Kitabı oku: «Der Mächtige Strom», sayfa 10
Diesem leidenschaftlichen Aufbegehren war es damals auch geschuldet, dass ich dabei eine entscheidende Tatsache völlig außer Acht ließ: Ich wog gerade einmal etwas mehr als 30 Kilogramm, also nicht viel mehr als ein mageres Äffchen. Wie hätte ich da solch eine große und schwere Trommel den ganzen Weg durch die Stadt tragen können? Herr Li, dem nicht entgangen war, wie wichtig mir dieses Anliegen war, löste das Problem mit salomonischer Weisheit: Er wählte eine Mitschülerin aus, die viel kräftiger war als ich, damit sie die Trommel während des Umzugs auf dem Rücken trug, so dass ich neben ihr herlaufen und dabei kräftig auf das Instrument schlagen konnte. Den Organisatoren gefielen wir als Zweiergespann sogar so gut, dass sie uns nach vorn holten, damit wir die Kundgebung anführten. Die Entscheidung zeugte gleichzeitig von einem großen Verständnis für all die Flüchtlinge aus den nordöstlichen Landesteilen Chinas – sie war eine offenkundige Ermutigung für Schüler und Erwachsene, trotz Verlust und Vertreibung niemals aufzugeben.
Aus jenen Tagen besitze ich noch ein kleines Freundschaftsheft, in dem sich Lehrer und Mitschülerinnen mit aufmunternden Sprüchen und glückbringenden Wünschen verewigt haben. Es begleitete mich vom Festland bis nach Taiwan und schenkte mir Freude und Trost während der vielen dramatischen Veränderungen in meinem Leben. Ja, sogar während der kurzen Pausen zwischen dem Wechseln von Windeln, der täglichen Hausarbeit und der Zubereitung von drei Mahlzeiten warf ich gern einen Blick in das Album und erinnerte mich an diesen aufregenden Tag, da ich, eine kleine dürre Dreizehnjährige, jene Demonstration durch die von patriotischer Inbrunst brodelnden Straßen Changshas geführt und dabei voller Wut und Verzweiflung unnachgiebig die große Trommel geschlagen hatte.
Wann genau ich anfing, diese patriotischen Gefühle zu entwickeln, das weiß ich heute nicht mehr genau. Vielleicht wurde mein Kampfgeist durch das Soldatendasein von Zhang Dafei geweckt! Etwa zwei Monate nach unserer Ankunft in Xiangxiang erhielt ich ein Schreiben von Dafei. Es war das erste Lebenszeichen von ihm, seitdem er sich in einem militärischen Ausbildungslager befand. Einige der jüngeren Ausbilder dort waren mandschurischer Abstammung und hatten zuvor die Huangpu-Militärakademie absolviert. Von ihnen erfuhr Dafei, wo sich die Zhongshan-Schule inzwischen befand, und ging davon aus, dass auch wir dort sein mussten. Sein Brief war an meinen Bruder und mich adressiert. Vielleicht hatte er befürchtet, dass mein schreibfauler Bruder ihm nicht antworten würde, doch insgeheim hoffte ich auch ein wenig, dass er den Brief an mich adressiert hatte, weil er mich mochte. Als Erstes erkundigte er sich nach dem Befinden meiner Mutter (er hätte es niemals zu fragen gewagt, ob sie noch am Leben ist). Er bat uns, ihn auf jeden Fall auf dem Laufenden zu halten.
Dann berichtete er, warum er sich überhaupt zum Militärdienst gemeldet hatte:
„Ich bin schon 19 Jahre alt, und nach Schulabschluss wäre ich dann über 20. Ob ich dann die Zulassung für eine öffentliche Universität bekomme, ist nicht mehr sicher. Was ich aber ganz sicher weiß, ist die Tatsache, dass die Japaner uns in eine so verzweifelte Lage gezwungen haben, dass ich weder Lust zum Studieren noch die Hoffnung auf eine sichere Zukunft habe. So Gott es will, habe ich zu Hause noch immer drei ältere Brüder und einen jüngeren, also mehrere Stammhalter, die sich um die Familie kümmern. Es war mein innigster Wunsch, an der Offizierschule der Luftwaffe aufgenommen zu werden, und ich bin sehr glücklich, dass es nun geklappt hat. Damit bekomme ich die Möglichkeit, unserem Land tatkräftig zu dienen und den Tod meines Vaters zu rächen.“ Des Weiteren schrieb er, dass die Ausbildung ziemlich hart sei, aber auch, dass sie eine recht ordentliche Verpflegung erhielten, so dass er sich immer richtig satt essen könne: „Seit ich mein Zuhause verlassen musste, habe ich, außer bei Euch in Nanking, selten so viel und so Gutes zu essen bekommen.“
Mit der Zeit sei er kräftiger geworden, robuster und ausdauernder, so dass er den strengen militärischen Drill ohne große Schwierigkeiten ertrüge. Schließlich erkundigte er sich noch, ob ich schon mit dem Lesen der Bibel begonnen hätte, und empfahl mir, mich zuerst mit dem Neuen Testament zu beschäftigen.
