Kitabı oku: «Die Erzählerin von Arden», sayfa 4

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Der Salon hatte sich geleert und Raven trank sein Glas aus, um anschließend zu Bett zu gehen. Eigentlich fragte er sich jedes Mal nach einem solchen Abend, wozu er diese Leute überhaupt einlud. Sie waren ihm alle so egal! Jeder von ihnen schien sich mehr zu amüsieren als er selbst. Er betrat sein Schlafzimmer und zündete eine Lampe an. Als er sich seines Hemdes entledigt hatte, trat er ans Fenster und blickte für einen Moment in die Nacht. Plötzlich hörte er das leise Rascheln von Stoff. Er sah sich um und suchte nach der Geräuschquelle. Was er dann fand, ließ ihm den Mund offen stehen.

Aphrodite musste vom Olymp gestiegen sein!

Da stand eine Göttin vor ihm, mit nichts am Leib als ein paar Seidenstrümpfen an endlos langen Beinen. Er kannte sie und hatte auch schon ihre Schönheit bemerkt, aber das hier übertraf alles, was er geahnt hatte.

„Was machst du hier?“, fragte er stockend.

„Ich will Euch den Himmel zeigen, mein Prinz“, sagte sie und trat nah an ihn heran. Als sie mit ihren langen Fingern zart über seine Brust strich, wollte er sie haben. Bald stellte er fest, dass nicht er die Frau verführte, sondern sie ihn. Aber nicht so, dass er sich unterlegen gefühlt hätte, sondern auf eine Weise, die ihn trotzdem als Sieger aus der Situation herausgehen ließ. Es glich einem Feuerwerk der Lust, das zwischen ihnen explodierte. Als sie beide erschöpft nebeneinander im Bett lagen, wusste er, dass ihn keine der anderen Damen mehr befriedigen konnte.

Ab diesem Tag war Ester seine Geliebte. Ihr Plan war aufgegangen. Sein Herz gehörte ihr zwar nicht, aber sein Körper war ihr hörig. Sie wusste, dass sie sich nicht in ihn verlieben durfte. Dieses Arrangement würde nicht von Dauer sein, da er irgendwann eine Adlige heiraten musste und sicher zu loyal war, um sich dann noch eine Geliebte zu halten. Also blieb ihr nichts weiter übrig, als die Zeit zu genießen, die sie hatte und alle anderen Frauen von ihm fernzuhalten. Das Verhältnis mit Clark behielt sie trotzdem bei, denn er konnte ihr sicher noch den einen oder anderen Gefallen erweisen.

Esters Leben wurde nahezu perfekt, als einen Monat vor ihrer geplanten Hochzeit ein Brief eintraf, aus dem hervorging, dass der alte Lord Aberdeen einer schweren Krankheit erlegen war. Ihre Freude darüber wurde noch durch die Mitteilung gekrönt, dass er seine Braut in seinem Testament vorsorglich mit einer netten Summe bedacht hatte.

Sicher - das ganze Erbe wäre wesentlich lukrativer gewesen, aber so musste sie wenigstens nicht mit dem alten Kerl ins Bett kriechen. Zum Glück gab es bis zum heutigen Tag keinen würdigen Nachfolger.

Nun hatte sie nur noch ein Problem: Sie musste herausfinden, was seit Kurzem mit dem Prinzen nicht stimmte.

Freunde

Lillian und Raven lernten sich unterdessen besser kennen. Die anfängliche Unsicherheit zwischen ihnen war einem eher vertraulichen Verhältnis gewichen. Manchmal unterhielten sie sich einfach nur über verschiedene Dinge. Lillian erzählte ihm alles, was er über ihr Leben wissen wollte. Von ihrer Kindheit auf dem kleinen Hof, den lustigen Streichen, die sie und ihr Bruder manchmal ausgeheckt hatten und auch von den tragischen Begebenheiten in der Familie. Er dagegen hielt sich in auffallender Zurückhaltung, wenn es um seine eigene Vergangenheit ging, so dass sich Lillian eines Tages ein Herz fasste und ihn nach seiner Kindheit fragte.

Er dachte einen Moment angestrengt nach und schien hin und her gerissen, doch dann hatte er sich wohl entschieden. Er stand auf, öffnete die Salontür und bat Lillian ihm zu folgen. Vor dem lebensgroßen Porträt einer schönen Frau in edlem Gewand blieb er stehen. „Das ist – war meine Mutter, Königin Anne.“

Lillian sah Raven an und hätte ihn am liebsten berührt, als sie seinen traurigen liebevollen Blick bemerkte, mit dem er das Bild betrachtete.

