Kitabı oku: «Der Schlüssel zur Tragödie», sayfa 3
Man muss also bei der Betrachtung von Senecas Tragödien nach der Leitidee suchen, die das Stück zusammenhält. Diese ist jedoch nicht nur implizit in die Handlung der Dramen eingewoben, sondern explizit formuliert in den jeweiligen Chorpartien: Die ‚odic line‘ ist nicht einfach nur erweiternde Parallelhandlung, sondern dient der Interpretation der ‚dramatic line‘. Allerdings darf nicht ein einzelnes Lied für sich als Interpretationsaussage gesehen werden, sondern die Gesamtheit aller Chorpartien in einer Tragödie. Der Chor fungiert gleichsam als Prozesshelfer, der den Rezipienten beim Verständnis der Tragödie unterstützt. Dabei bilden die einzelnen Lieder nacheinander den Verstehensprozess ab, der letztlich zur Erkenntnis der Stückaussage führt. Widersprüche und Kontraste sind deshalb erlaubt, da Fehlschlüsse und Rückschritte natürlicher Bestandteil dieses Vorgangs sind.
3. Die Chorlieder als mise-en-abyme der Tragödie
Den Chorliedern liegt ein Prinzip zugrunde, das sowohl alle wichtigen inhaltlichen Komponenten mitberücksichtigt als auch eine Handreichung zum Verständnis der Tragödien darstellt. Dass die Chorlieder maßgeblich zur Deutung der Tragödien beitragen, wurde oftmals bemerkt. So konstatiert Lefèvre mit Rückbezug auf Marx: „Wenn W. Marx zu Recht behauptet hat, Senecas Chor stehe über den Ereignissen, seine Lieder seien nicht ein Akt der Hingabe, sondern eher eine Zugabe, er gewinne keine Einsicht, sondern habe eine Ansicht, er fühle sich vom Geschehen nicht angesprochen, sondern sage etwas dazu – darf man erwarten, daß Seneca die Deutung des Geschehens in den Chorliedern vorträgt.“1 Allerdings wird dieser Ansatz nicht konsequent weiter verfolgt. Zwar wird der Chor als objektiver Deuter angesehen, gleichzeitig werden ihm jedoch logische BrücheTragödienThyestes2 vorgeworfen, wenn die Chorlieder nicht zum Aktgeschehen passen.3 Ein erhellendes Bild liefert Kirichenko: „Es ist fast so, als sei der Chor ein an einem offenen Fenster stehender Passant, der alles, was sich innerhalb des Hauses abspielt, beobachten und sich sogar mit seinen Bewohnern unterhalten kann, der aber nicht in der Lage ist, irgendetwas dagegen zu unternehmen, wenn die Bewohner entscheiden, das Fenster von innen zuzuschließen.“4 Allerdings bleibt es nicht bei dieser passiven Rolle des Chores: Er ist nicht nur Beobachter, sondern auch Betroffener und vor allem Deuter, der die Funktion übernimmt, dem Zuschauer die Geschehnisse im Haus zusammenzufassen und zu erklären.
Diese Deutung des Geschehens erfolgt nach einem fest disponierten Ablauf. Die Chorlieder spiegeln in chronologischer Abfolge die Kernaussagen der einzelnen Akte wider. Senecas Chorliedern ist in seinen Tragödien eine Schlüsselrolle zugedacht. Sie sind dafür verantwortlich, den Kern der Tragödie zu verdichten.5 Ihre Aufgabe ist es, die wichtigen Leitideen, die tragend für das Stück sind, geordnet aufzuzeigen. Das maßgebliche System, auf das sie sich zurückführen lassen, ist also ein literarisches. Sie bilden gleichsam eine Tragödie im Kleinen, die jedoch von sämtlicher Handlung entschlackt ist. Die Chorlieder formen den Leitfaden zur Interpretation der Tragödien. Diese reduzierende Spiegelung des Wesentlichen lässt sich literaturtheoretisch mit dem Begriff der mise-en-abyme fassen. Dällenbach hat eine umfassende Monographie zur Erklärung dieses Konzeptes vorgelegt.6 Ursprünglich stammt der Begriff aus der Heraldik und findet sich beschrieben bei Ménestrier: „Abime est le milieu & le centre de l’Ecu, quand on suppose que l’Ecu est rempli de trois, quatre ou plusieurs autres figures, qui etant elevées en relief font de ce milieu une espece d’Abime.