Da mein Bruder zu jener Zeit neben dem Unterricht auch noch in etliche schulische Aktivitäten eingebunden war, bat er mich, den Brief umgehend zu beantworten. Das war vollkommen überflüssig, da ich selbst schon geplant hatte, Dafei zurückzuschreiben, sobald ich wieder zurück in der Mädchenschule war. In meinem Brief erzählte ich ihm zuerst von Mutters Genesung und ihrem generellen Zustand, aber auch davon, wie es dem Rest der Familie ergangen war. Zum Schluss berichtete ich ihm selbstverständlich noch, dass ich die Bibel, die er mir geschenkt hatte, stets bei mir trug: „Ich trage sie immer im Beutel meines Leibgürtels, auch wenn die Sirenen heulen und ich um mein Leben rennen muss. Wenn ich dann im Luftschutzkeller hocke, kann ich darin lesen, und das tröstet mich. Dann habe ich nicht mehr so viel Angst.“ Ich schrieb ihm auch, dass ich eine Sache nicht verstehen würde, und bat ihn, mir zu erklären, was Jesus damit gemeint hatte, als er sagte: „Wenn Dir einer auf die linke Backe haut, dann halte ihm auch deine rechte hin!“
Im November 1938 wurde es offensichtlich, dass die Japaner auf Changsha zumarschierten. In der Stadt verschlechterten sich die Verhältnisse von Tag zu Tag und die Luft vibrierte schier vor Angst und Unruhe. Nachdem die KMT-Regierung Anfang September ihren Regierungssitz nach Chongqing verlegt hatte, erreichten täglich mehr und mehr Flüchtlinge aus Hankou und dem Norden der Provinz die Stadt. Die Straßen schienen vor lauter Menschen bersten zu wollen. Schließlich kamen meine Eltern in die Provinzhauptstadt, um mich abzuholen. Wir fuhren noch am selben Abend nach Yongfeng zurück, denn meine Eltern wollten keine Zeit mehr verlieren, um die Vorbereitungen für unsere erneute Flucht abzuschließen.
In dieser Nacht kam es in Changsha zu einem Großbrand, der sich in Windeseile ausbreitete. Die Feuersbrunst tobte fünf Tage lang und zerstörte fast die gesamte Stadt. Zigtausende Menschen kamen in den Flammen oder während der Massenflucht ums Leben. Viel später erst wurde mir bewusst, wie viel Glück ich gehabt hatte. Welcher Engel hatte seine schützende Hand über mich gehalten? Doch ich fragte mich auch, warum so viele Unschuldige hatten sterben müssen, und ob sie vielleicht noch hätten gerettet werden können?!
Es waren sehr schöne Tage, die wir in der Kleinstadt Yongfeng bei Xiangxiang verbracht hatten. Und bis heute ist die Erinnerung daran lebendig! Die Provinz Hunan war bekannt für die Schönheit ihrer Landschaft und den Reichtum an natürlichen Ressourcen. Ihre Einwohner galten als aufrichtig und herzlich, voller Wissensdurst und dennoch beständig in ihren kulturellen Traditionen. Andererseits waren sie auch bekannt für ihre Beharrlichkeit, ihren an Sturheit grenzenden Eigensinn und ihr dünkelhaftes Selbstbewusstsein, weshalb man ihnen auch den Beinamen „Hunan-Esel“ gegeben hatte. Aufgrund der geologischen und klimatischen Gegebenheiten bezeichnete man die Provinz auch als das Land voller Fisch und Reis. Ganz gleich, ob Natur oder Landwirtschaft, alles gedieh auf üppige Weise. In meinem langen Leben habe ich viele Reisen unternommen und so einiges von der Welt gesehen, doch kaum habe ich einen Ort gefunden, wo es größere, saftigere Rettichrüben und schmackhafteren Chinakohl gab als dort. Bevor die Gewalt des Krieges diese Gegend erreichte, war das Leben in Hunan einfach und friedlich. Man lebte dort in einer Idylle, beinahe als wäre man vom Rest der Welt abgeschnitten, genauso wie das schöne Fleckchen Erde, das im Roman „Die Grenzstadt“ von Shen Congwen als die Heimat der hübschen Jade (Cuicui) beschrieben wird.