„Sie war sehr schön“, meinte sie.

„Ja, das war sie und sie konnte, so wie du, wunderschöne Geschichten erzählen. Der ganze Hof lauschte ihr gespannt, wenn sie das tat. Am schönsten war es allerdings, wenn wir beide ganz allein waren. Sie hat mich in ihren Armen gehalten und erzählt. Einmal, ich war etwa sieben Jahre alt und erkrankte an Diphtherie. Ich hatte Fieber und konnte schlecht atmen. Sie ließ mich samt meinem Bettzeug aufs Dach tragen, damit ich so viel Luft bekam wie möglich. Dort hat sie den ganzen Tag und die ganze Nacht bei mir gesessen und mich mit Rittern, Drachen und Zauberern von meinem Leiden abgelenkt.“ Ravens Blick ging ins Leere und ein wehmütiges Lächeln umspielte seinen Mund. Er wirkte so zerbrechlich ...

„Komm mit!“ Plötzlich nahm er die völlig überraschte Lillian an die Hand und zog sie durch die Salontür hinaus auf den Korridor. Einem glücklichen Umstand verdankten sie es, dass ihnen niemand begegnete, während er sie mehrere Treppen hinaufzog. Dann standen sie auf dem Dach.

„Siehst du? Genau hier.“ Er zeigte auf die begehbare Fläche. Dann setzte er sich auf seine Schräge. „Komm zu mir, Zauberin der Worte, und erzähle mir etwas Schönes!“

Lillian setzte sich und schaute sich um. Der Platz war atemberaubend. Über ihnen der weite Sternenhimmel und zu ihren Füßen die Lichter der Stadt.

„Was ist damals eigentlich geschehen?“, fragte sie einem plötzlichen Impuls folgend. „Es wird gesagt, dass die Königin an den Folgen eines Unfalls gestorben ist. Aber niemand weiß Genaueres.“

Raven sprang auf. „Das geht auch niemanden etwas an!!! Verstehst du? Niemanden!“ Er war plötzlich außer sich.

Lillian entfernte sich ein paar Schritte von ihm. Als er bemerkte, dass sie Angst hatte, zwang er sich zur Ruhe. „Tut mir leid! Ich wollte dich nicht erschrecken. Aber ich will nicht, besser gesagt, ich kann nicht darüber reden.“

Sie legte ihm vertraulich eine Hand auf den Arm und er ließ es zu. „Hoheit, ich glaube aber, dass dies der einzige Weg ist, Eure Probleme zu lösen. Eure Seele kann nicht gesund werden, indem Ihr die Vergangenheit mit Alkohol oder Geschichten verdrängt. Ihr müsst mit jemandem über alles reden, dann geht es Euch sicher besser. Habt Ihr denn niemanden, der Euch nahe steht? Dem Ihr vertrauen könnt? Was ist mit Eurem Vater?“

Er stieß einen zischenden Laut aus. „Der ist der Letzte, dem ich davon erzählen kann.“

„Dann irgendjemand anderem, dem ihr vertraut?“

Er sah sie eine Weile nachdenklich an. „Du vielleicht? Dir vertraue ich!“

Lillian schlug das Herz bis zum Hals. Er wusste nicht, dass sie Helen über ihre Treffen informiert hatte. Sicher, sie hatte der Freundin nichts über die Inhalte ihrer Gespräche berichtet, trotzdem fühlte sie sich irgendwie schuldig.

„Das ist mir eine große Ehre, Hoheit! Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich die Richtige dafür bin“, sagte sie schnell.

„Ich mir schon. Aber können wir diesen Unsinn nicht lassen? Wenn wir unter uns sind, musst du mich nicht mit 'Hoheit' ansprechen!“

Diese Vorstellung war sehr verlockend, aber ... „Nein, das geht nicht!“, sagte Lillian. „Ich danke Euch sehr, aber das kann ich nicht.“

Er lachte. „Wenn dich das so erschreckt, dann lass es halt!“

Dann war es wieder still zwischen ihnen. Lillian biss sich auf die Lippe und wollte gerade etwas sagen, als er zu sprechen begann.

