Kitabı oku: «Die Erzählerin von Arden», sayfa 2

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Die nächsten Wochen verliefen in geordneten Bahnen. Mittlerweile fand sich Lillian in allen Arbeits- und Wirtschaftsräumen gut zurecht. Zu ihrem Bedauern war sie allerdings noch nicht bis zu den Räumen der Herrschaft vorgedrungen. Zu diesem Flügel des Schlosses hatte im Allgemeinen nur das höhere Dienstpersonal Zutritt. Die Kammerdiener und Zofen waren auch direkt im Gebäude untergebracht, um so rund um die Uhr für die Herrschaft da zu sein. Nur ein paar der Küchenmägde durften gelegentlich diese Räume betreten, um Speisen und Getränke aufzutragen. Zu denen gehörte seit Neuestem auch Helen. Da sie den Zofen von Lillian und ihren Erzählungen am Feuer vorgeschwärmt hatte, war die allabendliche Runde von Zuhörern inzwischen weiter angewachsen. Auch Clark, einer der Kammerdiener des Königs, gehörte nun zu Lillians Bewunderern. Seit Wochen nutzte er jede Gelegenheit, um dabei zu sein und ging immer als einer der Letzten.

So auch heute. Lillian bemerkte nicht, wie sie von seinen gierigen Blicken regelrecht ausgezogen wurde. In seinen Gedanken erzählte sie ihm etwas anderes als ihre unschuldigen Geschichten. Da flüsterte sie ihm leise schmutzige Worte ins Ohr. Bei dieser Vorstellung reagierte sein Körper heftig und er kreuzte die Arme rasch über seinem Schoß, als er das eindeutige Ziehen in seinen Lenden spürte. Er wollte sie haben. Und für den unwahrscheinlichen Fall, dass eine einfache Magd ihn zurückwies, zur Not mit Gewalt!

Raven

Es war inzwischen Sommer geworden. Die Nächte waren angenehm warm und der Wind wehte den schweren Duft der Felder herüber. Alle genossen den verdienten Feierabend und unterhielten sich über dies und das. Das leise Gewirr der Stimmen hörte man bis zum Schloss.

Raven saß in seinem Schlafgemach im Dunkeln. Er hielt ein Glas starken Weines in der Hand, den Blick ins Leere gerichtet. Die letzte Nacht hatte er mit seinen sogenannten Freunden durchzecht. Keiner von ihnen bedeutete ihm auch nur das Geringste, doch sie halfen ihm dabei, die Schatten der Vergangenheit aus seinem Kopf zu vertreiben.

Sie - und der Branntwein. Wie Dämonen kamen die Erinnerungen Nacht für Nacht in sein Hirn. Er wusste nicht mehr, wann er das letzte Mal durchgeschlafen hatte, ohne sich zuvor besinnungslos zu trinken. So wie gestern. Raven war heute gegen Mittag mit einem Brummschädel zu sich gekommen und hatte sich etwas zu essen bringen lassen. Seine Gemächer hatte er nicht verlassen, aus Angst, seinem Vater über den Weg zu laufen. Er konnte dessen vorwurfsvolle, manchmal sogar angewiderte Blicke nicht ertragen. Manchmal, wenn Raven großes Glück hatte, war eine Spur von Besorgnis in der Mimik seines Vaters zu erkennen. Natürlich konnte der große, immer pflichtbewusste König kein Verständnis für die Lebensweise seines Sohnes aufbringen. Wie sollte er auch. Raven wusste als Einziger über die genauen Ereignisse von damals Bescheid. Doch er hatte der Mutter versprochen zu schweigen, um den König zu schonen und nicht an seinen Pflichten zu hindern. Sie hatte sicher nicht geahnt, welche Last sie ihm damit aufbürdete. Immer wieder fragte er sich, was gewesen wäre, wenn er sein Versprechen gleich zu Beginn der ganzen Schwierigkeiten gebrochen hätte. Sicher, er war damals noch keine fünfzehn. Noch nicht erwachsen, aber eben auch kein Kind mehr. Er hatte eine falsche Entscheidung getroffen, als es darauf ankam. Wie sollte er je daran denken, die Verantwortung für ein ganzes Königreich zu übernehmen? Lange hatte Raven gehofft, der Vater würde sich zu einer neuen Ehe durchringen, um so noch einen geeigneteren Thronfolger zu zeugen. Aber das war nicht geschehen.