Die Gedenkschrift zum 50. Jubiläum der Zhongshan-Schule enthält einige Artikel, die alle von ihrer Zeit in Yongfeng erzählen. Im Zuge unserer langen Flucht, die uns häufig mit schwerwiegenden Hindernissen konfrontierte, erinnern wir uns gern an Xiangxiang und Yongfeng als eine ganz besondere Station, die zum Synonym wurde für eine bezaubernde Landschaft und eine gute Zeit der Lebensversorgung – wir, als Jugendliche, fühlten uns einfach sicher und genossen die Sorglosigkeit!
9 - Flucht von Xiangxiang nach Guilin
Am 21. Oktober 1938 waren die japanischen Truppen in der Bucht von Dapeng gelandet. Von dort aus besetzten sie die Hafenstadt Guangzhou (Kanton), um China von einem seiner wichtigsten Häfen zu isolieren und somit dringend benötigte Lieferungen von Kriegsmaterial zu blockieren. Im Zuge dessen setzten die Japaner die Stadt von verschiedenen Seiten aus in Brand. Die Feuer breiteten sich schnell aus und innerhalb weniger Stunden waren weite Teile der Stadt in einem Meer aus Flammen versunken. Im November des Jahres wurde Changsha, basierend auf einer falschen Information, von der eigenen, in Panik geratenen Kommandantur gemäß der „Politik der verbrannten Erde“ in Brand gesetzt. Am 27. Oktober wurde Chongqing offiziell zum neuen Regierungssitz der Republik China erklärt. Eine Woche zuvor hatte Chiang Kai-Shek in einem offenen Brief „An die Bevölkerung und Soldaten Chinas“ den Befehl zur endgültigen Evakuierung Hankous bekannt gegeben. Zugleich beschwor er die Nation, sich als eine große Einheit im Widerstandskrieg zusammenzuschließen, gemeinsam vom Südwesten aus zu kämpfen und keinesfalls aufzugeben: „China wird niemals kapitulieren!“ I
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte China schon ein Jahr und drei Monate lang erbitterten Widerstand gegen die japanischen Aggressoren geleistet. Somit hatte sich die kühne Prophezeiung des japanischen Militärs, China binnen drei Monaten in die Knie zu zwingen, als offenkundig wahnwitziges Versprechen entlarvt, das es dem Tenno und dem japanischen Volk gegenüber abgegeben hatte, um deren Einvernehmen für eine militärisch erzwungene Expansion zu erwirken. In ihrer Siegesgewissheit hatten sie es jedoch versäumt, sich hinlänglich über die geographischen Verhältnisse und die Zugänglichkeit des Terrains zu informieren. Vor allem der Südwesten Chinas präsentierte sich den japanischen Truppen als ein weit größeres geologisches Mysterium, als sie es sich je hätten vorstellen können, und wurde ihnen als solches schließlich zum Verhängnis. Die unwegsame Gebirgsregion mit ihren unzähligen Schluchten, reißenden Flüssen und dichten Wäldern brachte die militärischen Vorstöße der Japaner immer wieder zum Erliegen. Millionen von Soldaten der japanischen Streitkräfte waren über einen Zeitraum von acht Jahren in diesem mörderischen Unterfangen eingeschlossen. Hunderttausende fanden nie mehr den Weg zurück in ihre Heimat und starben einsam in der Fremde.