„Meine Eltern verband eine große Liebe. Sie waren sehr glücklich, als ich zur Welt kam - warum auch immer. Meine Mutter erwartete nach mir noch einmal ein Kind, verlor es aber bald. Dann, Jahre später, als sie die Hoffnung schon aufgegeben hatten, wurde sie doch noch einmal schwanger. Ich war damals vierzehn. Sie hatten beschlossen, niemandem etwas zu sagen, solange es sich geheim halten ließ. Du kannst dir nicht vorstellen, was es für gesellschaftliche Ausmaße annimmt, wenn sich in Königshäusern Zuwachs ankündigt. Sie wollten, für den Fall, dass wieder etwas schief gehen sollte, keinen zusätzlichen, offiziellen Trubel. Auch mir sagte es anfangs noch keiner. Es war Winter und Mutter trug da immer weite Umhänge, um sich zu wärmen. So konnte sie ihren Umstand lange Zeit verbergen. Dann gab es Ärger mit einem der Nachbarreiche. Mein Vater musste für unbestimmte Zeit fort, und trug mir auf, mich um meine Mutter zu kümmern. Dabei erfuhr ich auch, dass sie schon im sechsten Monat schwanger war. Sollte irgendetwas passieren, wollte er sofort informiert werden. Dann, zwei Wochen später, rutschte Mutter bei einem Spaziergang unglücklich aus. Sie bekam Schmerzen im Unterleib und ich ließ nach dem Heiler schicken.“

Lillian wurde hellhörig. „Brian?“

„Ja. Du kennst ihn, nicht wahr?“ Lillian nickte. Er fuhr fort: „Brian stellte fest, dass bedingt durch den Sturz, die Wehen eingesetzt hatten. Er gab meiner Mutter einen Trank, der eine Frühgeburt verhindern sollte. Ich wollte sofort meinen Vater benachrichtigen, doch sie hat es mir regelrecht untersagt. Ich musste ihr schwören, ihn nicht zu verständigen. Er hätte mit seinen momentanen Pflichten genug Kummer und könnte hier eh nichts ausrichten. Da stand ich nun, zwischen der Anweisung meines Vaters und dem Wunsch meiner Mutter. Sie hatte so ein Talent, die Menschen zu überzeugen ... Also schrieb ich ihm nicht und betete, dass alles gut gehen möge. Meine Mutter durfte das Bett nicht mehr verlassen. Nach zwei Wochen setzten die Wehen jedoch erneut ein und diesmal ließen sie sich nicht mehr vertreiben. Das Baby, ein Junge, hatte kaum eine Überlebenschance. Er war noch zu klein. Es gab Komplikationen. Sie verlor Blut, zu viel Blut. Ich wurde zu ihr gerufen.

Bevor sie starb, nahm sie meine Hand und sagte, ich müsse jetzt stark sein. Sie bat mich, Vater auszurichten, dass sie ihn immer geliebt habe. Ich sollte ihm aber verheimlichen, wie lange es ihr schon so schlecht ging. Sie wollte nicht, dass er mir die Schuld dafür gab, dass er nicht bei ihr sein konnte, als sie ihn brauchte. ... Aber verdammt, Lillian! Es war meine Schuld. Ich hatte seine Anweisungen und hätte mich in dieser Situation nicht von ihr überreden lassen dürfen. Ich war so dumm, nicht an die Folgen zu denken.“

Lillian unterbrach ihn. „Aber Ihr wart damals fast noch ein Kind!“

Er zischte abweisend durch die Zähne. „Als er von dem Unglück erfuhr, kam Vater sofort zurück. Ich erzählte ihm, dass Mutter gestürzt und dann alles ganz schnell gegangen wäre. Damit war die Lüge geboren. Er saß an ihrem Sarg und fragte sie immer wieder, warum sie nicht auf ihn gewartet hätte. Da brach etwas in mir entzwei. Ich hatte ihn um seinen Abschied betrogen. Ich fühlte mich so schuldig - bis heute noch!“

Nun bahnten sich seine lang zurückgehaltenen Gefühle ihren Weg. Lillian nahm Raven spontan in die Arme und sie hielten sich fest umschlungen. So standen sie eine Weile, bis er sich von ihr löste und verlegen die Tränen wegwischte.

„Und das Baby?“, fragte sie vorsichtig.

„Mein Bruder war noch zu schwach ... und so winzig. Er ist eine halbe Stunde nach seiner Geburt gestorben.“

Lillian musste an ihre eigene Vergangenheit denken. Sie hatte ja ganz ähnliches erleben müssen. Solche Schicksale machten keine Rangunterschiede. Der Tod war unbestechlich.

