Kitabı oku: «Das Buch der Bücher», sayfa 2

Yazı tipi:

„Wie weit ist es denn noch?“, fragte ich.

„Noch ein paar Tage. Wir sind ja erst in Tschaghtscharan. Der schwierigste Teil der Strecke liegt noch vor uns.“ Damit ließ er die Plane herunter. Ich stand wieder im Dunkeln, eingehüllt in den köstlichen Duft meines Kebabs.

Plötzlich saßen wir fest. Vor uns ein Laster, der wegen eines Steinschlags nicht weiterkam, wie ich kurz darauf von Karim erfuhr. Wir hatten das Flusstal schon vor längerer Zeit verlassen. Seitdem hatte sich die Piste in Serpentinen hinauf und hinunter durch schroffe, baumlose Berge gewunden, immer wieder an schwindelerregenden Abgründen entlang.

Hinter uns stauten sich bald weitere Fahrzeuge. Als die Fahrer endlich die Strecke freigeräumt hatten, fuhren wir in Kolonne. Für mich bedeutete das: Ich durfte auch bei den seltenen kurzen Zwischenstopps mein finsteres Versteck nicht mehr verlassen. Karim kam dann und tat so, als müsse er nach der Ladung sehen oder die Trinkflaschen für sich und seinen Boss auffüllen, um mir unauffällig in Zeitungspapier eingewickelte Brotfladen oder getrocknete Feigen zu hinterlassen. Nicht einmal meinen Sehschlitz konnte ich mehr nutzen. Jede ungewöhnliche Bewegung der Plane hätte den Männern im Laster hinter mir auffallen können.

Wir fuhren nun Tag und Nacht durch. Offensichtlich wechselten sich die Fahrer und ihre Beifahrer ab. Auch Karim übernahm zeitweise das Steuer, wie er mir mitteilte. Wahrscheinlich hatte ich ihn wegen seines weichen, runden Mogolengesichts jünger geschätzt als er war.

Ich verlor endgültig jegliches Zeitgefühl und schließlich auch jedes Gefühl für meinen durchgerüttelten Körper. Manchmal schien jede Muskelfaser und jeder Knochen zu schmerzen, dann wieder musste ich in dem harten Nest aus Reifen, das ich mir gebaut hatte, meine Position immer wieder in kurzen Abständen ändern, um überhaupt noch etwas zu spüren. Manchmal glaubte ich hellwach zu sein, nur um im nächsten Moment aus einem wirren Traum zu erwachen.

Nach etwa zweieinhalb Tagen überquerten wir einen besonders hohen Pass. Für mehrere Stunden wurde es eiskalt. Anschließend ging es eine längere Strecke steil bergab. Plötzlich begann unser Laster zu schlingern und blieb schließlich stehen. Es war wie eine Erlösung. Kein Gerüttel mehr, kein Motorenlärm, kein Warten auf den nächsten Stoß, bei dem man blitzschnell Halt suchen musste. Ich hörte die Männer draußen werkeln und fluchen. Offenbar eine Reifenpanne. Ich versuchte krampfhaft, nicht in den Schlaf zu fallen, aus Angst, dass ich schnarchen könnte und die mich draußen hören würden.

Ich wurde erst wach, als wir bereits wieder fuhren. Es ging weiter rüttelnd und schüttelnd bergab. Ich lag nur noch teilnahmslos zwischen den Reifen. Selbst dass es allmählich wärmer wurde, war mir gleichgültig. Es kam mir vor, als wäre ich schon seit Wochen unterwegs, und immer noch war ich in Afghanistan. Dass ich in wenigen Wochen in Italien sein würde, hatte Onkel Najib offenbar nur gesagt, um mich möglichst schnell und problemlos loszuwerden. Ob oder wann mich dieser Laster über die Grenze in den Iran bringen würde, machte letztlich auch keinen Unterschied mehr. Dort würden die Probleme ja wohl erst richtig beginnen. Auf einmal erschien die Lage mir aussichtslos. Nur mit Mühe konnte ich mich noch dazu bringen, weiter den kleinen Blechkanister zu benutzen, den Karim mir nach hinten gebracht hatte, statt einfach in die Ecke zu pinkeln. Es war ja doch alles egal.

„Aussteigen!“ Ich wusste erst gar nicht, wo ich war. Schwere Stiefel knallten auf Pflaster. „Los, los!“ Das kam von vorne. Eine Kontrolle!