Die unbeschwerte Zeit und das trügerische Gefühl von Sicherheit, die ich während unseres Aufenthaltes in der Provinz Hunan erleben durfte, erscheinen mir heute wie ein Wimpernschlag. Während ich die Schule in Changsha besuchte, wurde die Lage in der Provinz zunehmend brenzliger, da die japanische Armee stetig vorrückte und einen Zangenangriff auf Hunan vorbereitete. Mein Vater hatte bereits vor meiner Rückkehr nach Yongfeng die erneute Evakuierung der Zhongshan-Schule organisiert. Meine Mutter, die sich inzwischen wieder hinlänglich von ihrer langen Krankheit erholt hatte, trieb uns Kinder zur Eile an, bis wir alle unsere Habseligkeiten gepackt hatten. Zunächst fuhren wir in einem Zug der kurz zuvor fertiggestellten Xianggui-Eisenbahnlinie, welche die Provinzen Hunan und Guangxi miteinander verband. Wir hatten den Zug in Hengyang bestiegen und fuhren Richtung Süden bis nach Guilin, der Provinzhauptstadt von Guangxi. Damals ahnten wir noch nicht, dass uns die Reise noch weiter westwärts über die Provinz Guizhou nach Sichuan weiterführen würde. Ja, auch dieses Mal hielten wir das kleine Lichtlein hoch und freuten uns daran, anstatt auf die Dunkelheit zu schimpfen. Als wir Guilin erreichten, hofften wir tatsächlich noch, dass wir dort für längere Zeit bleiben könnten, und so meldeten meine Eltern mich gleich bei der städtischen Mädchenschule an, wo ich die erste Klasse der Mittelschule besuchte. Wir waren dankbar für jeden einzelnen Schultag, an dem ich den Unterricht besuchen konnte, denn ein Tag mit schulischer Bildung war besser als einer ohne. Während ich im Internat der Schule untergebracht wurde, bezog meine Familie ein paar Zimmer in einer kleinen Pension. Mein Schulbesuch währte gerade mal eineinhalb Monate während des Wintersemesters.
Während jener Tage gab es zwei Vorkommnisse, die für mich nur schwerlich zu vergessen sind. Bei schönem Wetter und klarem Himmel kamen die japanischen Bomber immer tagsüber. Sobald das Heulen der Sirenen begann, rannten wir, angeführt von einigen älteren Schülerinnen der Oberstufe, zu einem nahegelegenen Flussufer am Stadtrand. Dort versteckten wir uns dann im Schatten der Trauerweiden. Aus dem Schutze der Bäume heraus konnten wir beobachten, wie die Flugzeuge schnell näher kamen und mit bedrohlichem Getöse direkt über unsere Köpfe hinwegdonnerten. Im Schein der Sonne waren die glänzenden Bomben gut zu erkennen, die wie Perlen an einer Kette herunterfielen. Wir hörten das bösartige Pfeifen der Geschosse, während sie auf die Stadt zurasten, Sekunden später folgten die ohrenbetäubenden Explosionen und über der Stadt stiegen schwarzgraue Rauchschwaden auf. Die Luft war erfüllt mit dem Geruch von Feuer und Tod … danach war Stille! Nur das leise Plätschern des Li-Flusses war zu hören, der vollkommen unbeeindruckt dahin- und weiterfloss.
Manchmal fanden die Luftkämpfe sogar direkt über uns statt. Wie die Bussarde meiner Heimat ihre Beute jagten, so verfolgten sich die chinesischen und japanischen Flieger. Dicht auf dicht flogen sie ihre gegenseitigen Attacken, während sie sich unentwegt mit den Bordgeschützen beschossen. Das Kreischen der Motoren und die knatternden Salven der Maschinengewehre versetzten uns in Angst und Schrecken. Vor lauter Anspannung wagten wir kaum noch zu atmen, doch jedes Mal, wenn ein Flugzeug mit dem „roten Zeichen der aufgehenden Sonne“ abgeschossen wurde, dann brachen wir in lauten Jubel aus und applaudierten, bis uns die Hände brannten. Einmal war eine feindliche Maschine ganz in unserer Nähe abgestürzt. Trotz aller Gefahren eilten wir zur Absturzstelle und bejubelten gemeinsam mit anderen Schaulustigen das Unglück. Es war ein unbeherrschter Moment der Freude, denn jeder einzelne Gegner, der zu Tode kam, erschien uns wie ein Funken Hoffnung.
Dann warteten wir darauf, dass die Sirenen mit einem langen Dauerton die Entwarnung signalisierten und wir wieder ins Wohnheim zurückkehren konnten. Ich kann mich noch gut erinnern, dass eine der älteren Schülerinnen in solchen Momenten immer begann, mit heller Stimme ein bestimmtes Lied zu singen: „Jeden Tag wasche ich mich im Wansha-Fluss, und liebestrunken zähle ich die Tage bis zu deiner Wiederkehr …“ Obwohl noch ein junges Mädchen, war ich dennoch schon alt genug, um ihre Beweggründe zu verstehen. Trotzdem fand ich es entsetzlich, ein derart „dekadentes Lied“ hören zu müssen, während am Himmel der Krieg tobte.