„Und Brian?“

„Er musste meiner Mutter dasselbe Versprechen geben. Wir haben nie wieder darüber geredet.“

„Aber jetzt, soviel später, könnt Ihr Eurem Vater doch sicher alles erzählen.“

Er wehrte ab. „Nein, er hält sowieso nur sehr wenig von mir. Und das mit Recht. Es würde unserem Verhältnis nur den Rest geben.“

„Unsinn! Er ist Euer Vater und will sicher, dass es Euch gut geht. Schließlich ist die Vergangenheit doch der Grund für all die heutigen Probleme. Wenn Ihr es ihm nicht sagt, werdet Ihr Eure Schuldgefühle nie los.“

Er sah sie mit festem Blick an. „Nein, ich habe es ihr versprochen!“

„Aber Eure Mutter ist tot! Ihr lebt! Sie würde nicht wollen, dass ihr Kind so leidet. Und sie würde auch nicht wollen, dass Ihr und Euer Vater so auf Distanz zueinander steht.“

„Nein!“, sagte er mit Nachdruck und sie ließ das Thema erst einmal fallen.

„Gehen wir wieder nach unten!“, sagte er kurze Zeit später kühl. „Bleib hinter mir, damit ich dich unbemerkt zurückbringen kann!“

Sie folgte ihm und war froh, als sie in seinen Räumen ankamen.

Er schwieg.

„Ich werde jetzt gehen“, sagte Lillian leise.

„Warte!“ Er sah sie entschuldigend an. „Es tut mir leid. Ich danke dir, Lillian. Ich bin froh, einem Menschen wie dir begegnet zu sein.“ Sie spürte, wie sie rot wurde.

„Hör zu! Wünsche dir etwas, irgendwas!“, bat er.

Sie dachte nach. „Ich würde gern mal die königliche Bibliothek sehen.“

Er stutzte. „Weiter nichts? Du interessierst dich für Literatur?“

„Bücher sind meine Leidenschaft. Nur habe ich zu selten Zugang zu ihnen.“

„Gut! Wenn es weiter nichts ist … Das wird sich machen lassen“, versprach er.

Dann verabschiedeten sie sich in dem Gefühl, einem Freund gegenüberzustehen.

Überraschungen

Lillian war noch völlig in ihren Gedanken versunken, als sie von Helen beinahe umgerannt worden wäre. Diese war total außer Puste und hatte vor Aufregung rote Flecken am Hals.

„Du glaubst nicht, was passiert ist!“, keuchte sie.

„Nein, aber ich werde es sicher in der nächsten Minute erfahren“, lachte Lillian.

„John und ich, wir können endlich heiraten!“, schrie Helen sie förmlich an, bevor sie sich Lillian an den Hals warf.

„Das ist ja eine großartige Neuigkeit. Aber wie ging das denn so plötzlich?“

Sie setzten sich unter die große alte Eiche neben dem Gesindehaus und hielten sich bei den Händen. Helen erzählte ihr, dass sich Johns Patenonkel gemeldet hatte. Er war nicht mehr der Jüngste und musste einen großen Bauernhof bewirtschaften. Er hatte nur drei Töchter, die mit ihren Männern auf deren eigenen Höfen lebten. Darum hatte er John angeboten, seinen Hof zu übernehmen und den Mädchen ihren Erbteil ratenweise abzuzahlen. Der Pate bekam von ihnen lebenslanges Wohnrecht und Versorgung im Alter zugesagt. Da er als sehr umgänglich bekannt war, machte dieser Umstand den jungen Leuten keine Sorgen. Der einzige Nachteil war der, dass sich die Freunde nun kaum noch sehen würden, denn der Hof lag eine halbe Tagesreise entfernt. Doch sie verdrängten den Gedanken daran und begannen über die Hochzeit zu reden. Sie sollte in zwei Wochen stattfinden, in einer kleinen Dorfkirche nicht weit von der Stadt. Da die Brautleute nicht gerade mit Reichtum gesegnet waren, konnten sie nur die engsten Freunde zum anschließenden Hochzeitsmahl einladen. Aber abends, wenn die Musik aufspielte, sollten alle, die gern wollten, dazu stoßen, um noch ein paar ausgelassene Stunden mit ihnen zu verbringen.

Helen würde ihr fehlen, aber Lillian freute sich von Herzen für die Freundin. In jeder freien Minute schneiderten die Mädchen an einem Kleid für die Braut. Sie hatten preiswert ein paar Meter feines Leinen und etwas Spitze erworben. Geschickt zauberten sie eine hübsche Robe daraus. Lillian sollte die Brautjungfer sein und war darauf sehr stolz. John schwärmte ihr bei jeder Gelegenheit auffällig von seinem Freund und Trauzeugen vor. Lillian konnte die Lobgesänge schon bald nicht mehr hören und fragte sich nach dem Zweck des Ganzen.

