Kitabı oku: «Das Buch der Bücher», sayfa 3

Yazı tipi:

Aber die hielten einfach nicht an. Wir fuhren und fuhren. Der Motor dröhnte, oder war es mein Kopf? Ich spürte meinen Körper nicht mehr. Da war auch kein Durst. Die Wände unseres Sargs schienen sich verflüchtigt zu haben. Es war, als versänke ich in einem Meer aus aufwallender Dunkelheit. Fühlte es sich so an, zu sterben? Mein Herz raste. Meine Faust presste gegen mein Gesicht. Mir war, als hätte ich laut geschrien.

Iran

Ich spürte eine Hand an meinem Hinterkopf. Jemand hielt mir eine Flasche an den Mund, „Trink“, sagte eine Stimme. Ich begann, gierig zu schlucken. Ich musste husten und riss meine Augen auf. Ganz nah vor mir lachte Karims Gesicht. „Wir haben’s geschafft.“ Sie hatten mich gegen einen der Säcke gelehnt. Hinten saß Abdul blass und apathisch auf dem geschlossenen Sarg. Ein Laster fuhr in hohem Tempo dicht an uns vorbei. Die Plane am Einstieg wurde kurz zur Seite geweht, so dass für einen Moment blendendes Licht in den Laderaum fiel. „Wir müssen weiter“, rief Dschingis von draußen.

. . .

„Unglaublich, was unser Junge da durchgemacht hat“, hat Martina gesagt und hat die schwarze Mappe auf die Sessellehne sinken lassen. „Und wie lebendig er das alles beschreibt…“

„Ich bin sicher, da hat ihm Samira kräftig geholfen. Er wird seine Erlebnisse einfach kurz geschildert haben und sie hat dann eine ausformulierte Geschichte daraus gemacht. Das beweisen ja allein schon der Wortschatz und die korrekte Grammatik. Manches habe ich allerdings nicht so ganz verstanden. An der einen Stelle zum Beispiel schreibt er etwas von seiner ‚Zeit in den Bergen‘. Ich dachte immer, er hätte die ganze Zeit in Kabul gelebt.“

“Was ich noch viel weniger verstehe: Warum haben ihn seine Tante und deren Mann so einfach davongejagt? Seine Eltern sind, wie wir wissen verstorben. Aber es gibt ja noch diesen Großvater, an dem er offenbar sehr hängt. Und von Vaterseite gibt es anscheinend doch auch noch Verwandte. Warum hat ihn keiner von denen aufgenommen?“

„Wir sind ja erst am Anfang. Vielleicht wird das ja alles später noch klarer. Und jetzt lass mich weiter vorlesen.“ Ich habe Martina die schwarze Mappe aus der Hand genommen und habe mich auf dem Sofa ausgestreckt.

. . .

„Wo sind wir hier?“, fragte ich, als ich hinter Abdul aus dem Laderaum kletterte.

„Kurz vor Taybad“, antwortete Karim. „Hier fallt ihr nicht weiter auf, solange ihr auf dem Gelände der Ziegelei bleibt.“ Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht. Er hatte offenbar bemerkt, dass mein Blick beim Herunterklettern an dem offenen Karton hängengeblieben war, der so auffällig ganz vorn an der Ladefläche stand. „Damit haben wir euch sicher über die Grenze gebracht“, erklärte er. Ich sah ihn verständnislos an. „Safran. Eine der Dosen da drin kostet mehr, als ein iranischer Grenzbeamter in einem ganzen Monat verdient. Und für euch haben wir sogar zwei davon opfern müssen.“

„Sind etwa alle diese Kartons voll mit so teuren Dosen?“, fragte ich.

„Glaub‘ nicht, dass wir mit dieser Ladung reich werden können. Als Afghanen können wir die hier im Iran nur weit unter Marktpreis losschlagen – und Zoll haben wir auch noch dafür bezahlt.“

„Und die Säcke?“, fragte ich.

„Rosinen und getrocknete Aprikosen. Praktisch, um blinde Passagiere darunter zu verstecken. Aber so billig hier im Iran, dass uns keiner glauben würde, dass wir extra dafür die Reise über die Grenze machen. Und jetzt macht, dass ihr da rüberkommt. Und sagt, dass ihr von Kadér seid.“

Hungrig, durstig und immer noch unsicher auf den Beinen nach unserer stundenlangen Gefangenschaft in der Holzkiste liefen Abdul und ich mechanisch auf die Lücke in der niedrigen Mauer zu, auf die Karim gezeigt hatte. Auf halbem Wege blickte ich noch einmal zurück. Karim schwang sich gerade auf seinen Sitz hinauf. Er schlug die Tür des Führerhauses zu, und der Laster, der zehn Tage lang mein Zuhause gewesen war, setzte sich sofort in Bewegung. Karim hat sich nicht einmal mehr nach mir umgedreht.