Das zweite Vorkommnis, das ich niemals vergessen habe, bezieht sich auf das Wohnheim der Mädchenschule. Dort herrschten strenge Regeln, und eine davon lautete: Ab 21:00 Uhr herrscht Bettruhe! Dazu wurde das elektrische Licht ausgeschaltet, das bedeutete für uns Schülerinnen: Wer nachts zur Toilette wollte, musste einen langen Portikus entlanglaufen, in dem nur zwei oder drei große Öllampen hingen, deren Dochte jedoch soweit heruntergedreht waren, dass sie nur ein schwaches Licht erzeugten. Dieser Laufgang war auf einer Seite von hohen tempelartigen Säulen flankiert und somit nach außen hin geöffnet. Sobald es etwas windiger war oder ein heftiger Regen fiel, warfen die Lampen unruhig flackernde Schatten in die Dunkelheit. Das war wirklich unheimlich und ich gruselte mich ganz schrecklich! Ganz egal, wie dringend ich zur Toilette musste, ich wartete immer so lange, bis eines der anderen Mädchen aufstand, um dann mit ihr zusammen dorthin zu gehen. Diese tanzenden Schatten habe ich bis jetzt noch lebendig vor Augen, wie eine Horrorvision, und das Gefühl der Angst ist noch immer so gegenwärtig, als wäre es erst gestern geschehen.
Meine lebhafte Fantasie wurde durch meine Mitschülerinnen auch noch richtig angeheizt, denn es war ein beliebter Zeitvertreib, sich regelmäßig, nachdem das Licht abgeschaltet worden war, die fiesesten Gruselgeschichten zu erzählen. Während ich dem Mädchen zuhörte, sah ich all die Geister und Fabelwesen klar umrissen vor meinem inneren Auge – sie wirkten so echt, dass ich vor lauter Angst fast ins Bett gemacht hätte. Doch die Vorstellung, zur Toilette gehen zu müssen, jagte mir einen noch größeren Schrecken ein, und dann zog ich mir die Decke über den Kopf, damit ich nicht mehr zuhören musste. Irgendwie entwickelte sich daraus eine Art „Furcht vor der Abenddämmerung“, was mich wieder an meine Zeit im Westberg-Sanatorium erinnerte. Gott sei Dank mussten wir schon bald darauf Guilin wieder verlassen und weiter Richtung Nordwesten ziehen, in die Provinz Guizhou. Für mich war das wirklich eine große Erlösung.
10 - Von Guilin nach Huaiyuan
Die Lage verschlechterte sich rasant. Die Armee der Republik China hatte große Verluste zu verzeichnen und der Nachschub an militärischer Ausrüstung sowie Lebensmitteln war unterbrochen. Auch in Guilin wurde die Lage zunehmend instabiler, da sie sich binnen kürzester Zeit zu einer Flüchtlingsstadt entwickelte. Unzählige Vertriebene aus Shanghai, Nanking und Wuhan strömten in die einst so idyllische Stadt des Duftblütenwaldes, bis sämtliche Aufnahmekapazitäten vollständig ausgeschöpft waren. Die Stadt schien vor lauter Menschen schier aus allen Nähten platzen zu müssen. Auch für die Zhongshan-Schule gab es nur provisorische Notunterkünfte. Schüler und Lehrer männlichen Geschlechtes wurden in den Tropfsteinhöhlen im „Park der sieben Sterne“ untergebracht; den Lehrerinnen und Schülerinnen wurden provisorisch errichtete Schilfgrashütten zur Verfügung gestellt. Inzwischen war mein Vater in die Provinz Sichuan gereist und suchte dort nach geeigneten Räumlichkeiten für die Schule. Mit Hilfe der örtlichen Behörden fand er schließlich eine Unterkunft im Ningjing-Tempel in der Nähe von Ziliujing, heute ist Ziliujing ein Stadtteil von Zigong in der Provinz Sichuan. Der Tempel der Stille war eine großzügige Anlage mit etlichen Hallen und Höfen, die ausreichend Platz bot, um all die Schüler unterzubringen und zu unterrichten.