“7 Etwas präziser ist die Definition von Furetière im Dictionnaire universel von 1690: LʼAbyme sei „Terme de blason. C’est le cœur, ou le milieu de l’Escu, ensorte que la pièce qu’on y met ne touche et ne charge aucune autre pièce telle qu’elle soit. Ainsi on dit d’un petit Escu qui est au milieu d’un grand, quʼil est mis en abyme.“8 Die mise-en-abyme bezeichnet in der Heraldik also eine Miniatur des Wappens, die in dessen Mitte noch einmal abgebildet wurde.9 Diese Theorie wurde später für die Literatur nutzbar gemacht und maßgeblich von André Gide für den nouveau roman weiterentwickelt.10 Im Laufe der Zeit wurde sie auf immer kompliziertere Randphänomene angewendet,11 in ihrer Grundbedeutung bezeichnet sie jedoch nach Dällenbach Folgendes: „l’aptitude de doter l’œuvre […] d’un appareil d’auto-interprétation. En affirmant d’un récit que rien ne lʼéclaire mieux que sa mise en abyme.“12 Die Quintessenz des Werks wird in knapper Form auf verdichtetem Raum dargelegt.13 Dies dient der konzisen Bestimmung der Autorintention.14 Dällenbach unterteilt die mise-en-abyme dabei in verschiedene Verwendungsformen: Erstens als einmalig auftretendes Phänomen, zweitens als stückweise über die Erzählung verteiltes System, das mit dieser in stetiger Verbindung steht, und drittens als Motiv, das mit gleichbleibender Aussage in verschiedener äußerer Form immer wieder auftaucht.15 Senecas Chorlieder lassen sich der zweiten Gruppe zuordnen. Sie präsentieren über die gesamte Tragödie hinweg den Argumentationsgang der Interpretation, indem sie die wesentlichen Aussagen der einzelnen Akte der Reihe nach verdichten.
Ziel der folgenden Untersuchung soll es sein, aufzuzeigen, dass die Chorlieder in den senecanischen Tragödien das Element sind, das die Idee des Stückes maßgeblich transportiert. Dies kann nur erkannt werden, wenn man die Chorlieder in ihrer chronologischen Reihenfolge betrachtet und sie im komplexen Handlungszusammenhang an der ihnen zugedachten Position behandelt. Es soll im Folgenden eine Analyse zweier Stücke anhand ihrer Chorlieder erfolgen, um deren Funktion und Einbettung in die Tragödien zu erweisen. Diese soll, wie eingangs erläutert,16 die Tragödien OedipusTragödienOedipus und TroadesTragödienTroades zum Gegenstand haben, da sie beide hinsichtlich der Theodizeefrage als besonders problematisch empfunden werden und deshalb ihre Interpretation in der Forschung stark umstritten ist. Ihre Chorpartien können, wie gezeigt werden wird, hierfür eine Lösung anbieten.
4. Fallbeispiele
4.1. Oedipus
TragödienOedipusSenecas OedipusTragödienOedipus unterscheidet sich signifikant von der sophokleischenSophoklesOid. T. VorlageSophokles.1 Bei SophoklesSophokles wiegt sich OidipusSophoklesOid. T. zu Beginn in Sicherheit, erst im Laufe des Stückes beginnt seine Welt mit dem schrittweisen Erfassen der Wahrheit zu wanken. Der senecanische OedipusTragödienOedipus ist von Beginn des Stückes an zutiefst verunsichert und von dunklen Ahnungen wegen Apolls Schicksalsspruch geplagt. Das Stück konzentriert sich weniger auf die Wahrheitsfindung als solche als auf die Abbildung des Erkenntnisprozesses der eigenen ausweglosen Situation. Dieser ist gekennzeichnet durch das stetige Scheitern des Protagonisten, der die eigene Hilflosigkeit immer mehr begreifen muss. Die übergeordnete Macht, der Oedipus ausgeliefert ist, ist das fatum, das ihn ins Verderben treibt. Oedipus versucht zu verstehen, wehrt sich und verliert dennoch am Ende. In diesem Stück geht es Seneca weniger darum, eine Lösung oder einen Ausweg aufzuzeigen, sondern darzulegen, wie der Mensch die Welt begreifen kann und wie diese seiner Meinung nach konzipiert ist.