Manchmal suchte der Prinz in den bereitwillig offenen Armen einer Frau sein Vergessen. Besonders Ester, die Tochter des Schreibers, hatte ein Faible für ihn. Aber der kurze Rausch hielt nie lange an und er machte sich danach immer Gewissensbisse, das Mädchen ausgenutzt zu haben. Natürlich hatte er ihr eindeutig klargemacht, dass ihre Verbindung in keiner Weise von romantischer Natur war, noch je sein würde. Doch man konnte nie wissen, was in ihrem Kopf vor sich ging.

Etwas riss ihn aus seinen Gedanken. Vom Gesindehaus drang Lachen zu ihm herein und starker Neid erfüllte seine Brust. Plötzlich wurde es ihm zu eng und zu stickig im Zimmer. Raven beschloss, seinen Wein auf dem Dach zu trinken. Dort gab es eine flache begehbare Stelle, die er schon als kleiner Junge gern aufgesucht hatte. Oben angekommen lehnte er sich an eine Dachschräge und sah in den Sternenhimmel.

Zu seinem Leidwesen musste er feststellen, dass man das Treiben vor dem Gesindehaus hier noch deutlicher vernehmen konnte. In der Hoffnung, etwas Ablenkung zu finden, hörte er einfach zu ...

„Lillian bitte, du hast schon seit fast einer Woche keine Geschichte mehr erzählt. Du bist doch wieder gesund und deine Stimme ist auch nicht mehr rau.“

Lillian hatte sich vor ein paar Tagen im Regen erkältet. Leichtes Fieber und eine starke Heiserkeit waren die Folge. Sie war froh gewesen, nach dem schweren Tagewerk gleich ins Bett gehen zu können und darum dem Beisammensein ferngeblieben. Sie erzählte zwar auch sonst nicht jeden Abend ihre Geschichten, aber so lange mussten die Freunde noch nie darauf verzichten.

„Schon gut, ich tue es ja schon!“, lachte sie. „Aber heute darf ich die Geschichte selbst auswählen.“

Dieses Recht gestanden ihr alle bereitwillig zu.

„Diese Geschichte ist etwas länger und wir werden sie heute nicht schaffen, aber ich mag sie sehr und ihr werdet sie sicher auch mögen.“

Sie begann zu erzählen und alle verfolgten gespannt die Abenteuer des Bauernburschen, der es durch Beharrlichkeit und Selbstbewusstsein zu Wohlstand und Ansehen brachte.

Als Raven ihre Stimme hörte, zusammen mit der Art wie sie erzählte, fühlte er sich wie damals als kleiner Junge. Seine Mutter war mit der gleichen Gabe gesegnet gewesen und selbst der König gesellte sich, wann immer er konnte zu ihnen, um seiner Frau zuzuhören. Genau wie dieses Mädchen dort unten hatte sie es geschafft, die Gegenwart vergessen zu lassen. Auch auf mancher Gesellschaft bat man um die Gunst ihres Vortrages. Besonders James, der Bruder des Königs, war ihrem Talent verfallen und konnte nie genug davon bekommen. Der Prinz ließ sich ganz auf den Zauber, der von Lillians Stimme ausging, ein und hoffte, sie würde nie aufhören zu reden. Das berauschende Gefühl hielt zu seiner Freude an, als er ihr Versprechen vernahm, morgen weiterzuerzählen. Mit der Aussicht, dieses Erlebnis am nächsten Tag erneut haben zu dürfen, drifteten seine Gedanken zum bereits Gehörten zurück, bis er an Ort und Stelle in einen festen Schlaf fiel ...

Raven erwachte bei Sonnenaufgang und fühlte sich so gut wie ewig nicht. Trotz der Schmerzen im Rücken, welche von der harten Dachschräge herrührten, fühlte er sich sonderbar leicht. Er stellte sich aufrecht und blickte über das Land. Eines Tages sollte er darüber wachen und herrschen. Sofort spürte er den schon vertrauten Druck in der Brust. Seine Dämonen waren nach Hause zurückgekehrt.