Die Türen des Führerhauses wurden mit so einem Schwung zugeworfen, dass der ganze Laster erzitterte. Vielleicht wollte Dschingis sicherstellen, dass auch ich wach war. Hektisch tastete ich nach meinem Rucksack. Der musste hier irgendwo dazwischengerutscht sein. Endlich bekam ich einen Riemen zu fassen.

Die Stiefel kamen näher. Jemand schlug von außen an die Plane. „Aufmachen!“ Ich turnte über Reifen und Kisten Richtung Führerhaus.

„Beeilung! Wir haben nicht ewig Zeit.“

„Komm ja schon.“ Das war jetzt Dschingis Khans laute Stimme. Offenbar wollte er Zeit gewinnen. Trotzdem war ich gerade erst auf die vorderste Reihe von Kartons geklettert, als sich schon jemand an der Plane hinten zu schaffen machte.

Vorsichtig ließ ich den Rucksack in die Lücke hinter den Kartons hinunter und legte mich quer über die Kartons auf den Bauch, um mit den Füßen voran in mein Versteck hinterherzurutschen. Schon krachte die Ladeklappe nach unten. Helles Licht fiel in den Laderaum.

Ich plumpste hinunter. Ich musste in die Knie gehen, um ganz hinter den Kartons zu verschwinden. Es war viel enger, als ich gedacht hatte. Ich versuchte, mich möglichst geräuschlos zurechtzuruckeln. Ich merkte sofort, in dieser hockenden Position würde ich es nicht lange aushalten können.

„Ladung?“

„Ersatzteile, Reifen, Motoröl – für zwei Autowerkstätten in Herat“, hörte ich Dschingis Khan antworten.

„Und das hier?“

„Generatoren. Zwei Stück. Für die Polizei in Herat.“

Beim Wort Polizei zuckte ich unwillkürlich zusammen. Dann aber verstand ich. Deshalb also versperrten diese zwei großen Holzkisten ganz vorne den Blick und den Weg in den Laderaum. Eine wichtige Lieferung für die Polizei, die möglichst vom Rest der Ladung ablenken sollte. Ein raffinierter Hund, unser Dschingis Khan.

„Aufmachen! Und ich will die Papiere sehen!“ So leicht ließen die sich also doch nicht ablenken. Ich hörte, wie der Fahrer nach vorne spurtete. Jetzt hatte er es auf einmal besonders eilig. Ich verstand auch gleich, warum. Jemand wuchtete sich schon hinten auf die Ladefläche hoch. Ich hörte die schweren Stiefel auf dem Boden kratzen.

Einen Moment blieb es still. Dann krampfte sich alles in mir zusammen. Ein Lichtkegel wanderte langsam über die Bretterwand über mir. Der Soldat suchte offenbar mit einer Taschenlampe systematisch den Laderaum ab. Was, wenn ihm mein ‚Schlafnest‘ ins Auge fiel. Wie ein zufällig verrutschter Stapel Autoreifen sah das wohl nicht aus. Ich hielt den Atem an.

Wieder ein lautes Kratzen. Schob der Soldat etwa die beiden Holzkisten auseinander?

Ich hörte, wie die Tür des Führerhauses zugeschlagen wurde und Dschingis Khan zurückgespurtet kam. „Hier die Papiere.“

Es knarrte und quietschte. Holz splitterte. Ein Stemmeisen? Jemand knurrte und murmelte etwas. Papier raschelte.

„In Ordnung.“

Ich hoffte inständig, dass es nun endlich wieder dunkel werden würde im Laderaum. Ich kauerte so verdreht in meinem engen Versteck, dass ich nicht richtig durchatmen konnte. Der Schmerz in den Knien wurde schier unerträglich. Dschingis aber fing nun auch noch eine Unterhaltung an. Ob es etwa wieder einen Zwischenfall gegeben habe.

Zu meiner Überraschung gab der Soldat bereitwillig Auskunft. Ein Anschlag der Taliban auf einen Militärkonvoi – am Tag zuvor – direkt an der Abzweigung nach Tschesht-i Sharif.

Wie denn die Lage auf der weiteren Strecke Richtung Herat sei, fragte Dschingis weiter. Am liebsten hätte ich laut gerufen, ob sie sich nicht anderswo unterhalten könnten.

Die nächsten hundert Kilometer seien problematisch. Die sollten wir auf jeden Fall in einem Stück durchfahren und dabei immer auf der Fahrbahn bleiben. Auch keine kurzen Ausweichmanöver auf die Seitenstreifen. Die verfluchten Sprengfallen… Ich hörte, wie Dschingis Khan sich bedankte.