Durch die Mauer gelangten wir auf ein weites Gelände, das sich bis zum Fuß eines langgezogenen Hügels erstreckte. Nicht weit von uns war eine große quadratische Fläche mit in dichten Reihen zum Trocknen senkrecht aufgestellten Lehmziegeln bedeckt. Daneben hatte etwa ein Dutzend Kinder begonnen, ein weiteres solches Quadrat mit Ziegeln zu füllen. Die schleppten sie von einem weiter entfernt liegenden Platz an, an dem andere Kinder damit beschäftigt waren, frischen Lehm in hölzerne Formen zu pressen. Der Lehm wiederum wurde von etwas größeren Jungs in Schubkarren vom Fuß des Hügels im Hintergrund herangekarrt. Kaum hatten wir uns so weit orientiert, als schon ein großer, hagerer Kerl, der offenbar die Arbeiten überwachte, auf uns zukam.

„Was lungert ihr hier herum“, herrschte er uns an. Da wir zu Hause Dari gesprochen hatten, verstand ich sein Persisch, auch wenn die Aussprache für mich ungewohnt war.

„Wir kommen von Kadér“, sagte ich.

„Mitkommen“, sagte er barsch und lief uns voraus auf ein zweistöckiges Gebäude zu. Der Raum, in den er uns führte, war mit Teppichen ausgelegt und wurde von mehreren Neonlampen hell erleuchtet. An der Rückwand hing ein Wandteppich mit dem Bild einer prächtigen Moschee darauf. Darunter saß ein rundlicher Mann mit spiegelnder Glatze und einem mächtigen Schnauzbart auf einem Sofa und wühlte in einem Haufen Papiere, die er auf dem niedrigen Tisch vor sich ausgebreitet hatte.

„Hier sind welche von Kadér“, stellte uns der Hagere vor. „Sagt ihm, wie ihr heißt.“

Ich nannte meinen Namen und stieß Abdul an, der die Aufforderung wohl nicht richtig verstanden hatte. „Abdul“, sagte der leise. Der Rundliche blickte von seinen Papieren auf, lehnte sich zurück und musterte uns.

„Ich habe euch schon vor drei Tagen erwartet“, sagte er, und nach einer Pause: „Du da“ – dabei zeigte er auf Abdul – „kannst gleich schon mal anfangen. Ist doch wohl noch mindestens eine Stunde hell draußen, oder?“, vergewisserte er sich bei seinem Mann.

„Aber klar doch“, sagte der grinsend und packte Abdul an der Schulter. Der wand sich los.

„Ich bleibe bei Adib. Wir gehören zusammen.“

„Er ist mein Freund“, sagte ich, aber ich wusste, es würde nichts nützen. Dies war offenbar die Ziegelei, in der Abdul ab jetzt arbeiten musste.

„Afghanizag“, sagte der Hagere, der uns hergebracht hatte, verächtlich, packte meinen Freund – diesmal fest an beiden Schultern – und schob ihn vor sich her aus der Tür.

Der Schnurrbart wühlte noch kurz in seinen Papieren, dann erhob er sich seufzend und kam auf mich zu. Er machte einen Bogen um mich und rümpfte die Nase.

„Wie kann man nur so erbärmlich stinken“, murmelte er, mehr zu sich selbst als zu mir, lief zur Tür vor und sah sich draußen um, als suche er etwas. Dann wandte er sich zu mir um. Es werde ein paar Tage dauern, bis er alles für meine Weiterreise arrangiert haben werde, sagte er. Vor allem das mit den Papieren werde dauern. Mir war das gerade recht. Dann würde es für mich ja wohl ein paar Tage Pause geben – Aussicht also, mich endlich einmal wieder richtig waschen und nachts ungestört schlafen zu können. Womöglich würde es sogar einigermaßen regelmäßig etwas zu essen geben. Der Schnurrbart winkte mich zu sich vor das Haus und zeigte auf einen separaten Eingang am Ende des Gebäudes. „Dort wird man sich um dich kümmern.“ Es klang nicht einmal unfreundlich.