Als Lillian an diesem Tag mit ihrer Arbeit beginnen wollte, wartete Emma schon am Dienstboteneingang. Ihrem Gesicht nach zu urteilen war sie kurz vor dem Platzen, wenn sie die guten Nachrichten nicht sofort loswurde, die sie offensichtlich hatte. „Endlich! Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr. Ich habe großartige Neuigkeiten für dich. Eine der Küchenmägde hat gekündigt. Ich habe mich dafür eingesetzt, dass du ihre Stelle bekommst. Ist doch besser als putzen und Wäsche waschen. Und du bist die ganze Zeit in Helens und meiner Nähe. Du freust dich doch, oder?“

Lillian, etwas überrumpelt von diesem frühmorgendlichen Überfall, musste sich erst einmal sammeln. Sie hatte schon lange gehofft, irgendwann zum Küchenpersonal wechseln zu dürfen, denn diese Arbeit war nicht ganz so schwer wie die der einfachen Mägde.

„Natürlich freue ich mich!“ Sie nahm die kleine runde Frau in den Arm und presste sie fest an sich. Emma war zufrieden und sie betraten gemeinsam Lillians neue Wirkungsstätte. Sie kannte die Räume natürlich schon, sah nun aber alles mit anderen Augen. Die Schlossküche war ein großer Raum mit einem hohen Kreuzgewölbe. Die weiß geschlämmten Wände hatten hier und da ein paar Rußspuren von den mit Holz beheizten Herdstellen. Überall standen Kochgeschirr, Gewürzdosen, Bottiche mit Mehl und was man sonst noch so braucht, um für das leibliche Wohl der Herrschaft und deren Hofstaat zu sorgen. Von der Decke hingen Pfannen und Kellen in allen Größen, so dass man an manchen Orten Gefahr lief, sich zu stoßen. Aber laut Helen gewöhnte man sich schnell daran, an den gefährlichsten Stellen den Kopf einzuziehen.

Als Erstes ging es ans Brot backen. Eine sehr kraftraubende Angelegenheit, wie Lillian feststellen musste. Auch hier hatte Helen einen guten Rat. „Denk einfach an irgendetwas Schlechtes oder an jemanden, der dich wütend macht. Dann lass die angestaute Wut am Teig aus. Das setzt ungeahnte Kräfte frei, glaub mir!“

Bei Lillian blieb das versprochene Wunder leider aus und sie war froh, als es ans Gemüse schneiden ging. Nach dem Mittag kam Helen mit einem großen runden Weidenkorb auf sie zu.„Komm mit in die heiligen Hallen! Wir müssen das schmutzige Geschirr der Herrschaft holen.“

Lillians Herz hüpfte vor Freude. „Du meinst, ich sehe jetzt die Privaträume unseres Königs?“

„Nein, tut mir leid, Liebes, aber es sind zumindest die Privatkorridore. Das Geschirr wird von den Dienern der Herrschaft in einer Ecke des Flures abgestellt. Da packen wir es in den Korb und verschwinden wieder. Aber leg vorher deine schmutzige Schürze ab! Die Herrschaft will sicher keine Fettspritzer sehen, sollte sie uns über den Weg laufen.“ Sogleich lebte Lillian wieder auf. „Du meinst das könnte passieren?“

„Nun, einmal im Monat vielleicht.“

Der frische Keim der Hoffnung zog sich jäh wieder in seine Wurzeln zurück. Zügig stieg Lillian hinter Helen die Treppe hinauf. Die Korridore schienen endlos lang zu sein. Die gewölbte Decke über ihnen war mit zahlreichen, handgemalten Deckengemälden verziert, auf denen ausschließlich Jagdszenen zu sehen waren. Durch eine Fensterfront, mit Blick auf den Innenhof des Gebäudes, fielen die Strahlen der frühen Nachmittagssonne, so dass man die kleinen Staubpartikelchen darin tanzen sah. Unter ihren Schuhen spürte Lillian den roten dicken Teppich einsinken.

„Hier ist es“, sagte Helen. Dort stand, durch einen schweren Vorhang verdeckt, ein Tisch mit einer beachtlichen Anzahl Tassen und Tellern. Sie luden alles in den Korb und machten sich auf den Rückweg. Da öffnete sich plötzlich eine der großen Eichentüren. Zu ihrer Enttäuschung musste Lillian feststellen, dass es sich weder um König Aron, noch um seinen Sohn handelte, sondern um Clark, den Kammerdiener seiner Majestät, der ihnen den Weg versperrte.