Die nächsten Treffen bei Raven verliefen ohne besondere Vorfälle. Sie hatten das Gespräch vom Dach nie wieder aufgegriffen. Lillian wusste, dass sie sehr vorsichtig damit umgehen musste und er war einmal mehr von ihrem Einfühlungsvermögen beeindruckt.

Lillian erzählte ihm, dass sie am Wochenende auf die Hochzeit wollte. Er beneidete sie um die Tatsache, sich mit echten Freunden umgeben zu können, ohne ständig im Zweifel darüber zu sein, ob deren Interesse vielleicht nur einem Titel galt. Es wuchs der Wunsch in ihm, einmal als ganz normaler Mensch, ohne Rang und Namen, unter Leuten zu sein. Und so schmiedete er einen Plan.

„Hör zu, Rufus!“, wandte er sich an seinen treuen Diener. „Du musst mir ein paar Sachen besorgen. Ich brauche etwas zum Anziehen. Etwas, was ein Bauer in meinem Alter zu festlichen Anlässen trägt. Aber es darf nichts Auffälliges sein. Und etwas, womit ich meine Haare verdecken kann. Einen Hut oder vielleicht eine Perücke. Man darf mich nicht erkennen!“ Sollte Rufus überrascht gewesen sein, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Er war durch und durch loyal und hinterfragte die Wünsche seines Herrn nie.

Am Tag der Hochzeit herrschte große Aufregung in Emmas kleinem Häuschen. Sie hatte es sich natürlich nicht nehmen lassen, die Braut bei sich zu Hause hübsch zu machen.

Es wurde geschnürt, geflochten und gelacht. Auch die Brautjungfer musste sich Emmas Kreativität stellen. Aber das Ergebnis konnte sich auf jeden Fall sehen lassen. Beide sahen bezaubernd aus. Helen hatte ihr Haar kunstvoll aufgesteckt und weiße Bänder eingeflochten. Ihr Kleid war cremefarben, mit einem gut sitzendem Mieder und Spitze am Ausschnitt. Lillian trug ihr himmelblaues Sonntagskleid, das gut zur Farbe ihrer Augen passte. Sie hatte nur einen Teil ihrer Haare aufgesteckt und kleine Margeriten hineingebunden. Der Rest ihrer Haarpracht fiel ungehindert über die schmalen Schultern.

Als sie zur Kirche kamen, wartete der völlig aufgeregte Bräutigam schon auf sie. Nie würde Lillian sein Gesicht vergessen, als er Helen das erste Mal sah. Verzückte Rührung und zugleich so viel Stolz auf seine schöne Braut, waren darin zu erkennen. Es stand so viel Liebe in seinen Augen.

Unwillkürlich wünschte sich Lillian, dass auch sie eines Tages einmal solche Gefühle bei einem Mann auslösen würde.

Als die Trauung vorbei und John und Helen nun offiziell ein Ehepaar waren, wurden sie zunächst mit Reis, als Zeichen der Fruchtbarkeit, und anschließend mit guten Wünschen überschüttet.

Dann ging die kleine Gesellschaft in den Dorfkrug, um dort zu speisen. Mit dabei waren, neben einer Handvoll Verwandten, natürlich Emma und Brian, sowie Johns Freund und Trauzeuge Less. Er war ein stämmiger Kerl mit freundlichen braunen Augen und saß direkt neben Lillian als ihr Tischpartner. Nach ein paar Anfangsschwierigkeiten verstanden sie sich ganz gut. Less war eher schüchtern und nicht gerade als sehr unterhaltsam zu bezeichnen, aber er gab sich sichtlich Mühe. Gelegentlich bemerkte Lillian den zufriedenen Ausdruck im Gesicht des Bräutigams, wenn er zu ihnen herüber sah. Sie schob das auf den Anlass, bis Helen sie lächelnd warnte: „ Pass auf, meine Liebe! John hat vor, euch beide zu verkuppeln. Ich habe ihm zwar schon gesagt, dass er sich das aus dem Kopf schlagen kann, aber Männer sehen halt nur das, was sie sehen wollen.“ Sie lachten herzlich miteinander.

„Du siehst glücklich aus!“, stellte Lillian fest.

Helen sah zu John hinüber. „Oh ja, das bin ich auch!“

Lillian nahm ihre Hand. „Er ist ein guter Mann, Helen.“

Diese sah ihr direkt in die Augen. „Er ist der Beste, Lillian, der Allerbeste!“

Es war schon September, aber noch immer sehr warm. Am Abend wurden draußen die Lichter angezündet und Musikanten spielten zum Tanz auf. Auch die kleine Hochzeitsgesellschaft begab sich zu dem bunten Treiben. Zur Freude des Paares fanden sich auch noch eine ganze Anzahl Leute vom Schloss ein, um mit ihnen ihren letzten Abend hier zu verbringen. Sie tranken Wein und tanzten ausgelassen miteinander. Auch Less rang sich ab und an zu einem Tänzchen mit Lillian durch.