Dabei steht zentral im Stück die Frage der Schuld und Verantwortung in einem determinierten System. In der stoischen Philosophie ist im Grunde für die Schuldhaftigkeit einer Person nur die eigene Gesinnung wichtig. Besonders Seneca hebt die Rolle des animus, also des Vorsatzes bei einer Handlung, hervor. Ist eine gute Handlung nicht intendiert, ist es auch keine gute Handlung, und umgekehrt: Liegt keine Absicht bei einer schlechten Tat vor, ist eine Person auch nicht De beneficiisschuldig.Epistulae morales2 Dann ist die Handlung vom Schicksal bestimmt TragödienOedipusund TragödienOedipusgewollt.Aristoteles3 Diese Dominanz der Intention bei der Bewertung einer Handlung geht so weit, dass jemand als schuldig angesehen wird, der eine schlechte Handlung nur geplant, aber letztlich wegen äußerer Umstände nicht habe ausführen können.De constantia sapientis4
Eine Fallprüfung nach der stoischen Ethik konzentriert sich also auf die Frage nach dem Vorsatz. Es ist somit möglich, dass zwar der Tatbestand objektiv erfüllt ist, da eine Tat tatsächlich begangen wurde. Dennoch ist dies nach stoischer Auffassung nicht zwangsläufig verurteilbar, wenn kein Vorsatz vorliegt, die Erfüllung des Tatbestandes auf subjektiver Ebene also entfällt. Es wurde kein Unrecht begangen, da sich Unrecht durch den bewussten Verstoß gegen eine Regel oder einen Wert charakterisiert. Spielt man dieses Schema an der Figur des OedipusTragödienOedipus durch, müssen zunächst zwei Fälle unterschieden werden. Die Hauptanklage besteht im parricidium und im Inzest mit Iocaste. In diesem Fall ist der objektive Tatbestand erfüllt (OedipusTragödienOedipus hat seinen Vater getötet und seine Mutter geheiratet). Der subjektive Tatbestand ist hingegen nicht erfüllt, denn OedipusTragödienOedipus weiß nicht um seine wahre Identität und kann somit weder in Laius noch in Iocaste seine Eltern erkennen. Nach stoischer Lehre wäre OedipusTragödienOedipus aufgrund seines Nichtwissens nicht schuldig zu sprechen. Scharf davon zu scheiden ist der Nebenanklagepunkt. Interpreten haben der Figur des OedipusTragödienOedipus vorgeworfen, er habe, auch wenn er für den Vatermord nicht zur Rechenschaft zu ziehen sei, nichtsdestotrotz einen Mann getötet und damit Unrecht begangen.5 Zwar ist diesmal der Tatbestand auf objektiver und auf subjektiver Ebene erfüllt (Laius ist tot und OedipusTragödienOedipus wollte ihn töten), allerdings lässt sich für das Verhalten von OedipusTragödienOedipus hier ein Rechtfertigungsgrund anführen: OedipusTragödienOedipus betont, es habe sich um Notwehr gehandelt, da sein Gegner ihn zuerst angegriffen habe (cum prior iuvenem senex / curru superbus pelleret, 770–771). OedipusTragödienOedipus verteidigt in diesem Sinne nur sein Recht der eigenen körperlichen Unversehrtheit und ist von der Schuld freizusprechen.
Das Problem, das Seneca in seiner Tragödie aufwirft, ist jedoch nicht das der feststellbaren Schuld, denn hier ist OedipusTragödienOedipus nach stoischer Auffassung nicht zu belangen. Die Schwierigkeit besteht auf Gewissensebene: Unabhängig davon, dass OedipusTragödienOedipus von außen nicht verurteilt werden kann, hat er gleichwohl Ungeheuerliches begangen. Im Lateinischen lässt sich diese Spannung mit den Begriffen nefas und scelus beschreiben. Zwar kann OedipusTragödienOedipus vom menschlichen scelus freigesprochen werden, doch der Tatbestand des nefas übersteigt das irdische Rechtssystem, da es einen Verstoß gegen die Weltordnung darstellt. Dieser spiegelt sich zum einen sichtbar in der Pestgeißel, die Theben heimsucht. Um diese abzuwenden, wäre es ausreichend, den frevelhaften König OedipusTragödienOedipus seines Amtes zu entheben und Buße tun zu lassen. Doch das Problem liegt in OedipusTragödienOedipus selbst. Für ihn ist es nicht möglich, seine Schuldlosigkeit anzunehmen, da er dann auch seine Taten anerkennen müsste. Dies steht für ihn aufgrund der Schwere der Vergehen jedoch außer Frage. Töchterle fasst zusammen: „Vor der Ungeheuerlichkeit großer, wenn auch subjektiv unschuldig (im error) begangener Verbrechen (scelera) versagt also das moralische Modell der Stoa für den Täter und dessen Tragik vertieft sich zu fast völliger Ausweglosigkeit. Wen das Schicksal für solche Taten vorsieht, der ist durch diese scelera befleckt, auch wenn er sie im error begeht.“6 Die Determination durch das fatum treibt OedipusTragödienOedipus in das Verbrechen TragödienOedipushinein.TragödienOedipus7 Die Entschuldigungsmethode, die die Stoa hierfür anbietet, ist für ihn nicht gültig, da auf emotional-psychologischer Ebene ein Akzeptieren seiner Verbrechen unmöglich ist. Senecas OedipusTragödienOedipus exemplifiziert das Hadern des Menschen mit der Welt, der am Schluss zu der resignierenden Erkenntnis kommen muss, dass er dem Schicksal hilflos ausgeliefert ist. Das Glaubens- und Rechtssystem, das die Stoa für eine ethische Bewertung anbietet, stößt an seine Grenzen. Gleichwohl ist das Stück keine Abkehr vom stoischen Weltbild, sondern zeigt auf, dass Extremsituationen existieren, in denen das fatum weder Sinn noch Trost spenden kann und deshalb nicht positiv zu bewerten ist. Diesen Verstehensprozess hat Seneca in den Chorliedern des Stückes abgebildet.
4.1.1. Exposition des Leids
Der senecanische OedipusTragödienOedipus beginnt mit einem TragödienOedipusMonolog Sophoklesdes SophoklesOid. T.Königs,SophoklesOid. T.1 der die Verheerungen der Pest Thukydidesin SophoklesTheben beschreibt.Lucrez2 OedipusTragödienOedipus versucht den Grund für dieses Leid zu begreifen. Er vermutet hinter der Pest eine finstere Ursache. Seine gesamte Rede ist geprägt von einer unbestimmten Furcht, die er TragödienOedipusempfindet (horrore quatior).TragödienOedipus3 Die Ahnung einer eigenen Mitschuld schwelt in ihm, da er von der Krankheit bisher verschont wurde (cui reservamur malo?, 31) und er argwöhnt, dass seine Vergangenheit mit der Bestrafung der Stadt zusammenhängen könnte (sperare poteras sceleribus tantis dari / regnum salubre? fecimus caelum Sophoklesnocens, 35–36).SophoklesOid. T.4 Er versucht diese Beunruhigung jedoch zu negieren, da er glaubt, der unheilvollen Prophezeiung des Apollonorakels entronnen zu sein und so den drohenden Inzest vermieden und die Naturgesetze durch sein freiwilliges Exil gewahrt zu haben (tua, / natura, posui iura, 24–25). Selbst an die Königsherrschaft, durch ihre herausgehobene Stellung stets gefährdet, sei er nur zufällig geraten (in regnum incidi, 14). Dass er das Orakel durch die Tötung des Laius und die Heirat mit Iocaste schon längst erfüllt hat, ist ihm nicht bewusst. Und so bleibt er ratlos angesichts der grausamen Strafe, mit der sein Reich geschlagen wird. OedipusTragödienOedipus, der Rätsellöser par excellence, steht vor einem Mysterium, für das er keine Erklärung finden kann. Er hofft schließlich auf Hilfe von außen: Creon wurde zum Apollonorakel geschickt, um dessen Rat einzuholen.
Nach dieser Exposition folgt das erste Chorlied (110–201). Dieses behandelt ebenfalls die Pest.5 Die Bezüge zwischen der Rede des Königs und dem Chorlied sind teilweise so eng, dass Lefèvre gar vermutet, es handle sich um einen inneren Monolog des Königs, der die Rede im TragödienOedipusStillen TragödienOedipusweiterspinne.TragödienOedipus6 Es ist jedoch nicht notwendig, dem Chor die Worte aus dem Mund zu nehmen. Gerade der enge thematische Bezug zur dramatischen Handlung ist das Proprium der Lieder. So ist hier die Aufnahme des beinahe identischen Themas keine Redundanz, sondern die selbständige Darlegung der Problematik seitens des Chores.TragödienPhaedra7 Der Unterschied zur Darstellung des OedipusTragödienOedipus liegt in der Perspektive: Im Chorlied sprechen die Bürger von Theben, die vom Leid unmittelbar selbst betroffen sind. OedipusTragödienOedipus ist bei seiner Beschreibung der Pest außenstehender Beobachter, da das Königshaus von der Seuche verschont bleibt. Gerade dies wertet OedipusTragödienOedipus als Indiz für seine Verantwortlichkeit für das Leid, das über die Stadt kommt.
In den ersten Versen (110–113) wird Thebens desolate Situation beschrieben, die mythische Vorgeschichte und der Indienfeldzug des Gottes Bacchus (113–123). Bacchus, der Schutzgott der Stadt Theben, sei von den Thebanern seit jeher unterstützt worden und so seien sie ihm bis ans Ende der Welt gefolgt,8 um für ihn zu kämpfen.9 Sie selbst entbehrten nun jedoch jeder Hilfe. Die Erwähnung dieses Feldzuges ist auf der einen Seite ein wehmütiger Rückblick auf die glorreiche Vergangenheit, andererseits ein Vorwurf an Bacchus, der die Treue seines Volkes nicht durch göttliche Hilfe belohnt.10 Der Chor äußert Unverständnis für die unbegreifliche Gewalt und identifiziert sie als das Schicksal selbst (labimur saevo rapiente fato, 125). Der Chor fühlt sich diesem saevum fatum schutzlos ausgeliefert und findet keine Erklärung für dessen Grausamkeit. Es folgt eine detaillierte Beschreibung des ungeheuren Ausmaßes der Pest, die durch die persönliche Betroffenheit des Chores die Darstellung des OedipusTragödienOedipus an Grausamkeit deutlich übertrifft. Sämtliche Lebewesen sind von der Pest befallen:11 Haustiere (133–144), Weidetiere und Wildtiere (145–153).12 Makabererweise erkranken die ersten Tiere im Moment ihrer Vergilgeorg.Opferung,Vergil13 einer gottesfürchtigen Handlung (135–138). Die Seuche scheint sich somit durch religiös korrektes Verhalten nicht aufhalten zu lassen. Nach den Tieren wird auch die Flora befallen und vernichtet Vergil(154–158).VergilAen.14 Schließlich werden durch diese universelle KontaminationTragödienOedipus15 sämtliche Naturgesetze außer Kraft gesetzt, was sich anhand allerlei düsterer Prodigien zeigt (160–179). Der gesamte Kosmos ist von der Pest befallen.16 Die verschiedenen Episoden des Grauens, die daraus resultieren, ermangeln jeder rational erfassbaren Struktur und versinnbildlichen so das Chaos, das auf der Erde herrscht.17 Der Chor nimmt nun die Auswirkungen der Krankheit auf das Individuum in den Blick und zählt deren Symptome auf (180–201). Anders als OedipusTragödienOedipus, der keinen direkten Kontakt mit der Krankheit hat und der vor allem die Folgen, nämlich die zahlreichen Begräbnisse beschreibt, kann der Chor hier ins Detail gehen, da die Bürger von Theben die Krankheit am eigenen Leib erfahren. Die Qualen seien schlimmer als der Tod (o dira novi facies leti, / gravior leto, 180–181): Der Körper sei schwach (piger ignavos alligat artus / languor, 182–183) und von fiebriger Hitze geplagt (tum vapor ipsam / corporis arcem flammeus urit, 184–185), Blut tropfe aus den Nasenlöchern (stillatque niger naris aduncae / cruor, 189–190) und die Kranken stöhnten vor Schmerz (intima creber viscera quassat / gemitus stridens, 191–192). Schließlich erbäten die Menschen den Tod von den Göttern als Erlösung (prostrata iacet turba per aras / oratque mori, 197–198).TragödienOedipus18 Dies wäre der einzige Ausweg, den die Götter noch gewährten, andere Rettung werde verweigert (delubra petunt, haut ut voto / numina placent, / sed iuvat ipsos satiare deos, 199–201).19 Unbegreifliches Leid und die Absenz göttlicher Hilfe stehen in diesem ersten Chorlied schroff nebeneinander. Somit wird das Leitthema der Tragödie dargelegt: Wie ist es möglich, dass in einer Welt, die vom göttlichen fatum gelenkt wird, das dem Menschen leitende Konstante und schützende Macht sein soll, gleichwohl Unglück existiert, und sich das Schicksal als schlecht und sinnlos erweisen kann? Hier geht es also um die Theodizeefrage. Der Chor zeigt sich zunächst genauso ratlos wie OedipusTragödienOedipus selbst.20 Die ausführliche Schilderung der aus nächster Nähe erlebten Krankheitssymptome lässt seine Verzweiflung dabei noch greifbarer wirken als die des OedipusTragödienOedipus, der von der Pest selbst nicht betroffen ist. Im Folgenden wird ein Verständnisprozess eingeleitet, um die Herkunft des Leids zu begreifen.
4.1.2. Göttliche Strafe für vorsätzlichen Frevel
Creon kehrt vom Orakel zurück und referiert dessen Antworten. Diese sind voll von manifesten Anspielungen auf OedipusTragödienOedipus.1 Trotzdem sind weder Creon noch OedipusTragödienOedipus selbst in der Lage, den Inhalt zu verstehen (responsa dubia sorte perplexa iacent, 211). OedipusTragödienOedipus versucht deswegen, die Umstände des Todes von Laius genauer zu ergründen und befragt Creon ausführlich zu den Begebenheiten. Auch hier findet sich eine Vielzahl von deutlichen Hinweisen auf seine eigene Beteiligung, doch anstatt die Wahrheit zu finden, entfernt sich OedipusTragödienOedipus immer mehr von der Erkenntnis, der er doch während seines Prologs schon recht nahe gekommen TragödienOedipuswar.TragödienOedipusTragödienOedipus2 Um mit Hilfe der Götter die Lösung zu finden, wird der blinde Seher Tiresias herbeigerufen, um zusammen mit dessen Tochter Manto eine Opferschau zur Erhellung von Apolls Willen zu vollziehen. Sowohl das Verhalten der Flammen (307–334a) als auch der Opfertiere (334b–344), das Aussehen der Wunden (345–351) und schließlich der Eingeweide (352–383) geben Hinweise auf OedipusTragödienOedipus, doch dieser sieht sich weiterhin außer Stande, die Zeichen zu deuten.TragödienOedipusTragödienOedipus3 Das Extispicium zeigt deutlich: Allem Aufwand zum Trotz, der hier betrieben wird, bleiben die Götter unverstanden. Sie geben zwar Hinweise auf OedipusTragödienOedipus als Ursache des Leids, aber diese sind zu kryptisch, um für einen nicht Eingeweihten verstanden zu werden. Ferner fehlt jegliche Anleitung, um die Situation zu verbessern. Die Götter stellen den Menschen vor vollendete Tatsachen. Sich um sie zu bemühen, ist im Grunde nutzlos. Diese Einstellung mag epikureisch anmuten, doch gibt es in Senecas Konzeption einen wesentlichen Unterschied: Eine göttliche Macht existiert nicht nur, sondern plant aktiv das Leben der Menschen und lenkt es unerbittlich in die vorgeschriebenen Bahnen. In Thebens Schicksal ist dabei eine gütige providentia nicht zu erkennen.4 Die menschliche Existenz wird damit absurd.TragödienOedipus5 Schließlich wird der Entschluss gefasst, eine Totenbeschwörung durchzuführen, um Laius selbst nach seinem Mörder zu fragen. Am Ende des zweiten Aktes findet somit eine Abwendung von der Vorgehensweise statt, bei den Göttern Hilfe zu suchen, da diese zweimal gescheitert war.
Das zweite Chorlied (403–508) ist ein Loblied auf Bacchus. Hier wird oft ein unlogischer inhaltlicher Bruch gesehen.6 Doch Bacchusenkomien sind in der Tragödie durchaus üblich, da sie der Funktion des Gottes als Patron des Theaters Rechnung tragen.7 Außerdem hatte Tiresias das Preislied explizit angeordnet (populare Bacchi laudibus carmen sonet, 227). Schließlich ist Bacchus der Schutzgott Thebens.8 Dass hier ein rituelles Preislied für den Stadtpatron TragödienOedipusgesungen wird, ist eine nachvollziehbare Handlung. Im ersten Lied hatten die Bürger Thebens ihr Leid geklagt, im zweiten machen sie sich auf die Suche nach Hilfe und wenden sich an ihren göttlichen Beschützer. Außerdem steht das Chorlied in direktem Bezug zur vorhergegangen Handlung des zweiten Aktes, da sie in Form einer lyrischen mise-en-abyme wichtige Kernelemente zusammenfasst.
Der hymnische Charakter ist in den ersten beiden Versen durch den daktylischen Hexameter bestimmt.9 Zunächst wird Bacchus in all seiner Herrlichkeit beschrieben und um Schutz gebeten (403–428). Auffällig ist die Betitelung des Gottes als lucidum caeli decus, die eigentlich Apoll vorbehalten ist.10 Dieser hatte bisher jedoch keine Hilfe bringen können. Seine göttlichen Eigenschaften werden nun auf Bacchus übertragen. Zudem wird er mit einer Vielzahl an Attributen bedacht, die Fruchtbarkeit, Sanftheit und blühendes Leben implizieren.11 Bacchus bildet so eine Kontrastfigur zur Dürre und Ödnis, die Theben in der Gewalt haben und mit Apoll assoziiert werden. Der Chor betont im Folgenden die militärische Stärke von Bacchus. Das Motiv der Feldzüge in alle Weltregionen, das im ersten Chorlied bereits angeklungen war, wird aufgegriffen und weiter ausgebaut.12 Bacchus erscheint als unwirkliche Lichtgestalt in all der Not, die die Thebaner erleiden. Der Gebetsstil wird durch die te-Anapher aufrechterhalten, es handelt sich also weniger um einen impliziten Vorwurf als um ein flehentliches Bitten, das aber durchaus vom do-ut-des-Gedanken motiviert ist.
Im Weiteren preist der Chor das Gefolge des Bacchus (429–444). Dessen erster Vertreter ist ein angetrunkener Silen (429–430), auf den die Maenaden folgen, deren Taten der Chor beschreibt. Zuerst wird anhand geographischer Hinweise auf die Geschichte von Orpheus angespielt, der von den Bacchantinnen zerrissen wurde (432–435). Orpheus habe als Sänger dem Gott Apollon nähergestanden als Bacchus, was diesen erzürnt habe. Sodann folgt die Rückwendung nach Theben mittels der Pentheusgeschichte.TragödienOedipus13 Pentheus hatte sich als Frau verkleidet, um das Treiben der Maenaden heimlich zu beobachten und sich somit über das Verbot von Bacchus hinwegzusetzen. Die von Bacchus in Rausch versetzten Maenaden bemerken ihn jedoch und töten ihn. Besonderes Augenmerk gilt der Mutter von Pentheus, Agaue, die ihren eigenen Sohn zerrissen habe. Für Agaues Verbrechen werden die Begriffe impia und nefas gebraucht, als Hinweis auf einen Verstoß gegen die göttliche Weltordnung. Das zerstörte Mutter-Sohn-Verhältnis ist eine weitere manifeste Anspielung auf OedipusTragödienOedipus, der durch den Inzest mit Iocaste ebenfalls die Familiengesetze außer Kraft setzt.TragödienOedipusTragödienOedipus14 Allerdings sind die Handlungen der Maenaden und insbesondere die von Agaue nicht selbstverschuldet, sondern durch Ekstase provoziert worden.15 Dies gibt dem Abschnitt einen negativen Beigeschmack, da Bacchus offensichtlich nicht davor zurückschreckt, wehrlose Marionetten zu schaffen und für eigene Rachegelüste zu instrumentalisieren.16 Zwar erscheint Bacchus umso mächtiger, doch missbraucht er seine göttliche Gewalt für egoistische Zwecke. Das ambivalente Bild verstärkt sich in den folgenden Abschnitten des Liedes.
Es werden weitere Taten des Gottes in Erinnerung gerufen. Zunächst werden seine Triumphe zu Wasser genannt. Der Chor erzählt die Geschichte von Ino (445–448), der Amme des Gottes, die Bacchus als Säugling zusammen mit ihrem Mann Athamas vor der eifersüchtigen Iuno verbarg. Aus Rache trieb Iuno Athamas in den Wahnsinn, der daraufhin seinen Sohn Learchos tötete. Ino stürzte sich auf der Flucht vor ihrem Mann mit ihrem Sohn Melicertes ins Meer. Bacchus entschädigte beide daraufhin für ihre Leiden und erhob sie zu Meergottheiten.17 Hier zeigt sich, dass der Gott ebenfalls in der Lage ist, treue Anhänger zu belohnen. Ino und Athamas begehen zwar einen vorsätzlichen Frevel gegen Iuno, dieser wird durch ihre Verdienste Bacchus gegenüber jedoch wieder aufgewogen. Allerdings erhält nur Ino als Ziehmutter des Gottes diese Belohnung, Athamas hingegen bleibt wie schon zuvor Agaue ein Spielstein im Machttreiben der Götter.TragödienOedipus18
Gänzlich ungnädig verhält sich Bacchus, als er von Piraten geraubt wurde, die er zur Strafe in Delphine verwandelte (449–466). In diesem Abschnitt wird einmal mehr die Gabe von Bacchus, Fruchtbarkeit zu schaffen, gezeichnet, als er mithilfe des Meergottes Nereus auf der Seeräuberfregatte eine blühende Tier- und Pflanzenwelt entstehen lässt.19 Die Häufung der Flora und Fauna beschreibenden Begriffe in wenigen Versen wirkt erdrückend, oft treten schmückende Epitheta hinzu, und die kraftstrotzenden Tiere haben mit dem dahinsiechenden Vieh in Theben nichts zu tun. Deutlich baut sich hier erneut der Kontrast zur todbringenden Dürre des Anfangs aus.
Es folgen die Siege des Gottes zu Land. Es werden Beispiele von Menschen genannt,20 die sich Bacchus widersetzt hatten und dessen Macht zu spüren bekamen: Midas (467–468), unterworfene Stämme wie die Geten (469) und die Massageten (470),21 Lykurg (471),TragödienOedipus22 verschiedene Nordvölker (472–477), die Gelonen (478) und schließlich die Amazonen (479–483), die nach ihrer Niederlage gegen den Gott zu Maenaden wurden und sich seinem Gefolge anschlossen. Der Chor wendet sich nun erneut dem Pentheusmord zu (484–485). Nur diese Episode kommt zweifach vor. Ausschlaggebend hierfür ist die Verbindung mit OedipusTragödienOedipus, auf die hier noch offensichtlicher angespielt wird. Der Berg Cithaeron (484), der erwähnt wird, ist nicht nur der Schauplatz des Mordes an Pentheus, sondern zugleich der Ort, an dem OedipusTragödienOedipus als Säugling ausgesetzt wurde.TragödienPhoenissae23 Den Zuschauern, die die Geschichte bereits kennen, muss sich aufgrund dieses Wissensvorsprungs folgende Assoziation aufdrängen: Dort, wo Pentheus für seinen Frevel bestraft wurde, nahm der des OedipusTragödienOedipus seinen Anfang. Indem er überlebte, muss er sein Schicksal unweigerlich erfüllen. Es folgt die Geschichte der Proetustöchter (486–487), die von Bacchus in den Wahnsinn getrieben wurden, da sie ihm den Dienst verweigert hatten.
Zum Abschluss des Liedes wird von einer Wohltat des Gottes berichtet, der Errettung der Ariadne (488–503), als diese von Theseus verlassen wurde. Die detaillierte Beschreibung der Hochzeitsfeier kontrastiert noch ein weiteres Mal scharf mit der Pestschilderung des ersten Chorliedes: Schließlich wird Ariadne vergöttlicht, Apoll (498), Cupido (500) und sogar Jupiter (502) stehen Spalier. Es erscheint so, als habe Bacchus den gesamten Götterhimmel fest im Griff. Das Lied endet in hymnischen Versen, in denen das thebanische Volk Bacchus ewige Treue schwört und um Hilfe bittet.
Das zweite Chorlied bietet einen Versuch, das geschilderte Leid des ersten Liedes zu begreifen, indem es die Rolle der Götter in den Blick nimmt. Es erwägt die Möglichkeit der Pest als einer gottgesandten Strafe für unrechtes Verhalten, die man durch die adäquate Reaktion wieder abwenden kann. Auffällig ist, dass sich die Personen in allen erwähnten Mythen bewusst gegen den Gott aufgelehnt und die Strafe in Kauf genommen haben.24 Hier ist somit auch der Tatbestand auf subjektiver Ebene erfüllt. Das Belohnungs- und Bestrafungssystem von Bacchus funktioniert nach dem vergilischenVergil Prinzip des parcere subiectis et debellare superbos. Wer sich seinen Gesetzen beugt, wird gerettet, wer sich widersetzt, wird vernichtet. Es liegt hierin also die Möglichkeit, das Leid zumindest rational begründen zu können. Dies entspricht dem Denkmuster des OedipusTragödienOedipus, der versuchte, mittels der Orakelbefragung über eine göttliche Instanz Antwort und Hilfe zu erlangen und so einen eventuellen Fehltritt wieder gut zu machen. Der dritte Akt geht dieser Vorstellung weiter auf den Grund.