Mit einem herablassenden Lächeln trat er vor sie hin. „Oh, unsere begnadete Erzählerin! Welch angenehme Überraschung dich hier zu sehen.“

Das Mädchen musterte ihr Gegenüber kurz. Mit seinen blonden, ordentlich zusammengebundenen Haaren und der gutsitzenden, sauberen Dienstuniform, war er ein durchaus ansehnlicher Mann. Aber irgendetwas an ihm missfiel ihr. Seinen Augen fehlte jegliche Wärme und Güte.

„Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Clark und ich bin ein großer Freund deiner Kunst. Ich hoffe, du gestattest mir, mich heute Abend erneut zu euch zu gesellen?“

Lillian antwortete zögernd aber freundlich: „Natürlich! Es darf schließlich jeder kommen, der will. Und vielen Dank für das freundliche Kompliment.“

Seine kalten Augen musterten sie und sie fühlte sich unwohl dabei.

„Oh, das ist nur die reine Wahrheit“, säuselte er. „Einen schönen Tag noch, die Damen!“

Er sah ihnen süffisant lächelnd nach. 'Wäre doch gelacht, wenn ich nicht schon heute Nacht im weichen Heu bei dieser kleinen Hexe liegen würde …'

Helen schüttelte sich übertrieben. „Da hast du dir ja einen tollen Verehrer an Land gezogen. Immer wenn ich ihm in die Augen sehe, ist mir so, als würde mir jemand einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gießen. Lass dich lieber auf nichts mit dem ein.“

Lillian machte große Augen. „Wo denkst du nur hin. Das würde mir nicht mal im Traum einfallen!“

Helen zuckte mit einer Schulter. „Dann ist es ja gut.“

Böses Spiel

Raven hatte den Tag mit einem kurzen Ausritt ins Umland begonnen. Als er zurückkam richtete ihm eine Zofe aus, dass sein Vater auf seine Anwesenheit beim Mittagessen bestand. Raven war alles andere als erfreut und entließ das arme Dienstmädchen mit einem unfreundlich gebrummten Kommentar. Als er sich schließlich zu Tisch begab, wartete sein Vater bereits etwas ungehalten.

Raven sah ihn an. Er hatte immer noch diese machtvolle Aura, die jeden in seiner Nähe einschüchterte. Das Haar des Königs war einst genauso nachtschwarz gewesen wie das seines Sohnes. Jetzt, im Alter von fünfzig Jahren, bekam es einen Silberschimmer, der seine tiefdunklen Augen noch mehr zur Geltung brachte. Es lag voll und schwer auf den breiten Schultern. Der schmale Mund wurde von einem gepflegten Bart umrandet. Als er aufstand, um seinen Sohn zu begrüßen, befanden sich beide Männer auf Augenhöhe. Raven war eine jüngere Version seines Vaters, nur trug er keinen Bart und sein Mund hatte einen weicheren Zug als der des Älteren.

„Schön dich wohlauf zu sehen, mein Sohn. Ich habe ein paar wichtige Dinge mit dir zu besprechen.“ Aron forderte ihn mit einer Geste auf, sich zu setzen.

Als das Mahl aufgetragen war, entließ er die Dienerschaft nach draußen.

„Dein Onkel James hat mir geschrieben. Er und seine Frau werden bald für ein paar Wochen zu uns kommen.“

Das waren durchaus gute Nachrichten, denn Raven mochte seinen stets zum Scherzen aufgelegten Onkel sehr gern.

„Wie es aussieht, bleibt auch seine zweite Ehe kinderlos. Er denkt darüber nach, sein Erbe eines Tages dir zu vermachen, sofern sich daran nichts ändert. Das bedeutet, dass du, gesetzt den Fall er würde vor mir sterben, Herr über seine Ländereien wirst, noch bevor du dein Amt als mein Nachfolger antrittst.“

Er machte eine Pause und holte hörbar Luft.

„Raven! Du musst endlich aufwachen! Wenn du das nicht von alleine schaffst, werde ich dich dazu zwingen müssen. Erspare uns beiden diese Schmach. James weiß noch nichts von deinem Lebenswandel und wähnt sein Erbe bei dir in sicheren Händen. Du bist für ihn wie ein eigener Sohn.“

Raven war der Appetit gründlich vergangen. „Ich habe nicht darum gebeten, als Thronfolger geboren zu werden, genauso wenig wie um das Erbe von Onkel James!“, erwiderte er zähneknirschend.

Das war zu viel für die Geduld Arons. Er schlug mit der Faust auf den Tisch, so dass die Gabeln von den Tellern sprangen.