Völlig außer Puste, lehnte sie sich später an einen Baum, um zu verschnaufen und dem Treiben ungestört zuzusehen, als sie eine vertraute Stimme vernahm.

„So außer Atem, Zauberin der Worte?“

Erschrocken fuhr sie herum. Sie blickte direkt in die vertrauten schwarzen Augen. Das war aber auch alles, was sie an Raven wiedererkannte.

Er trug ein weißes Leinenhemd, das am Ausschnitt geschnürt wurde. Dazu Kniehosen, Strümpfe und Lederschuhe. Sein Haar war zu einem Zopf gebunden und unter einem breitkrempigen Hut versteckt. Und obendrein hatte er sich einen falschen Schnurrbart angeklebt. Kurz, er sah aus wie ein Bauernbursche in Sonntagstracht.

„Oh mein Gott! Hoheit! Was tut Ihr hier!“ Entfuhr es ihr etwas lauter als gewollt.

„Pssst! Du lässt noch meine ganze Tarnung auffliegen. Und nenne mich um Himmels willen nicht Hoheit! Wenn herauskommt, dass ich hier bin, enterbt mein Vater mich sofort. Nenne mich einfach bei meinem zweiten Vornamen! James, nach meinem Onkel.“

Als Raven bemerkte, dass sie widersprechen wollte, fügte er noch hinzu: „Das ist ein Befehl!“

Das musste sie wohl hinnehmen. „Und 'James', was sollte man noch so von Euch wissen?“, fragte sie bissig.

„Von 'dir'! Leute eures Standes sprechen sich doch so an? Nun, wenn jemand fragen sollte, dann bin ich ein alter Bekannter, den du und dein Bruder auf euren Reisen kennengelernt habt und zufällig gerade in der Gegend. Reicht das?“

„Ich denke schon, aber ...“

Er legte ihr den Finger auf die Lippen. „Nichts aber!“, flüsterte er. „Lass mir den Spaß, Lillian! Bitte!“ Er blickte über ihre Schulter.

„Ähm, wir sollten irgendwas tun, die Ersten schauen schon zu uns herüber.“

Tatsächlich waren sie ins Visier des guten Less' geraten, der sich gerade daran machte, zu ihnen zu kommen.

„Wir müssen tanzen!“, sagte sie knapp.

„Bitte? Ich beherrsche eure Tänze aber nicht.“

„Egal! Dann lernt Ihr - du es eben.“

Und schon war Less bei ihnen. Noch bevor er Lillian auffordern konnte, ging sie zur Gegenoffensive über. Sie nahm Raven beherzt an die Hand und sagte: „Sieh mal Less, ich habe hier überraschend einen alten Freund getroffen. Wir haben uns so viel zu erzählen. Entschuldige mich bitte!“

„Oh! Schon in Ordnung“, murmelte Less betrübt.

Als sie sich unter die anderen Paare gemischt hatten, stellte sich rasch heraus, dass Raven ein Naturtalent war, wenn es um die einfachen Tänze ging.

„Habe ich mich da etwa in eine beginnende Romanze gedrängt?“, fragte er zynisch.

„Nein, natürlich nicht!“, blaffte sie zurück.

„Nun sei nicht gleich wütend, aber der Kerl hat eindeutige Absichten.“

„Ja, der und der Bräutigam.“

Raven blieb der Mund offen stehen. „Am Tag seiner Hochzeit?!“, fragte er schockiert.

„Nein, so ist es doch nicht! Ich meine nur, der will auch gern, dass ich und sein Freund ein Paar werden.“

Sein Ausdruck entspannte sich etwas. „Ach so! Und du? Hast du gar kein Interesse an ihm?“

„Nein, gar keins!“

Er sah sie aufmerksam an. „Gibt es denn gar keinen Burschen in deinem Leben? Ich meine, ein hübsches Hühnchen wie du?“ Damit war er zu weit gegangen. Trotzig wollte sie ihn stehen lassen, aber er hielt sie schnell fest.

„Entschuldige bitte! Das war ein blöder Witz“, sagte er und legte seine unschuldigste Miene auf.

Dieser Kerl machte sie noch wahnsinnig! „Das geht Eu... dich sowieso nichts an!“, giftete sie zurück. Sie tanzten eine Weile schweigend.

„Und? Gibt es nun einen?“, hakte er nach.

