zwei Stunden des Konzerts gleich waren (beziehungsweise uns als Gleiche fühlten). Wir hatten die gleichen Chancen, möglichst nahe an die Bühne heranzukommen (auch wenn das natürlich nicht alle gleichermaßen realisieren konnten), wir hatten gleich viel für unsere Ti­ckets bezahlt, und wir waren gleichermaßen davon überzeugt, daß die Zeit auf unserer Seite war.

Doch natürlich arbeitete die Zeit gegen uns. Als die Rolling Stones 2006, kurz nach der Fußball-Weltmeisterschaft, im Berliner Olympiastadion auftraten, fuhren sie eine gigantische Produktion auf. Zwischendurch war sogar ein an Leni Riefenstahl erinnernder und an just diesem Ort besonders unappetitlich wirkender Lichtdom zu sehen, während die Stones in einer Art Karnevalwagen mitten durchs Stadion pflügten und keine Karamellen, sondern ihre Hits ins Publikum warfen. Die Tournee wurde von American Express gesponsert, für deren Kunden es ein exklusives Angebot gab. Die Tickets kosteten zwischen 76 und 190 Euro, und hundert Fans erhielten die Gelegenheit, die Show direkt von einem Gerüst über der Bühne zu verfolgen. Diese besonderen Tickets wurden unter American-Express-Kunden ausgelost, die bereit waren, dafür eine beträchtliche Stange Geld zu berappen.

Und 2018 wurde das Rad noch einmal kräftig weitergedreht: Die günstigsten Tickets für das Konzert im Berliner Olympiastadion kosteten mittlerweile 98 Euro (für einen Stehplatz im hinteren Innenraum des Stadions), die teuersten regulären Karten waren für 799 Euro zu haben, jeweils plus Gebühren. Die teuersten Tickets galten für Stehplätze im vorderen Bereich des Innenraums, rechts und links vor der ins Publikum hineinragenden separaten Bühne – also just für die Plätze, die wir 1982 in München für 38 D-Mark erobert hatten. Denn die Gleichheit der Konzertfans ist mittlerweile aufgehoben. Vor der Bühne stehen nur noch die Wohlhabenden, die mal eben 799 Euro für ein Ticket ausgeben können (und dazu bereit sind): »We few, we happy few, we band of brothers«, wie es in Shakespeares Heinrich V. heißt. Das ist heutzutage die Bruderschaft der Wohlhabenden und Reichen.

Natürlich war das Versprechen der Rock- und Popmusik, dem wir als Teenager und Twens so begeistert Glauben geschenkt hatten, immer schon fragwürdig. Im Lauf der Jahrzehnte wurde Rock- und Popmusik denn auch immer mehr zu einem Teil des kulturellen Kapitals. (Man denke etwa an The Clash, deren »Should I Stay or Should I Go« von 1981 im Jahr 1991 als einer der Songs für eine Werbekampagne des Jeans-Herstellers Levi’s mißbraucht wurde.)

Wir wissen von Pierre Bourdieu, daß ein ererbter Familienname ebenso symbolisches Kapital darstellen kann wie bestimmte Markennamen oder die Zugehörigkeit zu exklusiven Clubs. Derartige Clubs sind heute allerdings nicht mehr nur solche, bei denen man eine teure Jahresmitgliedschaft erwirbt (wie zum Beispiel das Soho House in London oder Berlin, das »Menschen aus der Kreativszene ein zweites Zuhause bieten« möchte),39 sondern auch »temporäre« Clubs wie derjenige, der die Menschen, die sich das leisten können, direkt vor der Bühne der Rolling Stones im Berliner Olympiastadion oder andernorts versammelt und vereint. Die Wohlhabenden und die Reichen leben in ihrer eigenen Welt. Sie wohnen in Gated Communities, ihre Kinder gehen in Privatschulen, wo sie mit »SUV« genannten Panzern bis vor die Tür gefahren werden. Und wenn diese Leute in Konzerte gehen wollen, verlangt es sie selbstredend ebenfalls danach, unter sich zu bleiben. Bei ihren Eltern und Großeltern war das noch selbstverständlich, die gingen sowieso nur in Klassik-Konzerte oder in die Oper, da war man von Haus aus mehr oder minder unter sich. Beim Rockkonzert muß man sich die Gated Community erst erschaffen und erkaufen. »Die Bourgeoisie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst«, schreibt Marx.

Bourdieu erklärt mit der »Wechselwirkung zweier Räume, dem der sozio-ökonomischen Bedingungen und dem der Lebensstile«, warum »Geschmack als bevorzugtes Merkmal von ›Klasse‹« dient und entsprechend »automatisch Dis­tinktionsgewinne abwirft«.40 Der »kulturelle Adel« unserer Zeit bedient sich in Teilen anderer Methoden der Aneignung von Kunst und Kultur, die aber ebenso wie jene des 17. Jahrhunderts stark ökonomisch geprägt sind. Und zum kulturellen Disktinktionsvorteil gehört längst nicht mehr nur die klassische Musik, sondern ebenso Rock, Pop und teilweise sogar Hip-Hop, denn eines der Hauptmerkmale des Kapitalismus ist die Nutzung der Ausdifferenzierung (worauf bereits Fernand Braudel hingewiesen hat). Und wo könnten wir das besser studieren, als im Geschäft mit der Musik: Die Fragmentierung des Musikgeschäfts, die Perfektionierung eines Systems von Unterschieden, von Nischen ist eine geradezu idealtypische Nutzung der Ausdifferenzierung. Oder in den Worten des Soziologen Arnaud Esquerre: »Für den Kapitalismus ist das Wichtigste, Differenzen zu schaffen. Die Hauptressource der Bereicherungsökonomie besteht in der Herstellung und Neugestaltung von Differenzen und Identitäten.«41