„Aussteigen, Laderaum öffnen!“ Das galt jetzt offenbar schon dem nächsten Laster. Mit lautem Krachen wurde unsere Ladeklappe zugeworfen. Das Geräusch der einrastenden Verschlusshaken klang wie Musik in meinen Ohren. Dann fiel die Plane zu. Ich wartete nicht einmal ab, bis sie fertig vertäut war. Trotzdem hatte ich mich erst aus meinem Versteck herausgearbeitet, als unser Laster schon anruckte.

Unter uns lag, voll im Sonnenglanz, ein weites, grünes Tal. In der Talmitte durchströmte ein Fluss in zahlreichen Windungen, Nebenarmen und dünnen Verästelungen ein breites, versandetes Bett. Ich musste ziemlich lange geschlafen haben. Ab dem Kontrollpunkt war die Straße wieder geteert gewesen und das Gerüttel hatte aufgehört. Unten lagen verstreut neben einzelnen Höfen auch größere Dörfer. Das Tal schien sehr fruchtbar zu sein. Meine Zuversicht wuchs, dass ich am Abend ausreichend zu essen bekommen würde. Ich machte mich über mein letztes Stück Fladenbrot und die verbliebenen Datteln her, die ich mir vorsorglich aufgespart hatte. Ob es an der Mittagssonne lag oder daran, dass wir tiefere Lagen erreicht hatten, jedenfalls wurde es bald so warm bei mir in dem finsteren Laderaum, dass ich meine gefütterte Jacke ausziehen und mir mein Nest zwischen den Reifen etwas bequemer auspolstern konnte.

Ein lautes Rauschen. Wir standen. Ein Luftzug streichelte mein Gesicht. Fahles Licht fiel auf die Kisten und Reifenstapel ringsum. Die Plane vor dem Einstieg stand halb offen!

Hastig rappelte ich mich hoch. Draußen wurde es schon dunkel. Als ich mich gerade zwischen den Kisten ganz nach vorne durchzwängen wollte, erschien ein Kopf über der Laderampe.

„Nur keine Angst. Hier sind wir sicher“, hörte ich Karim sagen.

„Wo sind wir?“, fragte ich.

„Dies ist das Dorf meiner Familie. Hier übernachten wir. Und bis Herat sind es morgen nur noch drei bis vier Stunden.“

Kurz vor dem Ziel und endlich mal wieder in einem Haus schlafen. Auf einer ebenen Unterlage, nach einem warmen Essen und ohne Sorge vor einer plötzlichen Kontrolle – oder gar Sprengfallen. Meine aufwallende Freude wurde aber sofort wieder erstickt.

„Der Laster steht hier am Dorfrand, hinter dem Haus meines Onkels. Danach kommen nur noch Reisfelder und der Fluss. Aber du musst trotzdem hier drinbleiben. Wenn dich die falschen Leute sehen würden, könnte es immer noch gefährlich werden, für dich – und für meinen Onkel. Ich bring‘ dir nachher was zu essen.“

Schon war Karim wieder verschwunden. Die Plane hatte er offengelassen. Wenigstens hinaussehen durfte ich also. Ein weiter Blick über Reisfelder, geflutet und mit den ersten Setzlingen bepflanzt. Dahinter das Flussbett. Das kam mir sogar noch breiter vor als das des Kabul-Flusses. Von dort kam das Rauschen. Obwohl es nun doch keine ruhige Nacht in einem richtigen Haus geben würde, keimte zum ersten Mal seit Tagen so etwas wie Hoffnung in mir auf. Schon am nächsten Tag würden wir in Herat sein. Von dort aus war es nur noch ein Tag bis zur iranischen Grenze. Und dann, wenn alles glattginge, wäre ich wenigstens niemand mehr, nach dem man gezielt fahndete, sondern nur noch ein ganz gewöhnlicher Flüchtling …

In Herat war alles ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich hatte gedacht, ich würde zum Abschied von meiner Heimat vielleicht – im Vorbeifahren, von fern – die große Zitadelle Alexanders des Großen zu sehen bekommen, von der mir mein Großvater erzählt hatte. Oder würde vielleicht noch einmal einfach nur so über einen Basar laufen können, wie damals, als ich noch Kind war. Von Karim wusste ich, dass sein Onkel nach Ablieferung seiner Fracht neue Ware einkaufen würde, die er jenseits der Grenze in Taybad verkaufen wollte.

Bei einem letzten kurzen Stopp an einer Tankstelle vor der Stadt schärfte mir Karim ein – während er so tat, als müsste er die Plane am rückwärtigen Ende des Laderaums noch mal überprüfen – mich ab sofort immer in der Nähe meines Verstecks an der Wand zum Führerhaus aufzuhalten. Von hier ab bis in die Stadt gebe es häufig Kontrollen.

So traute ich mich ab da kein einziges Mal mehr nach hinten zum Ausstieg, wo ich einen Blick durch meinen Sehschlitz hätte werfen können. Selbst dann nicht, als wir längst mitten in der Stadt sein mussten, wie mir der Lärm des Verkehrs, das ständige Bremsen und Anfahren, die Trillerpfeifen von Verkehrspolizisten und laute Rufe von Straßenverkäufern verrieten. Die Fahrt durch diese für mich mittlerweile ungewohnte Geräuschkulisse schien kein Ende zu nehmen. Schließlich parkten wir rückwärts irgendwo ein, wie ich an dem Hin- und Hermanövrieren merkte. Als der Motor abgestellt war, fiel mir als erstes auf, dass der Straßenlärm auf einmal seltsam gedämpft klang. Dann drang der Geruch von Öl und Abgasen zu mir in den Laderaum.

Ich kletterte Richtung Ausstieg. Da machte sich auch schon jemand von außen an der Plane zu schaffen. Diese wurde mit ungewohntem Schwung zur Seite geworfen. Da stand auf einmal ein Mann, den ich noch nie gesehen hatte, und streckte seine grobe, ölverschmierte Hand nach mir aus.

„Karim“, stammelte ich.

„Komm schon“, grollte eine tiefe Bassstimme, „beeil dich!“ Der Mann machte sich nicht mal die Mühe, die Ladeklappe zu öffnen.

Nachdem es mir gelungen war, auf der Kante sitzend die Beine nach außen zu bringen, zog er mich einfach zu sich herunter. Ich befand mich in einer großen, zur Straße hin offenen Autowerkstatt. Die Türen des Führerhauses unseres Lasters standen offen, aber Dschingis und Karim waren nirgends zu sehen. Ich hatte auch keine Chance, mich nach ihnen umzusehen.

Der Mann – noch größer und breiter als Dschingis Khan und in einem fleckigen Overall – zerrte mich grob auf eine nur wenige Meter entfernte Metalltür zu. Dahinter durchquerten wir einen Innenhof, in dem zuhauf ausgediente Motoren, Getriebe und sonstige Autoteile herumlagen. Durch ein düsteres Treppenhaus gelangten wir in den ersten Stock eines Hinterhauses. Vor einer weiteren Metalltür blieben wir stehen. Der Mann schob zwei schwere Riegel zur Seite, öffnete die Tür und schob mich hindurch. Knarzend wurden die Riegel hinter mir zugeschoben und die Schritte des Mannes entfernten sich.

Ich fand mich in einem kleinen, halbdunklen Raum wieder. Nur durch ein schmales, weit oben gelegenes Fenster drang ein schwacher Lichtschein hinein – der Wiederschein der nächtlichen Stadt.

„Salaam“, tönte es leise aus einer Ecke des Raums.

Erst jetzt sah ich, dass dort jemand hockte. „Salaam“, sagte ich. „Wer bist du – wo sind wir?“

„Bist du mit dem Laster gekommen, der uns über die Grenze bringen soll?“, kam es statt einer Antwort zurück.

„Ja“, sagte ich, als ich mich von meiner Verblüffung erholt hatte. Dass auf dem letzten und entscheidenden Teil der Strecke noch ein weiterer Flüchtling dazukommen würde, hatte mir niemand gesagt. „Ich heiße übrigens Adib.“

„Abdul – aus Helmand“, sagte der andere und erhob sich. Er war kleiner als ich, aber nicht ganz so abgemagert. Auch schien er noch etwas jünger zu sein. Offensichtlich saßen wir ab jetzt im gleichen Boot. Wir umarmten uns.

„Ich hatte schon Angst, ihr kommt gar nicht mehr“, sagte mein neuer Freund. Er forderte mich auf, mich zu ihm auf die Matratze zu setzen, die in seiner Ecke auf dem Boden lag.

Wer denn der Grobian wäre, der mich hergebracht hatte und warum man uns hier überhaupt einsperrte, fragte ich.

Die hätten wohl Angst, dass wir weglaufen könnten und ihnen so ein einträgliches Geschäft entginge, meinte mein neuer Freund. Die bekämen ja viel Geld dafür, dass sie uns in den Iran brächten – aber erst dann, wenn Kadér die Bestätigung erhalten hätte, dass wir auch angekommen seien.

Kadér! Den Namen hatte mir auch Onkel Najib genannt. Den müsse ich mir unbedingt merken. Das sei der Mann, der meine Reise bis Italien organisieren würde. Dieser Mann musste unglaublich mächtig sein, wenn er von Kabul aus solche ‚Reisen‘ sogar für Flüchtlinge aus der weit entfernten Provinz Helmand arrangieren konnte …

Ja, vor dem Grobian aus der Werkstatt habe er anfangs auch Angst gehabt, gestand Abdul. Hier drin aber versorge uns dessen Frau mit Essen. Wenn man klopfe, führe sie einen auch zu einem Abort im Hinterhof. Dort stehe übrigens immer ein Eimer mit Wasser, mit dem man sich waschen könne.

Später hat Abdul mir in kurzen Sätzen seine Geschichte erzählt: Er stammte aus einem Bergdorf im Norden der Provinz Helmand. Seine Familie war arm. Ein paar Ziegen waren ihr wertvollster Besitz. Sein Vater war zweimal hintereinander nicht zum Freitagsgebet erschienen. Beim ersten Mal hatte er Kräuter in den Bergen gesammelt. Beim zweiten Mal hatte er nicht rechtzeitig von der Suche nach zwei verirrten Ziegen ins Dorf zurückkehren können. Als ihn der Mullah des Dorfes zur Rede gestellt hatte, hatte er im Zorn gesagt, vom Koran allein werde seine Familie nicht satt. Kurz darauf waren die Taliban ins Dorf gekommen und hatten seinen Vater auf den Dorfplatz geschleppt. Dort hatten sie ihn wegen Beleidigung des Koran vor den Augen aller Bewohner des Dorfes mit Knüppeln erschlagen. Auch Abdul selbst, seine Mutter und seine vier Schwestern hatten bei der Hinrichtung zusehen müssen. Noch in der Nacht war die Familie zu Verwandten nach Girishk geflüchtet. Abduls Mutter hatte befürchtet, dass man auch noch ihren Sohn entführen und ihn zwingen würde, für die Taliban in den Kampf zu ziehen. Irgendwie war es ihr gelungen, Geld für seine Flucht in den Iran aufzutreiben. Dort werde er arbeiten müssen, um dieses Geld zurückzuzahlen und das Überleben seiner Mutter und seiner Geschwister zu Hause zu sichern.

Der Junge tat mir leid. Ich sagte ihm, dass es mir ähnlich ergangen sei, seit mein Vater bei einem Anschlag der Taliban in Kabul ums Leben gekommen sei. Ich war froh, dass er nicht weiter nachfragte. „Dann sind wir ja Brüder“, sagte er nur.

Abduls Flucht bis Herat war allerdings wesentlich komfortabler gewesen als meine. Nur zwei Tage zwischen Säcken mit Rohbaumwolle auf der A01, und auf der ganzen Strecke hatte es nicht eine einzige Kontrolle gegeben.

Ich dachte zuerst, das wäre ein anderer LKW, so verändert sah es im Laderaum aus. Vorne türmten sich Säcke und als wir hinaufkletterten, entdeckten wir dahinter Stapel von großen Kartons und kleineren Schachteln. Und dann der Duft: Wie auf dem Basar in den Läden mit Gewürzen und Trockenfrüchten.

Wenige Minuten zuvor erst waren die Riegel an der Stahltür vor unserem Gefängnis mit dem inzwischen vertrauten metallischen Knarzen beiseitegeschoben worden. Anstelle der Frau des Werkstattbesitzers hatte Karim vor uns gestanden. Ich hatte schon befürchtet, noch einen dritten Tag in diesem Loch verbringen zu müssen. Und Abdul, der dort schon eine volle Woche eingesperrt gewesen war, hatte es erst recht kaum noch ausgehalten.

Plötzlich aber war auf einmal alles ganz eilig. Der Motor lief schon, als Karim uns auf die Ladefläche hinaufscheuchte. Wir sollten bloß die Finger von den Kartons lassen, schärfte er uns noch ein, während er die Ladeklappe verriegelte. Und es werde nur noch einen ganz kurzen Zwischenstopp geben, bevor es über die Grenze ginge. Damit verschloss er die Plane.

Es war schon später Nachmittag, als unser Laster von der Straße abbog und wir ein Stück über unbefestigte Wege rumpelten. Dann ein kurzer Halt bei laufendem Motor und das vertraute Geräusch eines Metalltors, das vor uns aufgeschoben und hinter uns quietschend wieder geschlossen wurde.

Dass es ernst wurde, merkte ich daran, dass sich Dschingis Khan und Karim zu zweit zu uns auf die Ladefläche heraufschwangen. Durch die Öffnung in der Plane konnte man im blendenden Licht draußen das blaue Metalltor sehen, durch das wir gekommen waren. Dahinter, jenseits der Mauer, die den Innenhof umschloss, eine ausgedörrte, wüstenartige Landschaft. Kurz freute ich mich über den frischen Luftzug, der von draußen hereinkam, denn im Laufe der Fahrt war es unter der Plane immer heißer und stickiger geworden.

„Jetzt müsst ihr ins Versteck.“ Schon die Art, in der Dschingis Khan das sagte, ließ nichts Gutes ahnen. Da war Karim hinter uns aber auch schon dabei, Kartons beiseite zu räumen. Darunter, direkt an der Bretterwand, die den Laderaum zum Führerhaus hin abschloss, kam eine schmale Holzkiste zum Vorschein, die wie eine Sitzbank die gesamte Breite des Fahrzeugs einnahm.

Jetzt verstand ich, wie es zu der Lücke gekommen war, in die ich mich zuvor bei der Kontrolle in den Bergen hineingequetscht hatte: Die großen Kartons, die damals dort auf der einen Seite gestanden hatten, waren zu groß und zu schwer gewesen, um sie auf diese schmale Bank hinaufzubugsieren.

Karim klappte den Deckel hoch und zeigte in die geöffnete Kiste. Wie ein Sarg, schoss es mir durch den Kopf.

„Da rein?“, fragte Abdul ungläubig. Er war ja nicht ganz so schmächtig wie ich. Aber selbst ich konnte mir kaum vorstellen, wie ich dort hineinpassen und es da drin womöglich längere Zeit aushalten sollte.

Dschingis bemerkte offenbar meine aufkommende Panik. Er packte mich, stellte mich in die Mitte der Kiste und legte mich im gleichen Moment um, so dass ich mit dem Kopf zum einen Ende der Kiste hin auf der Seite zu liegen kam. Das ging so schnell, dass ich gar nicht dazu kam, mich zur Wehr zu setzen. Während Karim mich niederhielt, führte Dschingis das gleiche Manöver mit dem zappelnden und schreienden Abdul durch. Ich zog meine Beine an, soweit das überhaupt ging, aber bei jedem Stoß von Abdul Füßen gegen die meinen wurden mir die Knie schmerzhaft gegen die Wand der Kiste gedrückt.

„Je mehr ihr hier rumzappelt, desto unangenehmer wird es für euch. Besser, ihr spart eure Energie. Ihr seid nicht die ersten da drin. Und merkt euch: Nicht hektisch atmen!“ Damit drückte Dschingis den Deckel der Kiste auf uns herunter. Es fühlte sich an, als wollte er uns auch noch die Luft aus den Lungen pressen.

In Panik drückte ich meinen Unterarm, den ich zuvor gerade noch rechtzeitig angewinkelt hatte, gegen den Deckel. Der bewegte sich keinen Millimeter. Die hatten ihn offenbar sofort mit irgendetwas beschwert. „Nicht hektisch atmen, nicht hektisch atmen“, wiederholte ich in Gedanken unablässig, was Dschingis gesagt hatte. Dann sah ich, dass durch einen schmalen Schlitz unter dem überstehenden Deckel der Kiste etwas Licht und also auch Luft hereinkam. Am Kopfende der Kiste fühlte ich ebenfalls Löcher. Solange ich ruhig blieb, konnte die Luft reichen.

Nach und nach bekam ich die akute Panik unter Kontrolle. Abduls Tritte gegen meine Füße hatten auch aufgehört. Ich machte ein fragendes Geräusch. Keine Antwort. Ich erschrak, aber dann hörte ich, wie er leise schluchzte. Mehrmals stieß irgendetwas gegen die Kiste. Die bauten sie offenbar zu, mit Säcken oder Kartons. Das Atmen in der heißen, staubigen Luft war eine Qual. Ich unterdrückte mühsam ein Niesen. Kurz waren noch gedämpfte Stimmen zu hören. Jemand lachte. Das Zuschlagen der Ladeklappe. Dann wurde es dunkel.

Ich merkte es am wiederholten Bremsen, längeren Stehen und Wiederanfahren, dass unser Laster offenbar in einer Schlange stand, die langsam voranrückte. Ich hoffte flehentlich, dass dies endlich die Grenze wäre.

Die ganze Zeit in diesem Sarg hatte ich mir immer dann, wenn ich merkte, dass die Panik wieder hochkommen wollte, intensiv Szenen aus meiner Kindheit ins Gedächtnis gerufen. Wie meine Mutter sich über mich beugt und ihre nach Rosenwasser duftenden Haare mir über das Gesicht streichen. Wie ich aus dem kühlen Wasser des Qargha-Sees auftauche und Baba mir vom Ufer aus zuwinkt. Wie ich vor Zoor Aba auf dem Teppich sitze und er mir Gedichte von Maulana Rumi vorliest.

Jetzt ging ich dazu über, im Kopf immer und immer wieder das Gedicht aufzusagen, mit dem ich in der dritten Klasse den ersten Platz in einem Rezitierwettbewerb gewonnen hatte. Zwischendurch kamen mir auch Verse aus dem Koran in den Sinn. Damit hätte ich endlos die Zeit füllen können. Diese Verse aber verstärkten nur das Gefühl, erneut völlig ausgeliefert zu sein. Ich musste mich zurückzwingen zu meinem Lieblingsgedicht.

Von Abdul war, nachdem sein Schluchzen aufgehört hatte, nur hin und wieder ein Flüstern zu hören. Wahrscheinlich betete er.

Draußen ertönten auf einmal kurze Rufe. Eindeutig Anweisungen oder Befehle. Nach jedem Anfahren und Bremsen wurden die lauter. Die Grenze! Vor diesem kurzen, aber entscheidenden Moment meiner Flucht aus Afghanistan hatte ich so große Angst gehabt. Jetzt aber betete auch ich, dass es tatsächlich die Grenze war, und nicht nur eine normale Straßenkontrolle.

Meine Kehle war ausgetrocknet, die Zuge klebte mir geschwollen am Gaumen. Jeder Atemzug war mühsam und schmerzte. Ich hatte das Gefühl, dass es immer stickiger wurde. Mein Hemd und meine Hose waren schweißnass. Dann stieg mir auch noch der beißende Geruch von Urin in die Nase. Mein kleiner Freund Abdul hatte es offenbar nicht mehr zurückhalten können.

Ein lautes Kommando, diesmal ganz nah. Eine leichte Erschütterung. Jemand hatte die Tür des Führerhauses zugeschlagen. Nach kurzer Pause das Geräusch, das ich nur allzu gut kannte: Die Ladeklappe!

Mit aller Kraft konzentrierte ich mich auf eine weitere Rezitation meiner Lieblingsverse von Rumi.

Erst eine erneute Erschütterung, gefolgt vom Starten des Motors, holte mich zurück in die Gegenwart. War das etwa alles gewesen? Hatten Abdul und ich es geschafft?

Ich merkte, wie wir anfuhren. Wie wir an Fahrt gewannen. Wie wir in eine scharfe Kurve nach links gingen. Ich rutschte ein Stück und stieß mit dem Kopf gegen das Ende des Sargs. Abdul trat heftig gegen meine so weit wie möglich angezogenen Füße, so dass auch noch meine Knie wieder heftig gegen das Holz gedrückt wurden. Nur mühsam konnte ich einen Schrei unterdrücken. Schon ging es in eine ebenso scharfe Kurve nach rechts. Hilflos rutschte ich gegen Abdul, der statt eines Aufschreis zu wimmern begann. Eine Zeitlang summte ich leise eine kleine Melodie und das Wimmern hörte auf.

Ich merkte, wie meine Hose sich mit Flüssigkeit vollsog. Das erinnerte mich an den scharfen Geruch von Urin von zuvor, den ich inzwischen schon gar nicht mehr wahrnahm. Unsere Fahrt schien sich wieder zu verlangsamen. Ein kurzes Herumrangieren, dann standen wir wieder. Der Motor verstummte. Die eine Führerhaustür wurde zugeschlagen und gleich darauf auch noch die zweite. Dann wurde es still.

Kurze Zeit später parkte ganz in der Nähe ein weiterer LKW ein. Wieder das Zuklappen der Türen und sich entfernende Schritte.

Waren wir etwa doch noch in Afghanistan? Hatten die bei der Kontrolle Verdacht geschöpft und Dschingis angewiesen, seinen LKW erstmal irgendwo abzustellen, bis sie mit den Spürhunden kamen? Irgendwo hatte ich mal gehört, dass Laster oft tagelang an der Grenze standen. Vielleicht wurden die Fahrer dann festgesetzt, damit sie nicht in der Zwischenzeit fliehen konnten?

Ich hatte das Gefühl, zu ersticken. Eben noch hatte mir jeder Knochen im Leib wehgetan, hatte mir die Haut am ganzen Körper gejuckt, hatte ich mich geekelt vor dem Schweiß und Urin. Jetzt plötzlich spürte ich gar nichts mehr. Ich kratzte am Holz vor meinem Gesicht, versuchte, die Beine zu strecken. Ja, es war doch noch Leben in mir.

Von Abdul kam ein Wimmern. Hatte ich ihn etwa getreten? Wenn ich es nicht schaffte, ruhig zu bleiben, waren wir beide verloren. Ganz ruhig atmen. Ganz ruhig.

Wieder begann ich zu summen. Das hatte zuvor schon geholfen, die Gedanken unter Kontrolle zu bringen. Dass wir so kurz hintereinander zum zweiten Mal standen, war das nicht geradezu der Beweis, dass wir tatsächlich soeben die Grenze passiert hatten? Nach der Kontrolle auf afghanischer Seite kam ja sicher noch eine auf der iranischen. Dschingis hatte Ware geladen. Schon die Soldaten in den Bergen hatten ja nach Papieren dazu gefragt. Hier würden sie die auf jeden Fall auch kontrollieren wollen. Ja, Dschingis und Karim waren mit solchen Papieren zum Zoll!

„Zoll, Stempel“, sagte ich laut. Abdul murmelte etwas. Er schien verstanden zu haben.

Ich weiß nicht, wie lange wir dort gestanden haben, und wie oft ich im Stillen für mich das Wort Zoll wiederholt habe. Einige Male konnte man hören, wie in der Nähe Männer in schweren Stiefeln vorbeiliefen, wie Motoren angelassen wurden und wie Laster davonfuhren. Jedes Mal wurde meine Hoffnung enttäuscht, dass es Dschingis und Karim wären, deren Schritte sich näherten, und dass endlich auch wir einfach so davonfahren würden. Mit jeder Enttäuschung kam die Angst stärker zurück. Die wussten doch, dass sie uns hier eingesperrt hatten. Dass wir hier drin nicht mehr lange überleben konnten. Wenn sie immer noch nicht kamen, hatte man sie womöglich tatsächlich verhaftet. Nicht mal eine Flasche Wasser hatten sie uns mit in den Sarg gegeben. Wasser! Verzweifelt biss ich mir in die Faust.

Und wieder: Sich nähernde Schritte, Stimmen von Männern. Ganz nahe liefen die auf meiner Seite vorbei. Das waren eindeutig mehr als zwei Männer, aber die tiefe Stimme von Dschingis Khan hatte ich nicht herausgehört. Also wieder nichts…

Da aber blieben sie stehen. Offenbar direkt hinter unserem Laster. Das Poltern der Ladeklappe.

Die waren gekommen, den Laderaum zu durchsuchen! Hatten sie Karim oder gar Dschingis etwa dazu gebracht, unser Versteck zu verraten? So oder so, wenn sie den Laderaum ernsthaft durchsuchten, würden sie uns hier mit Sicherheit finden.

Ein Wimmern! Abdul hatte vielleicht gerade das Gleiche gedacht. Am Ende würde womöglich er uns verraten.

Ganz vorsichtig tippte ich ihn mit dem Fuß an. Er drückte zurück. Soweit hatte er sich also noch unter Kontrolle.

Jetzt musste die Erschütterung kommen, die man spürt, wenn ein Mann sich auf die Ladefläche heraufschwingt. Das Kratzen oder Poltern schwerer Stiefel auf Blech oder Holz. Worauf warteten die?

Dann, plötzlich, ein dröhnendes Lachen. Nur einen hatte ich je so lachen gehört: Dschingis!

Dann eine fremde Stimme: „Alles in Ordnung“, auf Farsi! Die Ladeklappe wurde wieder verriegelt.

Unwillkürlich atmete ich so tief ein, wie es ging. Als ich den Staub schmeckte, war es zu spät. Mit aller Gewalt versuchte ich, ein Niesen zu unterdrücken. Mir platzte beinahe der Kopf. Ich wäre erstickt, wenn nicht doch noch dieses Prusten herausgeplatzt wäre. Im gleichen Moment schlug eine Tür im Führerhaus zu. Auch die zweite. Jemand rief etwas und dann spürte ich das Vibrieren des startenden Motors. Wir fuhren…

Gleich würden sie anhalten und uns aus unserem finsteren Sarg befreien.

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