„Es reicht!“, schrie er. „Du wirst deine Verantwortung in Zukunft wahrnehmen! Die einfachen Bauern hat auch keiner nach ihren Geburtswünschen gefragt. Sie meistern ihr Leben trotzdem, denn es bleibt ihnen nichts anderes übrig. Ihnen stellt keiner das Essen auf goldenen Tellern auf den Tisch und schüttelt ihnen die Betten auf. Sie arbeiten von früh bis spät, damit du ein Leben in Luxus und Verschwendung führen kannst. Du bist ihnen verdammt noch mal etwas schuldig. Und ich sorge dafür, dass du deine Schuld begleichst. Das schwöre ich, beim Andenken deiner Mutter!“

Das wiederum war mehr als Raven verkraften konnte. So hatte sich sein Vater noch nie gebärdet. „Lass Mutter aus dem Spiel!“ Er sprang auf und verließ wutentbrannt den Raum.

Krachend ließ er seine Schlafzimmertür ins Schloss fallen. Seine Halsschlagader pochte, als wenn sie platzen wollte. „Verflucht!“, schrie er, während er ein Glas an die Wand schmetterte. Das Schlimmste an allem war, dass sein Vater, mit jedem Wort, das er gesagt hatte, im Recht war. Und Raven wusste das leider nur zu gut. Er nahm einen kräftigen Schluck Branntwein. Heiß rann die bernsteinfarbene Flüssigkeit seine Kehle hinunter, um sich dann brennend in seinem leeren Magen auszubreiten. Irgendetwas musste geschehen, sonst ging er vor die Hunde.

Da fiel ihm ein, dass er heute Abend noch etwas vorhatte und ein leises Gefühl der Vorfreude verdrängte seine Wut ein wenig. Als die Sonne unterging stieg er wieder aufs Dach. Diesmal hatte er eine Stelle gewählt, von der aus man direkt auf das Gesindehaus und die Menschen davor blicken konnte. Er wollte sehen wer die Frau war, zu der diese Stimme gehörte, die sich wie Balsam auf die Wunden seiner Seele legte. Vom Klang her schien sie fast noch ein Mädchen zu sein.

Dann war der Moment gekommen, als die Unterhaltungen verstummten und nur noch sie zu hören war. Er kniff die Augen zusammen, um auf die Entfernung so viel wie möglich zu erkennen. Was er sah, stimmte mit seinen schönsten Vorstellungen überein. Ihr Gesicht wurde vom Feuer angeleuchtet. Er konnte es nur schemenhaft erkennen, aber es schien fein geschnitten. Was ihn am meisten beeindruckte, war die lockige Haarpracht, die das Mädchen einhüllte. Er hielt seinen Blick fest auf sie gerichtet, während er ihr zuhörte.

John hatte Helen fest in den Arm genommen, während sie gemeinsam mit den anderen Lillians Geschichte lauschten. Nun, einige Zeit später, saßen nur noch die drei Freunde am Feuer, welches langsam niederbrannte. John flüsterte seiner Verlobten etwas ins Ohr und sie lächelte entschuldigend, mit einem Seitenblick zu Lillian. Die hatte es bemerkt und sagte verständnisvoll: „Nun geht schon ein Stückchen spazieren! Ich warte hier am Feuer auf euch.“ Sie lächelte ihnen zu.

„Können wir dich wirklich alleinlassen?“, fragte Helen besorgt.

„Was soll mir hier schon zustoßen?“, wehrte Lillian ab. „Jetzt geht schon!“

Als die beiden in der Dunkelheit verschwunden waren, hörte sie ein leises Räuspern hinter sich. Erschrocken fuhr sie auf. „Wer ist da?“

Aus dem Dunkel trat ein Mann hervor. Clark, der Kammerdiener. Er schien leicht erregt zu sein, als er sich ihr näherte. „Sind die Turteltauben fort?“ Er grinste süffisant und blickte in die Richtung in die das Paar eben verschwunden war. „Beneidenswert!“ Dann blieben seine Augen flackernd an Lillian hängen. „Deine Geschichte war wieder sehr spannend. Und der Held hat doch noch erwartungsgemäß seine Auserwählte bekommen. Aber was hältst du davon? Wollen wir es deinen Freunden gleichtun und einen kleinen Nachtspaziergang machen?“

Lillian bekam es mit der Angst zu tun, als sie das lüsterne Glitzern in seinen kalten Augen sah. „Oh, nein danke! Ich wollte eh gerade zu Bett gehen.“ Schnell drehte sie sich um. „Gute Nacht!“

Doch er verstellte ihr den Weg. „Willst du mich auf den Arm nehmen? Ich habe gerade gehört, wie du deiner Freundin gesagt hast, du würdest auf sie warten. Die stellt sich bestimmt nicht so zimperlich an! John wird seinen Spaß haben. Und ich werde meinen auch noch bekommen!“

Er riss sie an sich und begann mit seinen Lippen ihren Ausschnitt abzutasten. Sie trat ihm mit voller Wucht in seine vor Lüsternheit pulsierenden Weichteile. Mit einem erstickten Schrei sank er zu Boden. Lillian nutzte die Gelegenheit und rannte ins Haus.

„Dafür wirst du mir bezahlen, du kleine Schlampe. Such dir schon immer eine neue Stellung, denn lange wirst du hier nicht mehr bleiben!“

Raven hatte die ganze Szene beobachtet. Es war alles so schnell gegangen. Gerade als er dem Mädchen zur Hilfe eilen wollte, hatte sie sich schon selbst befreit. Er nahm sich vor, diesen frisch kastrierten Balzhahn im Auge zu behalten …

Lillian war völlig verstört zu Bett gegangen. Als Helen heimkam, stellte sie sich schlafend. Sie nahm sich vor, keinem etwas von dem Übergriff zu sagen. Sie fühlte sich auch so schon schmutzig genug, ohne ihre Fragen und besorgten Blicke ertragen zu müssen.

Die Arbeit ging ihr am nächsten Tag nur schwer von der Hand und sie war auch nicht sehr gesprächig.

Als Lillian dann gleich nach Dienstschluss ins Bett wollte, wurde Helen misstrauisch. „Was ist los mit dir? Du sagst den ganzen Tag kein Wort. Bist du jetzt doch böse wegen gestern Abend? Du hast doch gesagt, es macht dir nichts aus.“

„Nein, es ist nichts. Ich habe nur Kopfschmerzen.“

Die Freundin schaute sie misstrauisch an. „Hm, du würdest es mir doch sagen, oder?“

Lillian rang sich ein Lächeln ab. „Natürlich!“ Sie streichelte Helen beruhigend den Arm.

„Würdest du mich bei den anderen entschuldigen?“

Helen nickte und ließ sie allein. Lillian wusste nicht, wann sie wieder in der Lage sein würde, entspannt mit den anderen am Feuer zu sitzen. Im Moment hätte sie immer das Gefühl, die kalten Augen dieses Mistkerls würden in der Dunkelheit lauern.

Lillian war froh darüber, dass die Freunde sie nicht zu sehr bedrängten und ihre Ausreden an den folgenden Abenden akzeptierten.

Weniger froh darüber war Raven. Er konnte sich denken, warum sie sich zurückgezogen hatte, aber er wollte wieder ihre Stimme hören. Sie war wie eine Medizin, die ihm Linderung, vielleicht sogar Heilung verhieß, von der er aber nur eine kleine Dosis probieren durfte. Es musste doch einen Weg geben.

Die nächsten Tage verliefen ohne besondere Vorkommnisse und langsam fühlte Lillian sich wieder besser. Sie versuchte Clark aus dem Weg zu gehen, so gut es ging. Als sie wieder einmal mit Helen das Geschirr abholen wollte, bemerkte diese, dass ein Henkel ihres Korbes locker war. „Warte kurz hier und stapele schon mal alles. Ich hole schnell einen neuen!“, sagte sie und war schon verschwunden.

Als Lillian alles vorbereitet hatte und die Freundin noch nicht zurückgekehrt war, beschloss sie, sich ein wenig umzusehen. Neugierig ließ sie ihren Blick schweifen.

Völlig unerwartet wurde sie von der bekannten kalten Stimme Clarks aufgeschreckt: „Hab ich dich also auf frischer Tat ertappt!“, rief er lauter als nötig.

Lillian wusste nicht, wovon er sprach und sah ihn verständnislos an.

Vom Lärm angelockt kamen zwei Zofen hinzu.

Im selben Moment öffnete sich eine Tür und Raven stand da, den Blick kritisch auf die Szene gerichtet. „Was ist hier los?“, fragte er und sah den Diener misstrauisch an.