Ein Klopfen riss mich aus dem Schlaf. Ich brauchte einen Moment, um mich zu orientieren. Durch das schmale, hochgelegene Fenster fiel ein Streifen Sonnenlicht in das kleine Zimmer mit den kahlen, weißen Wänden. Ich lag hoch über dem Boden, auf einer richtigen Matratze in einem Bettgestell aus Metall. Vor dem Bett, auf dem Boden, mein Rucksack. Das war das Zimmer, in dem ich nun schon zwei volle Tage zugebracht hatte.

Wieder das Klopfen.

„Ja“, sagte ich und setzte mich auf.

Statt der alten Frau, die mir hier dreimal am Tag etwas zu essen brachte, streckte ein auffallend großer, hagerer Mann mit schwarzgeränderter Brille den Kopf zur Tür herein. Ob er eintreten dürfe. So höflich hatte schon lange niemand mehr zu mir gesprochen. Ich sprang auf. Dunkle, traurige Augen musterten mich freundlich durch dicke Brillengläser. Das schwarze, gewellte Haar über der auffallend hohen Stirn dieses Mannes war schon ziemlich gelichtet.

„Du bist also der Adib“, stellte er fest. Ich nickte unsicher.

„Keine Angst, Ich heiße Jafar Ponyandeh. Ich werde dir helfen und dich, solange du hier bist, beschützen. Besitzt du ein Foto von dir?“ Eine seltsame Frage. Ich schüttelte den Kopf.

„Dann müssen wir eins machen“, sagte er, zog die Tür hinter sich zu und erst jetzt fiel mir auf, dass eine Kamera an seiner Seite baumelte. So eine Kamera hatte auch mein Vater besessen, und auch er hatte die immer an so einem Riemen über seiner Schulter hängen gehabt, wenn wir zusammen einen Ausflug gemacht hatten. Mein ‚Beschützer‘ bat mich, mich vor die weiße Wand zu stellen und machte mehrere Fotos von mir, wobei er mit der Kamera jedes Mal näher an mein Gesicht herankam.

„Du brauchst einen Ausweis, um sicher durch dieses Land zu kommen. Und dazu brauchen wir dieses Foto“, erklärte er mir, während er geschäftig mit der Kamera hantierte. Das also hatte der Dicke mit dem Schnauzer mit den ‚Papieren‘ gemeint, von denen er bei meiner Ankunft gesprochen hatte. Und dann erinnerte ich mich, dass ja auch in den geflüsterten Diskussionen von Tante Khosala und Onkel Najib von Papieren die Rede gewesen war.

„Spätestens in drei Tagen wird dich hier jemand abholen“, sagte der seltsame Herr Ponyandeh, als er fertig war. „Und ab da wirst du dich Reza Aslan nennen, aus der Stadt Gonabad, der Stadt des Safrans. Am besten, du prägst dir diese Namen jetzt schon mal ein.“ Damit verbeugte er sich vor mir – einem Jungen! – und verschwand so schnell durch die Tür, wie er erschienen war.

Die folgenden Tage verbrachte ich in wachsender Ungeduld. Ich vertraute diesem Herrn Ponyandeh. Schon weil er mich irgendwie an meinen Vater erinnert hatte. Jetzt, wo ich wusste, dass es jemanden wie ihn gab, der mir helfen wollte, sicher durch dieses Land zu kommen, hoffte ich, dass es so schnell wie möglich weiterging. Dabei hatte ich keinen Grund, mich zu beklagen. Anders als in Herat war ich in meinem Zimmer nicht eingesperrt. Jederzeit konnte ich hinunter ins untere Stockwerk laufen. In den Waschraum etwa oder, lieber noch, in die große Küche, in der für alle auf dem Gelände gekocht wurde. Inzwischen nannten die Frauen dort unten mich schon ihren kleinen Jungen, wofür ich sie als Mann eigentlich hätte zurechtweisen müssen. Aber sie steckten mir auch immer mal wieder extra etwas zu essen zu. Nur außerhalb des Hauses sollte ich mich nicht sehen lassen, hieß es. Besuchern von draußen würde es auffallen, wenn hier ein Junge wie ich einfach nur so herumliefe.

Natürlich hielt ich auch immer mal wieder Ausschau nach Abdul – aus meinem Fenster oder unten an der Tür. Ich wusste inzwischen, wenn es abends dunkel wurde, wurden die Jungen und Mädchen getrennt und in Gruppen von ihren Aufsehern in das separate Gebäude gebracht, in dem, wie es hieß, ihre Schlafsäle lagen. Selbst aus der Entfernung konnte man sehen, wie erschöpft und schmutzig sie waren. Meinen Freund Abdul aber habe ich nie wiedergesehen.