Die nächste Etappe der Evakuierung sollte wesentlich beschwerlicher werden. Die Lehrer und Schüler wurden in drei Gruppen aufgeteilt und marschierten zu Fuß von Guilin aus Richtung Südwesten bis nach Liuzhou. Von dort aus ging es dann in westlicher Richtung nach Huaiyuan, einer kleinen Stadt im Landkreis Yishan, welche wiederum zum Verwaltungsbereich von Hechi gehört. Dort sollten sich die Gruppen an einem zuvor vereinbarten Platz wieder sammeln und eine Zeitlang abwarten. Nachdem sie sich etwas ausgeruht und ein klares Bild von der vorherrschenden Situation gewonnen hatten, brachen sie erneut auf und marschierten Richtung Chongqing. Das war die längste Etappe, denn Chongqing lag weit im Norden, im östlichen Teil der Provinz Sichuan.
Meinem Vater war es gelungen, dem Armeekommandanten von Guilin drei Armee-Lastwagen samt Fahrern und einigen Helfern abzuschwatzen, die er für den Transport der Schuleinrichtung benötigte. Meine Schwestern fuhren mit unserer Mutter in einem Linienbus nach Liuzhou, während ich gemeinsam mit meinem Onkel auf einem der Lastwagen mitfahren durfte. Die Ladefläche des Lasters war bis obenhin voll und wir mussten auf diesen Berg von Koffern und Kisten klettern, um einen Platz zum Sitzen zu finden. Damit wir während der Fahrt durch die bergige Landschaft nicht vom Wagen geschleudert werden konnten, hatten wir uns mit einem Seil am Geländer festgebunden. Trotzdem wurden wir während der Fahrt so richtig durchgeschüttelt, und es gab etliche Situationen, wo wir fürchteten, in einen der karstigen Abgründe zu stürzen. Eigentlich war ich ja eher ein Angsthase, aber ich war so mächtig stolz darauf, nicht mit den Kleinen im Bus fahren zu müssen, dass es in meiner schmächtigen Brust gar keinen Platz mehr gab für irgendeine kindische Furcht. Auch wenn es mir selbst nicht bewusst war, der Krieg ließ mich schnell erwachsen werden.
Wir blieben einige Tage in Liuzhou, um die nächste Etappe unserer Flucht zu organisieren. Der Kommandeur des erst seit kurzem dort stationierten Panzerregiments war ein Landsmann von uns aus dem Nordosten Chinas und Absolvent des achten Jahrgangs der Huangpu-Militärakademie. Dank seiner Fürsprache wurden uns einige Transportfahrzeuge zur Verfügung gestellt, mit denen meine Familie und die letzte Gruppe von Lehrern mitsamt ihren Angehörigen nach Huaiyuan gebracht werden konnten, wo wir vorerst wohnen sollten. Der Großteil der Lehrer und ihrer Familien befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Weg nach Sichuan. Die kleine Stadt Huaiyuan liegt direkt am Ufer, wo der Xiaohuan-Fluss in den Drachen-Fluss mündet, eingebettet in die Ausläufer der Hochebene von Yunnan und Guizhou. Die Landschaft dort ist von atemberaubender Schönheit, doch meine Mutter hatte nach unserer Ankunft für all das keinen Blick: Jeden Tag ging sie, nachdem sie uns Kinder versorgt hatte, allein zum Ortseingang und starrte auf die staubige Straße. Über Stunden hockte sie dort am Straßenrand und wartete auf die Marschkolonne der Zhongshan-Schule, in der sich auch mein Bruder befand.
Nach 27 langen Tagen erschienen endlich die ersten Schüler am Horizont. Sie hatten 380 Kilometer Fußmarsch bei Wind und Wetter, bergauf und bergab über steinige Straßen hinter sich gebracht. Meine Mutter entdeckte unter den Jugendlichen Dong Xuimin, den einzigen Sohn einer befreundeten Familie, wie er mit zerschlissener Kleidung und ausgefransten Hanfsandalen die Straße entlangtrottete. Seine Siebensachen hatte er in zwei kleinen Bündeln an eine Bambusstange geknotet, die er auf seinen knöchrigen Schultern trug. Als er so auf sie zukam und voller Erleichterung „Tantchen Chi“ rief, da verlor meine Mutter die Beherrschung und brach in Tränen aus.
Hunderte von halbwüchsigen Schülern waren wochenlang bei gutem wie schlechtem Wetter auf der Flucht gewesen. Während dieser Zeit hatten sie kaum eine Möglichkeit gehabt, sich richtig zu waschen, geschweige denn ihre khakifarbenen Uniformen zu reinigen, und richtige Unterkünfte oder Schlafplätze hatten sie auch nicht gehabt. Verdreckt und mit verfilzten Haaren waren sie nun endlich am Ziel angekommen. Die Jugendlichen waren ausgemergelt und von den wochenlangen Strapazen der Wanderschaft erschöpft und entkräftet. Das Bild dieser tapferen jungen Menschen, das sich meiner Mutter in jenem Augenblick präsentierte, schmerzte sie zutiefst, denn das Ausmaß des ganzen Elends brach ihr fast das Herz. Zwischen all den verschwitzten und staubbedeckten Gestalten in verschlissenen Uniformen hätte sie beinahe ihren eigenen Sohn nicht erkannt.