Das konnte man im Sommer 2018 auf einem anderen Konzert im Berliner Olympiastadion beobachten, als Be­yon­cé und ihr Ehemann Jay-Z, das erfolgreichste (und als erstes Musiker-Milliardärs-Paar des Planeten seit 2014 auch das reichste) Paar im internationalen Showbusiness, mit ihrer »On The Run II«-Tour gastierten. Das Stadion schien nicht ganz ausverkauft (Slow Ticketing), aber es war sehr voll. Und es waren etliche besondere Ticket-Pakete im Verkauf: Neben den üblichen »Gold VIP« und »Silber VIP Fans Packages« für 320 beziehungsweise 245 Euro (einfach ein normaler Sitzplatz auf dem Tribünen-Oval, plus »ein Merchandise-Geschenk als Andenken«) wurde ein »Runway Early Entry Package« für 285 Euro angeboten (Stehplatz »Front of Stage«, aber, wie viele Fans vor Ort erfahren mußten, keineswegs zentral, sondern nur seitlich außen; sowie ein Foto auf dem roten Teppich, der außerhalb des Stadions herumlag und den gewöhnliche Ticketkäufer wie ich auf dem Weg zu ihrem Platz mühsam umlaufen mußten), eine »Club Carter VIP Experience« für schlappe 520 Euro (ein Stehplatz mittig vor der Bühne »mit viel Platz zum Tanzen« und einer »eigenen Bar mit Bier, Wein und anderen Getränken«, die allerdings nicht im Preis inbegriffen waren, sowie Merch-»Geschenk«) und schließlich, Höhepunkt des Konzertkonsums, ein sogenanntes »VIP Riser Experience Package« für 899 Euro plus Gebühren. Mit diesem »VIP Riser Package« konnte das Konzert »von einer erhöhten Plattform betrachtet werden«, und die Fans konnten sich »an einer eigenen Bar mit Bier, Wein und Softdrinks ohne ewig langes Anstehen versorgen« (was heißt, daß »ewig langes Anstehen« für normale Fans offensichtlich dazugehört). In dem Preis von 899 Euro waren sogar zwei »Frei«-Getränke enthalten sowie eine Backstage-Tour vor dem Konzert sowie »entspanntes Merchandise-Shop­ping und ein spezielles Geschenk«. Und dann sahen wir von unseren »einfachen« Plätzen im hinteren Seitentribünenbereich, die »nur« 178 Euros gekostet hatten, wie die »VIP Riser Experience«-Gäste im Gang zwischen Plebs und »Club Carter VIP Experience« »ewig lang« und eher nicht »entspannt« bei einem muskulösen Roadie anstehen mußten, um ihr spezielles Geschenk abzuholen. Vor allem aber sahen wir, daß praktisch die Hälfte des gesamten Innenraums des Stadions für Menschen reserviert war, die mindestens 285 Euro (wenn sie am Rand stehen wollten) beziehungsweise 520 Euro aufwärts (wenn sie wirklich zentral stehen wollten auf Plätzen, wie ich sie bei meinem Rolling Stones-Konzert 1982 hatte) für ihre Mitgliedschaft im Club des »kulturellen Adels« zu zahlen bereit waren. Die sympathischen jungen Migranten-Frauen, die wir auf unseren »billigen« Plätzen im Oval des Stadions kennenlernten und die monatelang für ihre Ticket gespart hatten, waren zwar auch irgendwie dabei, aber definitiv nicht Mitglied der DGKK, der Distinktions-Gemeinschaft »kulturelles Kapital«.

Segregration makes the money! Für die weltweit 48 Sta­dionkonzerte der Beyoncé-Jay-Z-Tour (davon 18 in Europa) vom 6. Juni bis 4. Oktober 2018 wurden 2,18 Millionen Tickets verkauft. Die Tournee spielte 253,5 Millionen US-Dollar ein, pro Abend also im Schnitt 5,28 Millionen Dollar, und wurde von Live Nation veranstaltet.42

Die 28 Konzerte der Europatournee der Rolling Stones 2017/18 erzielten einen noch höheren Umsatz pro Konzert, nämlich 8,49 Millionen Dollar pro Show. Insgesamt betrug der Umsatz der Europadaten 237,8 Millionen Dollar. Die Rolling Stones-Welttour wurde von AEG in Kooperation mit der Firmentochter Concerts West veranstaltet. Für die Deutschland-Daten zeichnete die CTS Eventim-Tochter FKP Scorpio verantwortlich (2017 noch in Kooperation mit der DEAG).

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