„Nein!“, stöhnte Lillian genervt.

Er wusste nicht warum, aber irgendwie war er über ihre Antwort erleichtert.

„Komm, lass uns nicht streiten. Ich habe schließlich nicht oft die Gelegenheit, einer echten Bauernhochzeit beizuwohnen“, bat er.

„Schon gut, aber keine Sticheleien mehr!“, warnte sie ihn.

Er legte sich theatralisch die Hand aufs Herz. „Versprochen!“

Sie tanzten den ganzen Abend und tranken ab und zu einen Becher Wein. Less hatte den anderen mitgeteilt, wer der große Unbekannte war. Lillian und Raven vermieden es jedoch länger in deren Nähe zu bleiben, um seine Tarnung nicht zu gefährden. Niemand erwartete hier den künftigen Thronfolger und so ging alles gut, bis Lillian plötzlich Emmas konzentrierten Blick wahrnahm. Sofort läuteten bei ihr die Alarmglocken. Als Raven gerade einmal verschwand, um seinen natürlichen Bedürfnissen zu folgen, kam Emma zu ihr.

„Ein interessanter Mann, dein Bekannter. Du sagst, er ist nur auf der Durchreise hier?“

Lillian hasste es, sie anlügen zu müssen, hatte aber keine Wahl.

„Ja und er muss morgen schon wieder fort. Wir sind froh, uns hier getroffen zu haben. Er war immer wie ein zweiter Bruder für mich.“

Emma hatte noch immer zu viel Skepsis im Gesicht. „Ähmm, ich hätte schwören können, dass ich ihm schon mal begegnet bin!“

Lillian überlegte krampfhaft. „Das kann schon sein, schließlich hält er sich viel auf Märkten und Festen auf. Er spielt Theater ... bei einer fahrenden Truppe.“

Emma entspannte sich sichtlich. „Das wird es dann wohl sein. Er sieht ja auch so gut aus!“ Sie zwinkerte Lillian vielsagend zu.

„Oh nein, Emma, da täuscht du dich aber gewaltig. Die Wahrscheinlichkeit, dass er und ich ein Paar werden, ist ungefähr so groß wie die, dass ich den Prinzen heirate. Wir haben wirklich nur geschwisterliche Gefühle füreinander.“

Emma fand diesen Vergleich sehr erheiternd. Die Gefahr schien gebannt.

Als Raven wieder zu ihnen stieß, zog Lillian ihn schnell zur Seite.

„Komm mit, James! Lass uns tanzen!“

Raven genoss diese Vertrautheit, auch wenn sie nur gespielt war. Er hielt Lillian fest im Arm, als sie sich zur Musik bewegten.

„Ihr müsst sofort verschwinden!“, flüsterte sie ihm zu. „Emma ist schon stutzig geworden.“

Er schüttelte den Kopf. „Keine Chance! So gut wie heute, habe ich mich seit einer Ewigkeit nicht mehr gefühlt.“

Sie wurde wütend ob so viel Unvernunft. „Seid vernünftig! Was, wenn es schief geht?“

Raven zog ein Gesicht, als würde er angestrengt nachdenken. „Dann werde ich einfach behaupten, du hättest mich entführt und dann verhext.“

Lillian trat ihm in sein hochwohlgeborenes Schienbein, so dass er kurz zusammenzuckte.

„Könntest du vielleicht für einen Moment ernst bleiben ... James?“, fragte sie, als sie die Blicke eines benachbarten Paares auf sich fühlte.

„Bravo! Du hast das 'Du' herausgebracht, ohne dich daran zu verschlucken.“

Er war unverbesserlich. Sollte er doch machen, was er wollte. Lillian ließ ihn stehen und ging zu den anderen zurück. Das Brautpaar wollte sich gerade zurückzuziehen. John hatte für diese Nacht ein Zimmer im Gasthof gemietet, da sie hier ja keine gemeinsame Bleibe hatten.

Helen kam zu Lillian herüber. „Ich werde morgen noch mal kurz vorbeischauen und Lebewohl sagen.“ Sie umarmten sich.

Nachdem die Frischvermählten, unter den teils ungehörigen Zurufen der Gäste, zu ihrer Hochzeitsnacht verschwunden waren, beschloss man den Heimweg anzutreten. Emma sah Lillian fragend an. Doch Raven hatte andere Pläne. Schnell ging er auf Emma zu und bat: „Meine Liebe, ich hörte schon von unserer Lillian, dass du dich wie eine Mutter um sie kümmerst. Ich kann gar nicht sagen, wie dankbar ich dafür bin, sie in so guten Händen zu wissen. Darf ich um dein Vertrauen bitten, mir den Wunsch zu erfüllen, unsere Kleine nach Hause zu geleiten. Gott weiß, wann ich sie wiedersehe. Ich bin durch und durch ein Ehrenmann und werde sie vor allen Gefahren beschützen“, schloss er seinen Vortrag theatralisch.