Es war schon eine frappierende und zugleich paradoxe Situation, dass wir erst auf der Flucht vor dem Feind, in einer Ära des Leidens, da wir von Fremden erniedrigt und schikaniert wurden, das einzigartige Glück hatten, die unbeschreibliche Vielfalt und landschaftliche Schönheit Chinas kennenzulernen: Die ewig lange Luokou-Eisenbahnbrücke über den Gelben Fluss, welche wir mit der Jinpu-Bahn befuhren, dann die malerische Strecke von Nanking nach Wuhu, und von dort aus, am Jangtse-Fluss entlang, flussaufwärts bis nach Hankou, dem heutigen Wuhan. Von den idyllischen Gewässern und Parks der Stadt Hankou reisten wir über Changsha, Xiangxiang bis in das kleine Städtchen Yongfeng, das uns wie ein wahrhaft paradiesisches Fleckchen Erde mit fruchtbarem Boden, unberührten Wäldern und kultivierten Menschen erschien. Nachdem wir diesen Ort gegen unseren Willen hatten verlassen müssen, offenbarte sich uns während dieser ziemlich holprigen Etappe von Hunan südwärts nach Guangxi die wahre Schönheit des Xiang-Flusses, und nach dessen Überquerung die unbeschreiblich herrlichen Landschaften, in die die Städte Zhuzhou, Hengyang und Chenzhou eingebettet lagen. Und so erreichten wir schließlich die einzigartige Karstlandschaft von Guilin, die mir erschien, als wäre sie einem Märchen entsprungen.
Während dieser ziemlich beschwerlichen Reise dachte ich oft an ein Gedicht von dem Dichter Qin Shaoyou, welches ich in der Nankai-Schule gelernt hatte: Glückselig fließt der Chen dahin, in sanften Schlingen strömen seine Wasser um den Chen-Berg sacht gewunden. Warum nur müssen diese Wasser weiterfließen? Sich zu vereinen mit den Flüssen Xiao und Xiang? Vielleicht nur, um Schöneres noch zu schaffen … Diese Zeilen berühren mich bis zum heutigen Tag. Wenn ich mich ihrer erinnere und an die Schönheit der Natur denke, welche ich während jener grausamen Tage sehen durfte, dann stehlen sich noch immer heimlich ein paar Tränentropfen in meine Augen.
Man kann durchaus behaupten, dass ich praktisch die gesamte Provinz Hunan durchquert habe. Und als ich eines Tages las, dass Mao Zedong in den 1920er-Jahren ein erklärter Befürworter der Autonomiebestrebungen Hunans gewesen war, da dachte ich mir, dass das gar keine so verrückte Überlegung für jene weitestgehend unaufgeklärte Epoche war. Von Guilin aus flohen wir auf Umwegen durch die Provinz Guangxi bis in die weiter nördlich gelegene Nachbarprovinz Guizhou. Die Strecke führte durch jäh aufragende Gebirge und tiefe Schluchten auf unbefestigten Serpentinen. Die Straßen waren zum Teil derart kurvenreich, dass wir den zurückgelegten Weg nicht mehr sehen konnten, sobald wir eine Biegung hinter uns gelassen hatten. Immer wieder mussten wir anhalten, da wir uns mit natürlichen Hindernissen von enormer Größe und Vielfalt konfrontiert fanden. Diese zu überwinden oder zu umgehen erforderte manchmal ebenso abenteuerliche Maßnahmen. Es lauerten viele Gefahren auf unserem Weg.