Dieser hob einen Silberleuchter, den er schon die ganze Zeit in der Hand hielt, in die Höhe. „Ich habe diese Küchenmagd erwischt, wie sie hier herumschlich. Diesen Leuchter habe ich zwischen ihren Röcken gefunden. Sie ist eine Diebin!“

Lillian brachte kaum einen Ton heraus, so schockiert war sie von der Unverfrorenheit dieses Mistkerls. „Das ist nicht wahr, ich …“

Raven gebot ihr zu schweigen. Er wandte sich an Clark. „Du bist ein wenig zu eifrig, mein Lieber! Ich selbst habe ihr diesen Leuchter gegeben, damit er mal ordentlich poliert wird. Es ist eine Schande, wie schludrig hier einige ihren Dienst ausüben. Soweit ich weiß, gehört es zu deinen Pflichten, so etwas zu sehen. Also kümmere dich in Zukunft besser um deine eigenen Aufgaben, bevor du über unschuldige Küchenmädchen herfällst. Es könnte sein, dass wir sonst deinen Platz hier neu besetzen müssen.“ Bei den letzten Worten ging er ganz nah an das Gesicht des Dieners heran und setzte eine unmissverständliche Miene auf.

Clark durchfuhr es wie ein Blitz. Der Prinz musste irgendwie von der Sache am Feuer erfahren haben. Wieso setzte er sich aber so für das kleine Miststück ein? Wahrscheinlich wollte er sie selber in sein Bett holen. Aber er war der Prinz. Warum so ein Theater? Soviel Clark wusste, waren Ravens ritterliche Ambitionen bei dessen anderen Gespielinnen auch nicht nötig gewesen. Er zog sich mit einer Verbeugung zurück und beschloss, seine Rachepläne auf später zu verschieben. Auch die Zofen waren an ihre Arbeit zurückgekehrt und Lillian und Raven standen sich nun allein gegenüber.

„Ich habe wirklich nichts Unrechtes getan, Herr, das müsst Ihr mir glauben“, stammelte sie.

„Davon gehe ich aus“, entgegnete er mit ironischem Unterton.

Lillian war verunsichert. „Tausend Dank! Ich stehe in Eurer Schuld“, brachte sie heraus.

Raven wollte das Mädchen nicht ausnutzen, aber er konnte der Versuchung nicht widerstehen. „Du hast recht. Und deshalb erwarte ich dich heute Abend zur achten Stunde in meinen Privatgemächern. Dort werde ich dir sagen, wie du dich revanchieren kannst.“

Als er Lillians entsetzten Gesichtsausdruck bemerkte, erschrak er selbst und räusperte sich. „Keine Angst, es wird dir nicht das Geringste geschehen, solange du nur erscheinst.“

Etwas bestimmter fügte er hinzu: „Ich erwarte dich pünktlich! Mein Diener wird dich am Dienstboteneingang abholen und dann ungesehen zu mir bringen. Und bewahre Stillschweigen!“

Gerade als er sich von ihr abwandte, tauchte Helen wieder auf. Fragend blickte sie ihre völlig aufgelöste Freundin an. „Was war das denn?“

Lillian fasste nach dem Korb. „Lass uns nur schnell von hier verschwinden! Ich erzähle dir später alles.“

Zum Feierabend ließ Helen sich nicht länger vertrösten.

„Also gut“, sagte Lillian. „Aber lass uns einen Ort aufsuchen, an dem uns niemand belauschen kann.“

Als sie einen geeigneten Platz gefunden hatten, forderte sie von Helen einen Eid, dass jedes Wort, das sie ihr jetzt sagte, geheim blieb. Diese runzelte die Stirn, tat aber was von ihr verlangt wurde. Dann erzählte Lillian ihr alles. Angefangen von Clarks Angriff am Lagerfeuer bis hin zu den neuesten Ereignissen.

Helen stieß die Luft aus, die sie vor Aufregung angehalten hatte. „Nun wird mir einiges klar. Aber willst du wirklich heute Abend zu ihm gehen? Du kennst seinen Ruf!“

„Ja, ich weiß. Aber was bleibt mir übrig? Er ist schließlich der Prinz und ich habe ihm zu gehorchen. Außerdem habe ich wirklich nicht das Gefühl, dass er mir etwas tun will.“ Helen holte tief Luft. „Dann hoffen wir, dass dich dein Gefühl nicht im Stich lässt.“