Damit hatte er Emma an der richtigen Stelle erwischt. Sie war so geschmeichelt, dass sie ihm sofort ihren Segen gab. Lillian musste das Theater mitspielen, da sie sich ja kaum dagegen sträuben konnte, mit ihrem brüderlichen Freund zu gehen. Das hätte am Ende nur Aufsehen erregt.

Als die anderen außer Hörweite waren, hielt sie es nicht mehr aus. „Was sollte das denn? Wieso konntet Ihr mich nicht einfach mit meinen Leuten gehen lassen? Der Abend ist jetzt schließlich vorbei!“

Er wurde ernst. „Genau das ist es! Ich will nicht, dass er schon vorbei ist.“

Raven sah aus wie ein trotziges Kind. Aber sie hatte keine Lust zum Spielball seiner Launen zu werden. Leicht genervt trat sie auf ihn zu.„Ich für meinen Teil muss jetzt nach Hause! Meine Nacht ist früh zu Ende und meine Herrschaft erwartet ordentliche Arbeit von mir.“

Er sah ein, dass sie recht hatte. Im Gegensatz zu ihm, konnte sie sich ihren Tag nicht selbst einteilen. „Noch einen letzten Tanz!“, bat er sie mit einem herzerweichenden Blick. Nun musste sie lachen und ließ sich von ihm zum Tanzplatz ziehen.

„Sieh mal, du musst nicht mal laufen. Ich bin hierher geritten. Du wirst dich in den Sattel setzen und ich gehe zu Fuß. So kannst du dich schon ein wenig ausruhen und ich muss mir nicht ganz so ein schlechtes Gewissen machen.“

„Das klingt verlockend“, gab sie nach und lies sich zu einem neuen Tanz überreden. Es fühlte sich gut an, ihm so nahe zu sein. So vertraut und sicher und richtig. Fast so, als wären sie zwei Teile derselben Sache. Er roch so gut, nach Wein und Seife. Raven schien ähnlich zu empfinden, denn er legte ihr vertraut sein Kinn auf den Scheitel. Lillian schloss ihre Augen und genoss einfach den Augenblick. Es fiel beiden schwer sich zu trennen, als die Musik eine Pause machte.

Dann brachen sie schließlich auf. Er holte sein Pferd. Es war eine schöne braune Stute mit weißer Blesse. Lillian klopfte ihr liebevoll den Hals.

„Darf ich um Euren Fuß bitten, Madame?“ Er bot ihr seine Hände als Steigbügel dar und sie ließ sich von ihm in den Sattel helfen.

Nun waren sie schon so oft allein gewesen, doch nach diesem Abend waren sich beide dieser Tatsache besonders bewusst. Es entstand ein unangenehmes Schweigen. In den Feldern ringsum zirpten die Grillen und Lillian kam es so vor, als würden die Tierchen sie auslachen.

Raven brach als erster das Schweigen. „Ihr einfachen Leute versteht es wirklich zu feiern. Ihr müsst euch nicht der Etikette versklaven. Wie ich dieses oberflächliche falsche Gebaren verabscheue! Manchmal wünschte ich mir, als einfacher Mann geboren zu sein. Frei und ohne diese Erwartungen an den zukünftigen König.“

Das war so naiv! Lillian wurde wütend. „Bei allem Respekt für Eure eigene Situation, Ihr vergesst eines, Hoheit! Uns einfache Leute bedrücken ganz andere Probleme, als sich irgendwelchen Etiketten unterwerfen zu müssen. Wir müssen uns anderen Menschen unterwerfen, nur weil wir da geboren wurden, wo das Schicksal uns hinschickte. Uns fragt niemand danach, was wir wollen. Uns wird gesagt, was wir müssen. Und das alles nur um von der Hand in den Mund zu leben. Wir besitzen ja nicht einmal den Anspruch auf Gerechtigkeit. Wir sind immer den Launen unserer Herren ausgeliefert. Hättet Ihr mich nicht aus den Klauen dieses intriganten Schufts gerissen, wäre ich sicher ohne Richterspruch eingesperrt oder verjagt worden! Am Ende habt auch Ihr das nur getan, weil Ihr ...“ Sie sprach es nicht aus, aber er wusste, was sie meinte.

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