Huaiyuan war ebenfalls ein zauberhaftes Fleckchen Erde, und ebenso wie das kleine Städtchen Yongfeng bei Xiangxiang ist es in meiner Erinnerung stets von einem strahlenden Leuchten umflort. Dort entdeckte ich eines Tages ein kristallklares Flüsschen, dessen Wasser so rein und durchsichtig war, wie ich es niemals zuvor in meinem Leben gesehen hatte. Fröhlich plätschernd floss es am Ortseingang vorbei, und nur wenige Schritte weiter stand ein hübscher Pavillon am Ufer. Fast jeden Tag ging ich dorthin, um eine Weile die friedliche Stimmung zu genießen. Dann las ich in einem meiner wenigen Bücher oder beobachtete eines der kleinen Flachboote, die von einem Ufer zum anderen fuhren. Diese kleinen Sampan-Boote dienten den Einheimischen als Fähren, welche ihr ruhiges, ländliches Dasein mit einer bunten, lebhaften Außenwelt verbanden, die voller Betriebsamkeit war und reichlich Zerstreuung versprach. Vaters Zhongshan-Schule nahm umgehend den normalen Schulbetrieb wieder auf, und während der nächsten drei Monate konnten die Schüler dort ungestört unterrichtet werden. Kurz nach dem chinesischen Frühlingsfest im Februar des Jahres 1939 wurden sogar die Semesterprüfungen noch ordnungsgemäß durchgeführt.
11 - Auf Serpentinen nach Sichuan
Wir hatten gehofft, dass die Pattsituation zwischen den kämpfenden Armeen uns Zeit verschaffen würde. Wir beteten dafür, dass der Vormarsch der Japaner endgültig zum Stillstand gekommen sei. Die chinesischen Widerstandskämpfer und Soldaten taten alles Erdenkliche, um die Invasoren aufzuhalten. Jeder Augenblick unseres Daseins war erfüllt von dem Widerstreit zwischen der Hoffnung, die wir nicht aufgeben mochten, und der Furcht vor dem Näherrücken des Feindes.
Nach kaum drei Monaten war es wieder so weit: Der Krieg erreichte die Provinz Guangxi! In Anbetracht der zunehmenden Kriegsbedrohung musste die Zhongshan-Schule erneut ihre Zelte abbrechen. Unser nächstes Ziel war die Stadt Chongqing, die seit Oktober 1938 der neue offizielle Regierungssitz der Republik China war. Es war eine Flucht ins Ungewisse, denn auch Chongqing war bereits seit dem Frühjahr 1938 regelmäßig das Ziel japanischer Luftangriffe gewesen, doch seit August herrschte Ruhe.
Während wir uns auf dem Weg nach Huaiyuan befanden, hatte die nationalchinesische Regierung in Guilin das militärische Hauptquartier des Generalissimus für die Provinz Guangxi eingerichtet. Dank seiner beruflichen Beziehungen gelang es meinem Vater, in kürzester Zeit Lastwagen und Busse von der Garnison in Guilin zu organisieren. Nachdem alles verladen worden war, ging es erst einmal wieder nach Guilin. Von dort aus machte sich der Konvoi auf den Weg in die nahegelegene Provinz Guizhou. Meine Familie und die Angehörigen der Lehrer fuhren mit den Lastwagen, während ein Großteil der Schüler mit Bussen transportiert wurde. Doch es gab nicht ausreichend Busse für alle Flüchtlinge. Jene, die sich nicht mehr in die überfüllten Busse quetschen konnten, mussten die weite Strecke zu Fuß bewältigen. Unsere Route führte quer durch die ganze Provinz und dann auf den steilen Serpentinen der Guizhou-Sichuan-Gebirgsstraße bis nach Chongqing, der provisorischen Kriegshauptstadt Chinas. Selbst ich konnte mit bloßem Auge die steil aufragenden Berggipfel erkennen und begriff, wie qualvoll dieser lange Marsch sein musste, der durch die schroffe Gebirgslandschaft führte. Die kurvenreichen Provinzstraßen waren ein unendlicher Wechsel aus steilem Anstieg und starkem Gefälle, zumeist unbefestigt und verliefen häufig entlang tiefer Schluchten. Für mich war es unbegreiflich, wie es möglich sein sollte, mit so etwas Banalem wie unseren menschlichen Füßen eine solche Strecke zu meistern.
General Sun Yuanliang war ein Absolvent des ersten Jahrgangs der Huangpu-Militärakademie und hatte am Nordfeldzug teilgenommen und im Widerstandskrieg gegen Japan als Korpskommandiereder gedient. Nach seiner Ernennung zum General diente er während des Chinesischen Bürgerkrieges als Kommandeur zweier Garnisonen und Befehlshaber der 16. Armee. Kurz vor seinem Tod auf Taiwan im respektablen Alter von 103 Jahren gab er noch ein letztes Interview, in dem er die Flüchtlingsströme während des Antijapanischen Krieges durchaus mit kritischem Blick beschrieb: