Kitabı oku: «Der Schlüssel zur Tragödie», sayfa 2

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A. Der Chor in den Tragödien Senecas

1. Grundlegende Prämissen
1.1. Aufführbarkeit

Bevor auf die Konzeption des senecanischen Chores eingegangen werden kann, muss zunächst zu einigen wesentlichen, bis heute umstrittenen Diskussionspunkten Stellung bezogen werden, um die Prämissen festzulegen, unter denen das Thema bearbeitet wird.

So steht an erster Stelle die Frage nach der Aufführbarkeit der Stücke und damit nach ihrer Konzeption als Bühnen- oder Lesestücke.1 Aufführungen sind von der Renaissance bis heute zuhauf belegt,2 was zeigt, dass es zumindest möglich ist, die Stücke auf die Bühne zu bringen. Es ist jedoch Aristoteleszu bedenken, ob die Frage nach der Aufführbarkeit im Grunde nicht müßig ist:3 Dass die Stücke anders gestaltet sind als die griechischen Vorlagen, ist nur natürlich, da Seneca unter völlig veränderten zeitlichen Voraussetzungen schreibt.4 Welche Darbietungsform (Selbstständiges Lesen, Rezitieren oder Bühnenaufführung) letztlich gewählt wird, ändert nichts an der Tatsache, dass sich Seneca bewusst für die Gattung der Tragödie entschieden hat und sich damit vielleicht gerade die Vielfalt individuell an den Kontext anpassbarer Methoden offenhalten wollte.5 So konstatiert auch Grimal: „Il est donc effectivement possible que ces tragédies nʼaient jamais été que récitées et non jouées. Mais cela ne signifie point quʼelles nʼaient été conçues que pour la lecture et ne se rattachent pas à une tradition théâtrale.“6 Deswegen ist es bei der Betrachtung der Stücke vonnöten, die Dramaturgie mit zu beachten, denn als Konzept ist sie stets maßgeblich und darf nicht vernachlässigt werden. Ebenfalls muss in stärkerem Maße als etwa in einem philosophischen Traktat die Wirkung auf den Rezipienten oder gar das Publikum mitberücksichtigt werden.7 Viele zunächst erstaunlich wirkende Elemente sind dem Theaterkontext geschuldet. In diesem Sinne sollen die senecanischen Tragödien auch im Folgenden als das behandelt werden, was sie sind: Theaterstücke.

1.2. Datierung

Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Frage nach der Datierung. Hilfreiche Zeugnisse zur Abfassungszeit der Tragödien sind nicht vorhanden, und so wurde versucht, anhand verschiedener Kriterien eine zeitliche Verortung in Senecas Leben zu gewinnen. Datierungsversuche erstrecken sich beinahe über Senecas gesamte Biographie.1 Manche Vertreter plädieren für eine Abfassungszeit während Senecas Exil auf Korsika.2 So möchte Grimal in einigen Stücken manifeste Anspielungen auf die Regierungszeit des Claudius erkennen und datiert sie vor 52 n.Chr.3 Für den Hercules furensTragödienHercules furens wird ferner von manchen Interpreten eine Datierung vor 54 n.Chr. angenommen, da Züge der Herculesfigur in der ApocolocyntosisApocolocyntosis parodiert würden.4 Allerdings ist es ebenso möglich, dass erst die komische Herkulesversion existierte und Seneca später Teile der Figurencharakterisierung für seine Tragödie nutzbar machte.5

Als Anhaltspunkt wird auch die Themenwahl der TroadesTragödienTroades genommen, die sich auf den lusus Troiae aus dem Jahre 47 n.Chr., an dem NeroNero wohl selbst teilnahm, beziehen könnte, da die Verse 777–779 darauf anzuspielen scheinen.6 Damit sei eine Datierung kurz nach dem Ereignis anzunehmen. Allerdings spielt schon VergilVergil auf den Ritus des lusus Troiae an, der bereits zuvor in Rom stattgefunden hatte. Da der trojanische Sagenkreis bei den Römern aus genealogischen Gründen ein beliebtes Thema war,7 erscheint dieser Bezug nicht ausreichend stichhaltig. Es ist genauso gut möglich, dass Seneca hier einfach aus der Tradition geschöpft hat.

Außerdem wurden politische Bezüge zur Regierungszeit NerosNero herausgearbeitet und die Datierung deshalb später angesetzt.8 So nimmt Boyle beispielsweise für die TroadesTragödienTroades zwar keine direkte Datierung des Stückes vor, zeigt jedoch zahlreiche Einflüsse der Nerozeit auf und lehnt damit eine Abfassungszeit unter der Regierung von Caligula oder Claudius ab.9 Auch weitere Forscher datieren die Tragödien aufgrund inhaltlicher Khaben sich verschiedenste Ansätze herausgebildetriterien in die Zeit NerosNero. So verortet Lefèvre die Tragödien wegen ihrer negativen Grundeinstellung an Senecas Lebensende, als er sich nach dem Tod von Burrus 62 aus der Politik bereits zurückgezogen hatte. Auch Töchterle und teilweise Grimal neigen dieser Spätdatierung zu.10

Ferner konzentrieren sich die Interpreten auf formale Gesichtspunkte, um eine relative Chronologie der Stücke zu gewinnen. So werden prosodische und metrische Aspekte in Betracht gezogen. Hier ist besonders die Untersuchung von Fitch zu nennen, die vielfach als plausibel bewertet wurde.11 Das Versmaß der Chorlieder im ThyestesTragödienThyestes, Hercules furensTragödienHercules furens und in den TroadesTragödienTroades sei einfacher gehalten und deshalb früher anzusetzen als beispielsweise der polymetrische OedipusTragödienOedipus. Dieses Argument ist freilich nur unzureichend begründbar, denn es ließe sich im Gegenteil behaupten, Seneca habe nach einer Experimentierphase wieder zu schlichteren Metren zurückgefunden. Auch die These, die Kürzung des auslautenden o zeige Abhängigkeiten verschiedener Tragödien auf, erscheint im Vergleich zu inhaltlichen Gesichtspunkten als schwächeres Argument. Über den Metriker Seneca ist insgesamt zu wenig bekannt, um daraus stichhaltige Rückschlüsse auf eine Entwicklung technischer Fertigkeiten ziehen zu können.12

Zudem fehlen direkte Äußerungen über die Abfassungszeit sowohl bei Seneca als auch bei anderen zeitgenössischen Autoren sowie schlagende Beweise in den Tragödien selbst.13 Dass Seneca vermeidet, die eigenen Stücke zu erwähnen, weist allerdings darauf hin, dass er ein zu großes öffentliches Interesse an seinen Tragödien nicht zum Ziel hatte. Auffällig ist freilich die resignative Grundstimmung der Stücke, auf die im Laufe dieser Untersuchung eingegangen werden wird. Diese deutet zumindest auf eine spätere Datierung hin. Im Folgenden sollen die Tragödien unter der Prämisse dieser zeitlichen Verortung in Senecas Leben gelesen werden.

1.3. Theodizee

Für die Zwecke dieser Untersuchung essentieller ist die Frage nach der inhaltlichen Absicht. Uneinigkeit besteht einerseits in der Frage nach einer etwaigen belehrenden Intention der Stücke und andererseits nach ihrer Aussage. Es finden sich politische Anspielungen, pädagogische Züge sowie im Besonderen philosophische Denkmuster. Gerade hier wurde jedoch vielfach festgestellt, dass sich signifikante Brüche im Vergleich zu Senecas Prosawerken finden.1 Diese auffälligen Passagen sind vor allem im Bereich des Umgangs mit dem Konzept des fatum und damit einhergehend mit der Frage der Theodizee angesiedelt. Fischer hat eine umfassende Untersuchung zu dieser Problematik in Senecas Tragödien im Zusammenhang mit den Prosaschriften unternommen.2 Sie konstatiert: „In den Dramen agieren die Götter anders, als nach den philosophischen Schriften zu erwarten wäre. Trotz der unterschiedlichen Genera und trotz der poetischen Tradition, in der sich Seneca mit seinen Tragödien bewegt, ist das durchweg negative Bild, das die Dramenfiguren von den Göttern zeichnen, auffällig.“3 Die Problematik liege darin, dass bei Seneca theologische und moralische Fragestellungen ineinandergreifen: „Im Vergleich zur stoischen Tradition wandelt sich bei Seneca das Verhältnis zwischen Religion und Philosophie: Gott spielt in seiner Philosophie in erster Linie eine ethische Rolle. Theologie und Ethik stehen bei Seneca in engerem Bezug zueinander als bei den Stoikern vor ihm.“4 Doch eine göttliche providentia, die das Handeln der Menschen positiv beeinflussen könnte, scheint in den Tragödien zu fehlen.5 Um diese Diskrepanzen zu erklären, haben sich verschiedenste Ansätze herausgebildet. Lefèvre will in den senecanischen Tragödien zwei Typen unterscheiden: „der dem stoischen Ideal nahekommende und der nach Ansicht dieser Lehre in verdammenswerter Weise den Affekten unterliegende Mensch.“6 Allerdings trifft diese schematische Unterscheidung in richtiges und falsches Verhalten nicht immer zu. Viel häufiger bewegen sich die Figuren in einer Art Grauzone: Sie scheitern auf grausame Weise, doch ist es nur in einigen Fällen möglich, ihren Untergang aus ihrem eigenen Fehlverhalten zu erklären.7 In einer Vielzahl von Fällen scheint die Machtlosigkeit des Menschen, der zum Spielball der Launen des Schicksals gerät, im Vordergrund zu stehen.

Radikal folgert Joachim Dingel hieraus, die Tragödien müssten von den Prosaschriften getrennt betrachtet werden und seien „autonom poetisch“8 und gar „die poetische Negation stoischer Vorstellungen“9. Er plädiert für eine rein poetische Lesart der Tragödien.10 Auch Alessandro Schiesaro spricht sich gegen eine stoische Interpretation der Stücke aus. Der Leser sympathisiere auf emotionaler Ebene eher mit den Schurken denn mit den Helden, da er sich in deren Gefühlswelt besser hineinversetzen könne.11 Eine Einordnung der Stücke als „philosophical propaganda plays“, wie Berthe Marti sie postulierte, ist sicherlich zu starr und radikal.12 Dennoch ist stoisches Gedankengut ein integraler Bestandteil der Stücke. Wiener legt ausgehend von den Thesen von Staley dar, Seneca unterstelle dem stoischen Leser auf Grundlage der stoischen Psychologie kritisches Urteilsvermögen, um die emotionalen Eindrücke der Stücke adäquat zu verarbeiten.13 Wiener weist außerdem darauf hin, dass es wichtig sei, von dem Konzept „einer handbuchartig fixierten stoischen Lehre“14 abzurücken, und die Philosophie als dynamisches Konzept zu begreifen, mit dem man sich intensiv auseinandersetze. Besonders geeignet dafür sei die Gattung der Tragödie, weil sie ermögliche, das Verhalten der Menschen in außergewöhnlichen Extremsituationen zu beleuchten. Das bedeute, dass eine Abweichung vom orthodoxen stoischen Gedankengut nicht gleichzusetzen sei mit einer Abwendung von der Stoa als solcher. Gleichwohl muss ein Weg gefunden werden, um, ausgehend von dieser Prämisse der Flexibilität, die kritische Sichtweise auf das fatum zu erklären. Erklärungen setzen hier am Verständnis des fatum-Konzepts an.15 Boyle möchte den Begriff des fatum umdefinieren, um die Stücke verständlich zu machen, und versteht ihn nicht im Sinne von ‚Schicksal‘, sondern wortwörtlich als „what has been said.“16 Fischer legt hingegen dar, es sei zu unterscheiden zwischen dem physikalischen Begriff des Schicksals im Sinne einer kausalen Handlungskette, die mit fatum/natura gleichzusetzen sei, und dem ethischen. Im Folgenden zieht sie abwechselnd den jeweils besser zur individuellen Situation passenden Terminus heran.17 Diese Methodik löst zwar einige Widersprüche, es erscheint jedoch problematisch, Senecas fatum-Konzeption für sein tragisches Werk derart umdeuten zu wollen, zumal er selbst keinerlei Hinweise für eine solche Begriffsveränderung gibt. Es ist zwingend notwendig, von Senecas üblichem Begriffsverständnis auszugehen, um die Tragödien adäquat einordnen zu können. Eine Umdefinition von unbequemen Konzepten erscheint nicht legitim.

Die AnnäherungDe beneficiis an das fatum muss also auf inhaltlicher Ebene erfolgen, ohne den Epistulae moralesäußeren semantischen Rahmen zu verändern. Erschwert wird das Verständnis dadurch, dass die Begriffe fatum, deus und fortuna bei Seneca in den Tragödien oft ineinanderfließen.18 In den Prosaschriften grenzt er fortuna stärker vom fatum ab. Fischer definiert fortuna in den Tragödien als Wahrnehmung von fatum aus menschlicher Perspektive.19 Hierbei sei fortuna eine willkürliche, rational nicht begreifbare Macht, die mithilfe der virtus in Schach gehalten werden könne. Fortuna gerate somit zur Bewährungsprobe, an der man seine virtus beweisen könne.20 Auch Lefèvre ist der Ansicht, fatum und fortuna erschienen in den Tragödien nicht „als eine Macht, die dem Menschen böswillige Fallen stellt […], sondern vielmehr in der Funktion, daß sich der stoisch Gebildete als ihr gewachsen erweisen kann, ohne daß ihr Wirken nach moralischen Kriterien gemessen wird“, und weiter: „Auf die Fähigkeit, dem Geschick zu begegnen, kommt es ihm an; denn nicht, was der Mensch erträgt, ist entscheidend, sondern wie er es erträgt. […] Er kann sich stärker erweisen als alles von außen Einwirkende.“TragödienPhaedra21 Doch Senecas Protagonisten gehen allesamt zugrunde. Selbst Figuren wie Astyanax oder Polyxena, deren Ende etwas versöhnlicher erscheint, können höchstens erreichen, in Würde zu sterben, ein tieferer Sinn in Form einer ‚Bewährungsprobe‘ ist auch hier nicht ersichtlich.22 Lefèvre möchte das Scheitern aus einem bewussten Fehlverhalten erklären: „Wer Gott anerkennt und sich ihm unterwirft, ist in Wahrheit frei“,23 doch bringt die Unterwerfung unter das Schicksal keine Rettung. Sicherlich misst die stoische Lehre dem Menschen trotz seiner Determination eine gewisse Selbstverantwortung für das eigene Handeln zu, da ihm durch seine ratio die Möglichkeit gegeben ist, sich für das Richtige zu entscheiden.24 Dies beinhaltet somit auch die Freiheit zum Schlechten.25 Lefèvres Deutung allerdings, der Mensch stehe durch diese Entscheidungsmöglichkeit über dem fatum,26 ist problematisch. Scheint sie noch für eine Medea, Phaedra oder einen Atreus zu funktionieren, deren falsche Entscheidungen dadurch erklärbar sind, dass sie von Affekten geleitet und nicht von Vernunft motiviert sind,27 beginnt das Konzept bei den TroadesTragödienTroades oder im OedipusTragödienOedipus zu wanken. Die Existenz dieser Figuren erscheint in der determinierten Welt absurd, da kein Versuch, ihre Situation zu verbessern, einen Ausweg bietet. Diese negative Sichtweise auf das Schicksal als willkürliche, unverständliche Macht scheint der Auffassung des zumeist in den Prosaschriften skizzierten fatum als lenkende, wohlwollende Instanz diametral entgegengesetzt.28 Lefèvres Idee, für diese problematischen Stücke die Präsenz einer göttlichen Macht zu negieren,29 ist ebenfalls schwierig. Senecas Protagonisten kommen gerade wegen der stets gegenwärtigen Allmacht des fatum ständig an ihre Grenzen und gehen daran zugrunde. Doch dies macht die Stücke nicht unstoisch, im Gegenteil: Sie sind geprägt von einem unverrückbaren Glauben an die Existenz eines fatum als alles regierender Instanz. Was sie aufzeigen, sind die negativen Auswirkungen, die dieses Weltprinzip für das Individuum haben kann. Die Tragödien stellen keinesfalls einen Versuch dar, stoische Konzeptionen zu negieren, sondern sie zu relativieren. Es wird aufgezeigt, dass die eigene Existenz in Extremsituationen nicht immer sinnhaft erklärbar sein kann. Dies jedoch wie Fischer als Aporie zu bezeichnen, geht zu weit: So stellt Fischer für die TroadesTragödienTroades die Überlegung an, Seneca wolle hier gar keine Antwort geben, sondern es werde „in diesem Drama nur die Vereinbarkeit von Determination und menschlicher Willensfreiheit visualisiert […] und nicht das Theodizeeproblem.“30 Die Frage nach Determination und Willensfreiheit ist indes ein notwendiger Schritt im Umgang mit dem Theodizeeproblem. Ferner zeigt Seneca durchaus Möglichkeiten auf, wie man trotz der scheinbaren Absurdität des Seins einen Weg finden kann, um daran nicht zugrunde zu gehen.

Insgesamt ist es schwierig, sich dieser Problematik zu nähern, da Seneca selbst nirgends Hinweise auf die Deutung seiner Tragödien gibt und so keinerlei externe Hilfestellung bietet, um die Stücke besser zu verstehen. Allerdings steht dies nicht im Widerspruch zu einer philosophisch-didaktischen Intention Senecas. Wiener legt dar, dass die senecanischen Tragödien nicht dazu gedacht seien, konkrete Inhalte zu lehren, sondern eine Sichtweise auf eine sehr viel komplexere Welt zu ermöglichen und somit vielschichtigere Fragestellungen zu präsentieren, als es in Senecas philosophischen Traktaten der Fall sei.31 Die Tragödien seien ein multidimensionales System, das eine große Fülle an Demonstrations- und Exemplifikationsmöglichkeiten bietet. Problematisch sei jedoch die Frage, wie Seneca sichergehen könne, dass der Leser die erwünschten Schlüsse ziehe.32

Hierfür hat Seneca den Dramen einen stückimmanenten Überbau beigegeben, der die Komplexität des Stückes vereinfacht und es dem Rezipienten ermöglicht, den Argumentationsverlauf der Tragödie und damit ihre Interpretation selbst zu erschließen. Es handelt sich hierbei um einen Part, dessen Funktion mindestens genauso umstritten ist wie die Tragödien selbst: die Chorlieder.

2. Die verschiedenen Deutungen der Chorlieder

Trotz manifester Probleme und ihrer noch immer strittigen Funktionsweise werden die Chorlieder in aktueller Forschungsliteratur oft einfach übergangen. So fehlen Untersuchungen zum Chor sowohl im aktuellen Brill’s Companion to Roman Tragedy1 als auch im Cambridge Companion to Seneca..2 Die wichtigsten Deutungsrichtungen seien an dieser Stelle exemplarisch umrissen. Leos Stigmatisierung der Lieder als Zwischenaktspiele3 und damit die Degradierung hin zu reinen ἐμβόλιμα wird inzwischen von der Forschung weitgehend abgelehnt. Ein Handlungsbezug wird vor allem auf der Ebene einer inhaltlich-thematischen Beziehung gesucht.4 Hierbei lassen sich verschiedene Kategorien klassifizieren, die Hand in Hand mit den Deutungsversuchen der Tragödien insgesamt gehen: Besonders häufig werden die Chorlieder als Ausdrucksmittel von philosophischen Haltungen gesehen.5 Ferner werden politische Elemente herausgearbeitet, um die Annahme zu stützen, die Tragödien seien dazu bestimmt, die „politische pravitas“6 aufzuzeigen. Neben diesen inhaltlichen Zuordnungen finden sich Interpreten, die im senecanischen Chor vor allem ein technisches Element sehen wollten, das beispielsweise Zeit für Kostümwechsel ermögliche7 oder der reinen Unterhaltung diene.8 Einige Analysen konzentrieren sich auf die Metrik, die jedoch sehr mechanisch und wenig auf ihre Bedeutung untersucht wird.9 Bisweilen werden die Chorpassagen als Redeteile gesehen und tragen somit der Meinung Rechnung, die Tragödien hätten vor allem rhetorischen Charakter.10

Dass politische und philosophische Ebenen in die Chorlieder eingebettet und nicht einfach voneinander zu trennen sind, ist inzwischen hinreichend erwiesen.11 Strittiger ist, in welchem konkreten Zusammenhang die Chorlieder zur Aussage der gesamten Tragödie stehen und nach welchem System sie funktionieren. Als problematisch wird hier vor allem die Tatsache bewertet, dass der Inhalt der Chorlieder oft widersprüchlich erscheint, sei es, dass einzelne Lieder konträre Positionen verträten oder dass sich diese nicht mit der dramatischen Handlung vereinbaren ließen. Zwierlein sieht diese Inkonsequenzen gar als Beweis für eine Nichtaufführbarkeit der TragödienTroadesStücke.12

Ein Erklärungsansatz hierfür beruht auf der Methode, die Lieder als selbstständige Einheit und losgelöst von der dramatischen Handlung zu betrachten. Töchterle nimmt die Konzeption der Chorlieder schon bei den griechischen Tragikern als „stock of songs“ an, also als thematischen Fundus, aus dem sich der Autor bedienen konnte, um passende Chorlieder später für die jeweilige Tragödie auszuwählen.13 Als losgelöst von der Handlung betrachtet auch Haywood die Chöre und klassifiziert sie als „individual pieces of lyric poetry.“14 Auch Cattin erwägt die Möglichkeit, die Chorlieder seien ganz ohne Bezug zu einem bestimmten Stück geschrieben worden.15 Cattin ordnet die Lieder bzw. sogar einzelne Verse verschiedenen thematischen Untergruppen zu („Les thèmes philosophiques, pathétiques, pittoresques“), wobei ein Mehrwert auf interpretativer Ebene jedoch nicht erreicht wird.16 Davis sieht einen engeren Bezug zwischen Chor und Handlung. Ein wichtiger Schritt in seiner Arbeit ist das Aufzeigen von Parallelen einzelner Junkturen in Chorliedern und Sprechpartien der jeweiligen Tragödie, was der „stock of songs“-These deutlich widerspricht. Er kommt zu dem Schluss, hervorzuheben sei die „significance of choral odes for interpretation of the plays.“17 Dabei müsse man jedoch scharf unterscheiden zwischen Seneca dem Philosophen und Seneca dem Dramatiker. Der philosophische Inhalt der Chorlieder sei lediglich zu dramaturgischen Zwecken gebraucht, um beispielsweise zu vertiefen, wie eine Figur denke oder fühle.18 Dies erscheint oberflächlich. Dass viele Lieder tiefgehenden philosophischen Gehalt haben, ist schwer von der Hand zu weisen. Deren sinnhafter Zusammenhang wird freilich zerstört, wenn man die Chorpartien, wie es in der Untersuchung von Davis geschieht, ebenfalls aus ihrem Kontext löst und nur die Bezüge zur Handlung zulässt, die in das Interpretationsschema passen. So klassifiziert Davis die Lieder in die Unterkategorien mythology, philosophy und prayer und nutzt somit die Ergebnisse, die er über die Verknüpfung von Akt und Chorlied gewonnen hatte, kaum. Auch Mazzoli stellt den Zusammenhang zur Handlung in der Zuordnung der Chorlieder zu verschiedenen Kategorien her, die in jeweils unterschiedlichem Beziehungsgrad zum Aktgeschehen stünden. So unterscheidet er Kategorie K (kairós) als realen Bezug zur dramatischen Handlung, G (gnomé) für allgemeine Sinnsprüche und M (mythos), für mythische Beispiele und Verweise.19 Zwar lassen sich die Lieder leicht nach diesem Schema klassifizieren, jedoch führt diese Zuteilung auf inhaltlich-interpretativer Ebene nicht weiter.

Die Ablösung der Chorlieder von der Handlung und deren Neuordnung nach Untergruppen trägt keinesfalls dem ursprünglichen Kompositionsprinzip Rechnung, da der Chor so aus dem dichten Geflecht gerissen wird, in dem er eigentlich geschaffen wurde. Dass die Chorpassagen offensichtlich als integraler Bestandteil eines bestimmten Theaterstückes konzipiert und nicht als separates Liederbuch komponiert worden sind, beweisen manifeste Bezüge und Einbettungen in den ganz spezifischen Kontext sowie in einen festgeschriebenen Gedankenverlauf.

Gil betrachtet zwar die Lieder noch als losgelöst von der restlichen Tragödie, hält den Chor jedoch immerhin für ein Hilfsmittel zum Verständnis der Stücke. Problematisch ist dabei seine Auffassung, der Chor gebe „Hinweise, die dem Leser genügen, um die Handlung stoisch zu beurteilen.“20 Dies lässt sich nur auf einige wenige Lieder anwenden, denn eine große Anzahl ist gerade nicht stoischen Inhalts und scheint eher Verwirrung als Klarheit zu stiften. Gil unterteilt deshalb in Lieder mit und ohne Handlungsbezug.21

Stevens kommt zu dem Schluss, der Chor sei ein „completely ignorant observer whose impressions create ambiguity and tempt the audience to misunderstand the action.“22 Dieser Ansatz sieht den tragischen Chor als Kontrastfolie zum Aktgeschehen. Der Chor sei ein „uninformed informer“, der naiv die Geschehnisse auf der Bühne interpretiere und die Entscheidung, welche seiner Sichtweisen zu übernehmen oder zu verwerfen seien, dem Urteil des Rezipienten überlasse.23 Diese scheinbare Naivität des Chores deutet Stevens als ironische Umkehrung des allwissenden griechischen Chores.24 Eng an diese Deutung schließt sich Fischer an, die im Chor einen Widerhall von „populärphilosophische[n] Meinungen“25 und damit keinen Vermittler von ernstzunehmenden Aussagen des Stückes sieht.26 Das Problem an Stevens und Fischers Auffassung des Chores ist, dass diese Erklärung nur für die Lieder Gültigkeit beanspruchen kann, in denen tatsächlich Widersprüche zur Handlung nachzuweisen sind. Oftmals entsprechen die Chorpartien jedoch dem senecanischen Weltbild.

Weiter greift der Ansatz von Kirichenko: Er nimmt zunächst an, dass der senecanische Chor „nur die Rolle eines klassischen tragischen Chors spielt.“27 Der Chor verfügt somit über eine gewisse Distanz und präsentiere sowohl Wahres als auch Falsches, erzeuge aber gerade durch die Vermengung zwischen Fiktion und Wahrheit eine emotionale Erschütterung beim Leser, die diesem den Weg zu einer intellektuellen Erkenntnis eröffne.28 Gerade in der Widersprüchlichkeit der Aussagen des Chores liege somit dessen Funktion als ‚lehrreiches Trugbild‘: „Die auf den ersten Blick zerrissene, sich selbst widersprechende Stimme des Chors erweist sich somit paradoxerweise als diejenige Instanz, die den disparaten, verwirrenden Sinneseindrücken, denen wir in Senecas Tragödien ausgesetzt sind, eine einheitliche Bedeutung verleihen kann. Es handelt sich dabei natürlich nicht um den – einzig richtigen – Sinn der jeweiligen Tragödie […], sondern um einen anhand des Bühnengeschehens erzielten Sinnesentwurf.“29 Kirichenko betont hier zurecht die Konzeption der senecanischen Tragödien als Pool von Möglichkeiten, die sich für die Interpretation eröffnen. Genauso wenig bleiben die Chorlieder auf eine einzige Deutungsrichtung beschränkt. Allerdings ist es wichtig festzuhalten, dass die Chorlieder nicht einfach willkürlich Übereinstimmungen oder Widersprüche in sich und zur Handlung aufweisen, sondern dass sie sich auf ein geordnetes System zurückführen lassen.

Bishops Arbeiten zum Chor betonen diese strukturierte Komposition der Chorlieder. Er nimmt an, dass sich die Tragödie in zwei Stränge unterteilen lasse, die dramatic line, also die Bühnenhandlung, und die odic line, die Handlung in den Chorliedern.30 Diese beiden Ebenen verliefen zwar parallel zueinander und seien vielfältig miteinander verzahnt, doch für sich genommen autark.31 Dennoch ergebe sich der volle Sinn der beiden Komponenten erst durch ihr Zusammenspiel: „The odic line is only an interesting series of poems unless the dramatic line is there to work out the tragedy; the dramatic line is only a series of savage, blunt-edged disasters without the catastrophe-building functions of the odes.“32 Bishop legt sodann einen schematischen Ablauf fest, nach dem die Oden funktionierten: Das erste Lied (directive ode) erläutere allgemeine Prinzipien, alle weiteren verstärkten Einzelaspekte oder fügten neue hinzu.33 Dieser Aufbau lässt sich jedoch nicht konsequent durchhalten. Gerade bei Liedern, die einander zu widersprechen scheinen, müssen Unstimmigkeiten mühsam weginterpretiert oder ignoriert werden, um das Konstrukt beizubehalten. Insgesamt fehlt Bishops Arbeit eine tiefergehende interpretative Anwendung seines Systems. Erst in der Conclusio wird eine politische Ebene in Betracht gezogen und werden fragwürdige direkte Zuschreibungen einzelner Tragödienfiguren zu Zeitgenossen Senecas vorgenommen. Wie genau die Chorlieder zu dieser politischen Deutung beitragen, bleibt letztlich vage.34 Dennoch bildet Bishops These in Zusammenschau mit den zuvor genannten Ansätzen eine hilfreiche Grundlage, um das senecanischen Chorkonzept zu beschreiben.

Das Problem der Widersprüchlichkeit der Chorlieder ist außerdem eng verzahnt mit der Frage nach der personalen Zuordnung des Chores. Gärtner fasst den senecanischen Chor nicht als homogene Gruppe auf, sondern unterteilt ihn in zwei Chorgruppen. So gebe es „zwei grundverschiedene Typen der Chorgestaltung […]: einerseits den unbeteiligt aus einer Position programmatisch gepriesener Mittelmäßigkeit heraus das Unglück der hochgestellten Helden beobachtenden und analysierenden Chor, andererseits die konträre Spielform eines selbst am Leiden der Großen beteiligten und in der Bewältigung dieses Leidens absorbierten Chors.“35 Auch Sutton trifft eine Unterscheidung in primary and secondary choruses.36 Strohs Darlegungen gehen in eine ähnliche, allerdings stärker auf die Dramaturgie konzentrierte Richtung, wenn er für die TroadesTragödienTroades unterschiedliche Chöre annimmt, die sich auf der Bühne abwechselten.37 Trotz seiner Variabilität ist es unwahrscheinlich, dass Seneca an den Einsatz unterschiedlicher Chöre in seinen Stücken gedacht hat. Vielmehr scheint der Chor als vielfältiges Medium konzipiert zu sein. Er verkörpert zwar zumeist eine bestimmte soziale Gruppe, doch diese Zuordnung wird nicht bis in die letzte Konsequenz verfolgt. Neben der Funktion, zwischen Lied und Aktgeschehen überzuleiten, sind die lyrischen Partien an sich in erster Linie Erklärinstanz der dramatischen Handlung. In seiner Rolle als Handlungsdeuter muss der Chor dabei nicht gesichtslos sein, sondern die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppierung, zumeist zu dem jeweiligen betroffenen Volk, erleichtert diese Aufgabe sogar. Indem der Chor durch die Handlung selbst betroffen wird, scheint seine Deutung unmittelbarer und glaubhafter als die eines außenstehenden Beobachters. Der Chor wird so auch zur Mittlerfigur zwischen Stück und Publikum. Dabei treibt er die Handlung nicht voran, sondern er vertieft ihre Deutung. In diesem Sinne dürfen die Chorlieder nicht als direkte Reaktion auf die Handlung, sondern als deren verknappte Zusammenfassung auf reflexiver Ebene gesehen werden. Dass sich hierbei Widersprüche ergeben, entspricht der natürlichen Abfolge einer Auseinandersetzung mit einem Problem, die verschiedene Argumente gegeneinander abzuwägen sucht. Kontroversen in der Gedankenführung sind hierbei nicht nur geduldet, sondern sogar erwünscht.

Folgendes ist festzuhalten: Die Chorlieder nehmen trotz ihrer Eigenständigkeit vielfach Bezug auf das Aktgeschehen und müssen deshalb mit ihm in Verbindung gesetzt werden. Das Verhältnis von Chorpartien und dramatischer Handlung muss also auf ein komplexeres System zurückgeführt werden. Zunächst ist es zwingend notwendig, bei der Analyse des Chores niemals aus den Augen zu verlieren, worauf er referiert, und die Lieder deshalb an eben der Position ernst zu nehmen, an der sie sich im Stück befinden. Ferner ist es unmöglich, die Chorlieder auf eine einzige Deutungsrichtung hin reduzieren zu wollen.38 Die Stücke sind maßgeblich geprägt von ihrem Verfasser, der die Person des Philosophen, Politikers, Rhetors und Erziehers in sich vereint.39 Diese Prämisse gilt nicht nur für die Chorlieder, sondern für die Deutung der Tragödien insgesamt. Gerade diese Vielschichtigkeit erschwert gleichwohl ihre Fassbarkeit. Hierdurch besteht die Gefahr, das Wesentliche aus dem Blick zu verlieren.40 Es ist somit wichtig, sich vor dem Hintergrund der Mehrdeutigkeit die Frage nach der Hauptintention der Stücke zu stellen. Diese ist im Kern stets philosophisch-theologischer Natur, wobei die eingangs skizzierte Theodizeeproblematik eine wichtige Rolle spielt. Dass zusätzlich weitere Ideen aus anderen Bereichen einfließen, ergibt sich zwangsläufig aus der Person des Schreibers selbst, dessen Erfahrungen und Sichtweisen den Tragödien eine politische und pädagogische Couleur geben.

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