Der junge Mann, der mich abholte, hieß Shahin und sagte, er sei Student. Als erstes aber, kaum hatte ich mich zu ihm in den alten Peugeot gesetzt, reichte er mir meine ‚Papiere‘.

„Hier, Reza Aslan, dein Schenasnameh“, sagte er. Ich schlug das kleine, dünne Heftchen auf. Da, auf der ersten Seite, prangte tatsächlich mein Foto.

„Hast du noch nie einen Ausweis gesehen?“, fragte er und lachte. Er lachte ständig. Auch als ich ihn fragte, ob er der Sohn des Fotografen wäre.

„Du meinst Dr. Ponyandeh? Der war mein Lehrer an der Universität, an der ich Wirtschaftswissenschaften studiere. Jetzt ist er mein Mentor und Freund. Von irgendwas muss er ja leben, jetzt, wo die Taliban dafür gesorgt haben, dass er seine Stelle an der Uni verloren hat.“

„Die Taliban? Hier im Iran?“ Ich war geschockt. Auch weil ich noch nie erlebt hatte, dass jemand über die Taliban lachte.

„Sorry“, sagte er – das erste Mal seit zwei Jahren, dass ich wieder ein englisches Wort hörte. „Du kommst ja von denen. Keine Angst, wir nennen unsere korrupten Mullahs so.“

„Ich komme nicht von den Taliban. Ich komme aus Kabul“, protestierte ich.

„Schon gut“, lachte er. „Ist mir auch egal, warum du da wegwillst. Hier wollen ja auch alle weg.“

Die gut ausgebaute, meist schnurgerade Straße führte durch eine karge, ausgedörrte Landschaft. Nur hin und wieder kamen wir durch kleinere Ortschaften. Ich war ein wenig durcheinander. Dass die Schiiten Ungläubige waren, sagten die Sunniten in meiner Heimat ja immer. Aber dass die hier so abfällig über ihre eigenen Mullahs redeten, hätte ich mir bis dahin nie vorstellen können.

„Falls die uns anhalten sollten und nach unseren Papieren fragen, halt bloß den Mund und lass mich reden“, sagte Shahin, ausnahmsweise mit ernstem Gesicht. „Sonst hören die an deiner komischen Aussprache gleich, dass du nicht von hier bist. Also pass auf: Ich bin dein großer Bruder, du bist hier nur auf Besuch, weil du unbedingt mal den Imam Reza Schrein besuchen willst. Und zwar, weil das deine letzte Hoffnung ist, dein Stottern zu kurieren.“

Wieder wollte ich protestieren, aber Shahin winkte ab.

„Vertrau mir. Diese kleine Lügengeschichte ist nur zu deinem Schutz. In letzter Zeit gibt es immer öfter Demonstrationen in Maschhad wegen der steigenden Preise für Lebensmittel. Seitdem sind die da oben nervös und es gibt mehr Kontrollen als sonst. Und glaub mir, wenn du denen in die Hände fällst, hast du nichts mehr zu lachen.“

Bald wurde die Straße vierspurig, als wir uns Maschhad näherten, sogar zu einem richtigen sechsspurigen Highway – wie in den amerikanischen Filmen. Ich traute meinen Augen nicht: Plötzlich tauchte rechterhand direkt neben uns ein riesiges Flugzeug auf. Ich dachte schon, es würde auf die Häuser am Rande der Autobahn stürzen, aber dann verschwand es direkt hinter einem großen, flachen Gebäude. Shahin lachte, als ich aufgeregt hinüberzeigte. Er stellte die CD ab, die er die ganze Zeit hatte laufen lassen. „Unser Flughafen“, sagte er. Er erklärte mir, dass jedes Jahr mehrere Millionen Pilger nach Maschhad kämen, um den Imam Reza Schrein zu besuchen. Zum ersten Mal schien er auf irgendetwas in seinem Land stolz zu sein. Ich aber war nur froh, dass das Gebrüll des CD-Spielers verstummt war, das Shahin ‚Heavy Metal‘ nannte. Sowas hatte ich vorher noch nie gehört. Kurz danach kurvten wir durch ein ganzes Gewirr von Straßen neben- und übereinander. Gleich dahinter zeigte Shahin wieder auf die rechte Seite. „Unser großer Fernbusbahnhof – da setzen wir dich morgen in den Bus nach Teheran.“

Es kann nicht mehr als zehn Minuten später gewesen sein, als wir von der Stadtautobahn abfuhren und in ein Viertel mit dicht an dicht stehenden Wohnhäusern einbogen. Die waren alle nicht mehr als vier oder fünf Stockwerke hoch und sahen ziemlich neu aus. Gleich darauf hielten wir vor einem dieser Häuser. Sobald Shahin auf einen der Klingelknöpfe gedrückt hatte, gab es ein summendes Geräusch und er drückte die Tür auf.

„Sie haben Farhad verhaftet“, sagte Dr. Ponyandeh, kaum hatte er uns oben die Wohnungstür geöffnet.

Eigentlich hatte Shahin mich nur abliefern wollen, aber nach dieser offenbar sehr schlimmen Nachricht folgte er uns doch mit in die Wohnung. Sein ehemaliger Lehrer, der jetzt sein Freund war, führte uns in ein großes Zimmer mit hohen Regalen voller Bücher an den Wänden und einem Sofa und mehreren Sesseln in der Mitte des Raums. Er und Shahin liefen gleich zum Fenster hinüber und redeten aufgeregt miteinander.

Eine Zeit lang stand ich herum. Die beiden waren so vertieft, dass sie mich gar nicht beachteten. Da habe ich mich in einen der riesigen, weichen Sessel gesetzt und meinen Rucksack einfach daneben auf den Teppich fallen lassen.

Ich verstand nicht alles von dem, was sie sagten. Dieser Farhad aber war offenbar jemand von ihrer Universität. Der hatte auf der Straße Zettel verteilt – aus Protest gegen die ‚Zwangsverschleierung‘, wie Dr. Ponyandeh sagte. Dieses Wort verstand ich erst, als sie auch noch von ‚Kopftuchzwang‘ sprachen. Das schien alles sehr schlimm zu sein.

Ich wusste damals so vieles noch nicht. Die Frauen im Iran – die in der Küche der Ziegelei und die wenigen, die ich auf dem letzten Teil unserer Fahrt auf der Straße gesehen hatte – waren mir sehr freizügig vorgekommen in ihrer leichten Kleidung und mit ihren bunten Kopftüchern. Ich hatte vor meiner Flucht längere Zeit fast nur noch Frauen in Burka gesehen. Aber dann fiel mir ein, dass meine Tanten so gut wie nie ein Kopftuch getragen hatten. Wie überhaupt viele Frauen in Kabul. Und auch kaum eins der Mädchen aus Babas Schule. Für meine Tante Khosala, auch daran erinnerte ich mich jetzt wieder, hatte das auch etwas mit Freiheit zu tun gehabt. Hier aber schien das Kopftuch seltsamerweise etwas mit öffentlicher Sicherheit zu tun zu haben.

„Wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit?“ Shahin fragte extra noch einmal nach.

„Ja, deswegen und wegen Beleidigung des Kopftuchs als Symbol des Islam“, sagte Dr. Ponyandeh und schüttelte den Kopf.

„Wir müssen etwas unternehmen“, rief Shahin.

„Dir ist klar, wie gefährlich das ist“, sagte Dr. Ponyandeh.

„Ich bin sicher, viele werden sich anschließen. Jetzt, wo sich die Leute selbst einfache Lebensmittel kaum noch leisten können. Sogar auf dem Land. Alle haben doch diese Mullah-Diktatur satt. Die Misswirtschaft, die Korruption, die brutale Unterdrückung jeder Kritik.“ Shahin redete sich immer mehr in Rage. Dabei fiel sein Blick plötzlich auf mich. „Ach, um den Jungen müssen wir uns ja auch noch kümmern. Ich fürchte, ihn schon morgen in den Bus nach Teheran zu setze, wäre in dieser Situation kaum zu verantworten. Die werden die Kontrollen in den nächsten Tagen mit Sicherheit nochmal verschärfen.“ Dr. Ponyandeh überlegte kurz. Dann nickte er.

So kam es, dass ich fast vier Tage lang in der schönen großen Wohnung meines iranischen ‚Beschützers‘ gewohnt habe und sogar schon wieder in einem richtigen Bett schlafen durfte.

Gleich nachdem Shahin sich verabschiedet hatte, verließ auch mein Beschützer die Wohnung, in der er offenbar ganz allein lebte. Er werde nicht lange fortbleiben, sagte er. Ich solle auf keinen Fall vor die Tür gehen. Die Nachbarn seien sehr neugierig.

So setzte ich mich erst mal wieder in den großen Sessel, neben dem noch mein Rucksack lag. Als es mir zu langweilig wurde, ging ich zu den Regalen hinüber. Ich staunte, wie viele der Bücher auf Englisch waren. Die meisten Titel verstand ich nicht, aber immer wieder kamen die Wörter ‚Economy‘ und ‚History‘ vor. Dieser Lehrer und Fotograf musste ein sehr kluger Mann sein. In einem der Regale stieß ich schließlich auf Bücher, deren Titel mir vertraut waren. Das Shahnameh mit den Geschichten von den alten persischen Helden, das Diwan-e Hafez von Hafis und von Maulana Rumi das Masnavi und seine vierzeiligen Rubaiyat. Ich zögerte, aber dann zog ich die Rubaiyat aus dem Regal. Damit setzte ich mich auf den Teppich und vertiefte mich in das Buch. Es war, als wäre ich auf einmal wieder Adib, der Schüler aus der 8. Klasse, und säße zu Hause im Zimmer meines Großvaters.

„Du kannst diese Gedichte lesen?“ Ich schrak zusammen, als ich plötzlich die Stimme von Dr. Ponyandeh hinter mir hörte. Die traurigen Augen hinter den dicken Brillengläsern blickten verwundert auf mich herab.

„Viele kenne ich auswendig“, sagte ich.

„Weißt du, dass das eine kostbare alte Ausgabe dieser Gedichte ist, die du da in der Hand hast?“ Kurz krampfte sich alles in mir zusammen.

„Mein Großvater hatte eine, die noch viel älter war“, sagte ich.

„Hatte? Er hat sie doch nicht etwa verkaufen müssen? Womöglich, um damit deine Flucht zu finanzieren?“

„Oh, nein“, stotterte ich. Ich merkte, wie ich rot wurde.

„Na, das wäre ja auch ein Jammer gewesen“, sagte Dr. Ponyandeh. Er ließ sich in den Sessel neben mir sinken. Er seufzte tief auf. „Ich habe viele afghanische Freunde. Die ersten sind schon vor über dreißig Jahren vor den Russen hierher geflohen. Weitere kamen vor zwanzig Jahren, nachdem die Taliban Kabul erobert hatten. Und jetzt schon wieder Jungen wie du. Hört das denn nie auf? Gab es denn niemanden, der dort für dich sorgen konnte?“

So hatte schon lange niemand mehr mit mir geredet. Ich versuchte, meine Tränen zurückzuhalten. Aber dann war es, als bräche ein Damm. Ich erzählte meinem Beschützer, dass meine Eltern beide gestorben waren. Dass ich nicht wusste, wo mein Großvater war und ob er noch lebte. Dass meine Lieblingstante mich einfach so fortgeschickt hatte. Obwohl ich das gar nicht wollte, habe ich einfach immer weitererzählt. Am Ende kannte er fast meine ganze Geschichte. Er hat mir die ganze Zeit zugehört, ohne etwas zu sagen. Auch danach hat er mir keinerlei Vorwürfe gemacht.

„Du musst fest daran glauben, dass alles gut werden wird“, sagte er nur und legte mir dabei seine Hand auf die Schulter.

Auch in den nächsten Tagen musste Dr. Ponyandeh oft aus dem Haus. Ständig hatte er irgendwelche Treffen, und einmal musste er auch Fotos von einer Hochzeit machen. Aber wenn er zu Hause war, nahm er sich immer auch Zeit, sich mit mir zu unterhalten. Dabei sagte er manchmal auch Sachen, die ich nicht so richtig verstand. Dass die islamische Regierung eigentlich gar nicht islamisch sei, zum Beispiel, oder dass die Mullahs den Koran für politische Ziele missbrauchten. Als ich ihm sagte, dass ich viele Verse des Koran auswendig gelernt hatte, fragte er, ob ich denn auch wüsste, was die arabischen Wörter bedeuteten. Das haben sie mir nicht beigebracht, gab ich zu.

„Wer die Menschen Worte auswendig lernen lässt, ohne ihnen deren Bedeutung zu erklären, der verhöhnt das größte Geschenk, das Allah dem Menschen gegeben hat, den Verstand“, erklärte er. Da habe ich ihm gesagt, dass auch mein Vater und mein Großvater immer so über „die Bärtigen“ gesprochen hätten. Da nickte er mir zu.

„Sogar das Wahrhaftigste und Weiseste, was der Islam jemals hervorgebracht hat, wollen sie auslöschen.“ Als ich ihn fragend ansah, meinte er nur, ich solle mir den Namen merken, der als mein Geburtsort in meinem iranischen Ausweispapier stehe: Gonabad. Für später, wenn ich in Sicherheit sei und wieder lernen könne. Denn das sei das Wichtigste: Ein Leben lang zu lernen und nach der Wahrheit zu suchen.

Immerhin verstand ich durch diese Gespräche auch das Persisch meines Beschützers immer besser. In den letzten anderthalb Tagen brachte er mir gezielt auch noch die richtige Aussprache einiger nützlicher Worte und Sätze bei. Zu meiner Sicherheit, wie er sagte. So werde man nicht sofort hören, dass ich aus Afghanistan käme, wenn ich in eine Polizeikontrolle geriete. Er und Shahin befürchteten nämlich inzwischen, dass sich die Lage nun doch nicht so schnell wieder beruhigen würde. Es sei daher besser, meine Fahrt nach Teheran nicht noch länger hinauszuschieben.

Spätabends am zweiten Tag war Shahin nochmal vorbeigekommen. Er hatte seinem Lehrer Bilder von einer ‚Demonstration‘ zeigen wollen, an der er an dem Nachmittag teilgenommen hatte.

„Habe ich‘s dir nicht gesagt? Die schrecken vor nichts zurück“, hatte Dr. Ponyandeh festgestellt, nachdem er eine Weile schweigend auf den kleinen Bildschirm geschaut hatte, den Shahin ‚Smartphone‘ nannte.

„Sieh dir das an, Reza aus Gonabad, so brutal ist dieses Mullah-Regime hier bei uns.“ Damit hatte Shahin auch mir diesen Bildschirm hingehalten. Da war ein großer Platz voller Menschen zu sehen. Die hielten Schilder hoch und riefen etwas im Chor. Ich traute meinen Augen und Ohren nicht. Eine junge Frau hielt ein Schild hoch, auf dem stand „Marg bar Taliban“, „Tod den Taliban“! Was die Leute riefen, verstand ich erst, als ich genauer hinhörte: „Die Menschen betteln, die Mullahs herrschen wie Götter.“ Und plötzlich tauchten Männer mit Helmen auf und begannen, mit langen Stangen wahllos auf die Menschen einzuschlagen. Alle liefen durcheinander, manche stürzten und die Männer mit den Helmen traten sie auch noch mit ihren Stiefeln. Die machten selbst vor den Frauen nicht halt. Die Bilder wurden immer wackeliger und dann wurde der Bildschirm dunkel.

„Ich fürchte, das ist nur der Anfang“, hatte Dr. Ponyandeh gemeint. „Es wird wieder Massenverhaftungen geben.“

„Am besten, ich bringe ihn übermorgen, wenn die erste Welle vorbei ist, ganz früh an den Busbahnhof. Ich schätze, bei dem Gewimmel dort um die Zeit können die höchstens Stichprobenkontrollen durchführen,“ hatte Shahin gesagt.

Ich hatte zunächst gar nicht verstanden, dass es dabei um mich ging.

Die Fahrt von Maschhad bis nach Teheran kam mir unendlich lang vor. Dabei kam ich so schnell voran, wie noch nie, seit ich Kabul verlassen hatte. Der Bus war ganz früh am Morgen pünktlich abgefahren und spät in der Nacht fuhren wir in den Busbahnhof in Teheran ein.

Am Anfang der Fahrt hatte ich gestaunt, wie modern und sauber der Bus war und wie bequem die Sitze. Man konnte sogar die Rückenlehne nach hinten kippen. Shahid hatte mir einen Sitzplatz am Fenster in der Mitte des Buses besorgt. So würde ich am wenigsten auffallen, hatte er gemeint.

Ich habe fast die ganze Zeit aus dem Fenster geschaut. Auch das hatte Shahid mir empfohlen, damit möglichst keiner auf die Idee käme, mich anzusprechen. Am Anfang fand ich es auch interessant, dort draußen die weiten, wechselnden Landschaften und das Treiben in den Dörfern und Städten, durch die wir fuhren, vorüberziehen zu sehen. Die glatt geteerten Straßen, die vielen neuen und hohen Gebäude, die Geschäfte und sogar die Menschen, alles erschien mir ordentlicher, moderner, und bunter als in Afghanistan. Auf die Dauer aber wurde es langweilig und mir fielen immer wieder die Augen zu.

Meist wachte ich dann erst wieder auf, wenn der Bus an einer Tankstelle oder an einem Busbahnhof hielt. Dann stiegen immer alle aus, um sich die Beine zu vertreten, auf die sauberen Toiletten zu gehen, die es fast überall gab, oder sich etwas zu trinken oder zu essen zu kaufen.

Dr. Ponyandeh hatte mir am Morgen zwei Flaschen Wasser, eine Tüte mit Sonnenblumenkernen und ein paar iranische Geldscheine mitgegeben. Das Geld hatte ich erst gar nicht annehmen wollen. „Für den Notfall“, hatte er gesagt und dabei wieder so traurig gelächelt. Da hatte ich die Scheine doch eingesteckt und mir vorgenommen, sie tatsächlich für den Notfall aufzubewahren. Aber als wir – da war es schon Nachmittag – an einem größeren Busbahnhof hielten und ich die Stände der vielen Händler sah, die dort duftende Aprikosen, Orangen und Mangos, verlockende Fleischspießchen, süßes Gebäck und buntes Zuckerwerk anboten, konnte ich nicht widerstehen. Ich habe mir zum allerersten Mal seit der Abfahrt aus Kabul selber etwas zum Essen gekauft.

Auch Tante Khosala hatte mir Geld mitgegeben, dreihundert amerikanische Dollar, die sie mir separat in kleine Plastiktüten eingeschlagen und an drei verschiedenen Stellen versteckt hatte: Im Boden meines Rucksacks, im Gürtel meiner Hose, den sie dafür extra aufgetrennt und wieder zugenäht hatte, sowie in einem Ledertäschchen, das ich unter meinem Hemd an einer Schnur um den Hals trug. Dieses Geld wollte ich aber auf diesem Abschnitt der Reise noch auf keinen Fall anrühren. Es war für den letzten Teil meiner Flucht gedacht, auf dem ich mich ganz alleine würde durchschlagen müssen.

Als ich mit meinen Hühnerfleischspießchen in den Bus zurückkam, fand ich zuerst meinen Platz gar nicht wieder. Die ganze Zeit hatte ein alter Mann auf dem Gangplatz neben mir gesessen. Der hatte mich zu meiner Erleichterung kein einziges Mal angesprochen und die meiste Zeit auch geschlafen. Jetzt aber saß da in der Mitte des Busses ein Mädchen, und ich wollte erst gar nicht glauben, dass das da neben ihr mein Platz war. Das Mädchen – eigentlich eher schon eine junge Frau – schaute mich mit großen dunklen Augen herausfordernd an, als ich unschlüssig neben ihr stand. Ihr grellbuntes Kopftuch war so weit nach hinten geschoben, dass ihr volles Haar darunter hervorquoll. Sie trug eine Bluse, deren oberster Knopf offenstand und deren Ärmel nicht mal bis zu den Ellenbogen reichten. Ich brachte kein Wort heraus.

„Dein Sitz?“, fragte sie schließlich. Ich nickte nur stumm. „Na, dann komm“, sagte sie mit amüsiertem Gesichtsausdruck und erhob sich, blieb aber halb im Durchgang stehen, so dass ich mich kaum vorbeiquetschen konnte, ohne sie zu berühren.

„Aus welchem Dorf kommst du denn?“, fragte sie, als ich endlich saß.

„Gonabad“, murmelte ich.

„Ach so“, sagte sie, als sei für sie damit alles erklärt. Sie vertiefte sich wieder in ein Heft, in dem sie schon geblättert hatte, bevor sie mich bemerkt hatte. Ich habe zwei, drei Mal kurz hinübergeblickt, aber da waren immer nur Bilder von Frauen zu sehen, die ungewöhnliche Kleider anhatten.

Es dämmerte schon, als der Bus nochmal in einem kleineren Ort hielt. Diesmal stiegen nur fünf oder sechs Leute aus, darunter zwei Frauen, die direkt in der Reihe vor uns gesessen hatten. Auch ich wäre gern wenigstens kurz mal an die frische Luft gegangen, aber das Mädchen neben mir blieb sitzen und ich wollte mich nicht nochmal so an ihr vorbeidrängen.

Der Halt war kürzer als sonst. Alle saßen schon. Die Tür unseres Busses glitt zu. In dem Moment sah ich drei junge Männer in schwarzen Uniformen auf unseren Bus zulaufen. Polizisten! Sie hämmerten an die bereits geschlossene Tür. Der Fahrer fluchte, aber er öffnete. Die Polizisten stürmten herein. Der eine blieb vorne beim Fahrer stehen und fragte den irgendwas. Die beiden anderen aber kamen nach einem kurzen, prüfenden Blick über die Sitzreihen direkt auf mich zu. Jetzt ist es aus, dachte ich und schrumpfte in meinen Sitz, obwohl klar war, dass sie mich schon gesehen hatten. Der Vordere stützte sich mit dem Ellenbogen auf die Lehne des Sitzes direkt vor dem Mädchen. Er fixierte erst sie und dann mich.

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