Kitabı oku: «Der Mächtige Strom», sayfa 11
„Bereits zu Beginn des Widerstandskrieges gegen die Japaner erhielten wir Order, die Strategie der ‚Verbrannten Erde‘ zu befolgen. Also forderten wir unsere Landsleute dazu auf, den Evakuierungsanweisungen Folge zu leisten. Sie sollten sich zurückziehen oder zerstreuen. Wir hatten jedoch verabsäumt, Maßnahmen zur Versorgung der Flüchtlinge zu treffen. Ohne jegliche Hilfe seitens der Regierung irrten sie nur ziellos umher. Sie waren vollkommen sich selbst und einem ungewissen Schicksal überlassen. Das war wahrscheinlich der Anfang einer Entwicklung, die dazu führte, dass unsere Regierung in jenen Tagen das Vertrauen des Volkes auf dem Festland verlor.
Als ich mit meiner Truppeneinheit von Sichuan nach Guizhou marschierte, sahen wir überall Scharen von Flüchtlingen. In der Wildnis des Gebirges trafen wir auf Angestellte und Arbeiter von Eisenbahn- undStraßenbauunternehmen mit ihren Familien im Schlepptau. Uns begegneten Gruppen von verwahrlosten Schülern und Studenten mit ihren Lehrern. Ferner Industrie- und Minenarbeiter sowie deren Familien. Und immer wieder versprengte Soldaten ohne Orientierung, nachdem ihre Einheiten besiegt und aufgerieben worden waren. Unzählige Angehörige von Soldaten und Guerilla-Kämpfern mit ihren Kindern auf der Flucht vor Folter, Vergewaltigung und Versklavung. Millionen von Frauen, Männern und Kindern jeden Alters bildeten einen gewaltigen Menschenstrom, der immer mehr Heimatslose mit sich fortriss. Der Flüchtlingsstrom, der sich zwischen uns und dem Feind bewegte, stellte für den Angreifer keinerlei Gefahr dar, da er keine militärische Wehrfähigkeit besaß, behinderte jedoch die eigenen Truppenbewegungen.
Wo dieser Menschenstrom vorbeikam, waren umgehend sämtliche Nahrungsmittel aufgebraucht. Die verängstigten Dorfbewohner, denen nichts mehr geblieben war, reihten sich nun selbst in die flüchtende Masse ein. In den kalten Nächten machten die Menschen Feuer, um sich zu wärmen und eine armselige Mahlzeit zuzubereiten, sofern sie überhaupt etwas besaßen. Zwischen den Lagerfeuern war überall das Stöhnen der Alten und Kranken zu hören. Ständig weinten hungrige Säuglinge und abgemagerte Kinder, denn Hunger ist ein schmerzhafter Gefährte.
Am Wegesrand lagen unzählige Leichen, halb verwest und aufgequollen, achtlos in die Gräben geschoben, die voller Fäkalien waren. Der Gestank war bestialisch. Weit und breit gab es kein einziges intaktes Gebäude. Überall, wo wir hinkamen, waren die Häuser durch Bomben und Brände beschädigt oder völlig zerstört. Angesichts all dieses Elends fragte ich mich: „Was ist das bloß für eine Welt?“ Niemandem war es möglich, sich dieser grausamen Eindrücke zu entziehen. Es war nicht verwunderlich, dass auch die Soldaten seelisch litten und zunehmend den Mut verloren. Infolgedessen sank die Truppenmoral auf einen absoluten Tiefstand.“31
Unsere Flucht von Nanking bis zum Tempel der Stille von Ziliujing in der Provinz Sichuan dauerte etwas mehr als ein ganzes Jahr. Das Leben auf der Straße war voller unbeschreiblicher Leiden, doch wo auch immer wir einen Platz fanden, der halbwegs geeignet schien, wurde der Schulbetrieb wieder aufgenommen. Ob unter einem Dach oder im Freien, sobald es genügend Raum für ein paar Dutzend Personen gab, begannen die Lehrer sofort wieder zu unterrichten. Die Schule führte ausreichend Lehrbücher aus allen Fächern, Unterrichtsmaterial, Schreibutensilien und eine Grundausstattung an Mobiliar mit sich. Ja, es gab sogar eine einfache Laborausrüstung.
Wenn ich mich heute daran erinnere, wie die Lehrer uns damals unter derartig schwierigen Umständen unterrichtet haben, dann kann ich die Hoffnung und den Glauben der chinesischen Intellektuellen, zu denen sie ja gehörten, wahrhaftig nachempfinden. Tatsächlich hielten sie bis zuletzt an ihrer unerschütterlichen Überzeugung fest, dass China sich in einem Zustand vorübergehender Schwäche befände, jedoch auf lange Sicht im Stande sein würde, den Feind zu besiegen. So unterrichteten sie uns nicht nur in den klassischen Lernfächern, sondern lehrten uns auch durch ihr eigenes Vorbild grundlegende Werte wie Hingabe, Leidenschaft, Würde und Selbstvertrauen. Tag um Tag lebten sie vor unseren Augen das geschichtsorientierte Motto der Schule: „Im Reiche Chu überlebten nur drei Familien, doch sollte es einer der ihren sein, der einst den Tyrannen des Qin-Reiches vernichten würde!“
Nachdem sich die Zhongshan-Oberschule in Sichuan etabliert hatte, stieg die Quote der Absolventen hinsichtlich bestandener Aufnahmeprüfungen für die Zulassung an einer Universität stetig. In kürzester Zeit schaffte sie es sogar in die „Top Ten“ aller Oberschulen landesweit. Tatsächlich war die Zahl der Schüler während unserer Flucht sogar noch angestiegen, da die Schule unterwegs immer wieder heimatlose Jugendliche aus den Provinzen Jiangxi, Hubei, Hunan und Sichuan aufgenommen hatte. Ihre stolzen Absolventen dienten später zumeist in der Armee, arbeiteten für die Regierung oder engagierten sich in zahlreichen Bereichen des Kulturbetriebes.
Mit der Kapitulation Japans im Jahre 1945 endete der Krieg, und so kehrten die meisten Schüler der Zhongshan-Schule wieder nach Hause zurück in die Mandschurei. Fast ein Jahrzehnt hatten sie von ihren Familien getrennt gelebt, und sie waren des andauernden Herumziehens müde. So ist es auch nachvollziehbar, dass viele von ihnen während des erneut aufflammenden Bürgerkrieges zwischen der Nationalen KMT-Regierung und der Kommunistischen Partei Chinas lieber in ihrer zerbombten Heimat blieben, um die venenösen Hinterlassenschaften des Mandschukuo-Regimes zu beseitigen, den Wiederaufbau des Bildungswesens voranzutreiben und das nationale Bewusstsein wiederherzustellen. Doch die Zeit, die sie mit ihren Kommilitonen der Zhongshan-Schule wie Brüder und Schwestern verbracht hatten, verbunden nicht durch Blutsverwandtschaft, sondern durch Zuneigung und Fürsorge in Jahren des Elends, würden sie niemals vergessen.
In den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die Zhongshan-Schule in Shenyang wieder ins Leben gerufen. Die treibende Kraft dieser Unternehmung bildeten die ehemaligen Schüler, die nach dem Krieg in ihre Heimat zurückgekehrt waren, wie der Provinzgouverneur von Jilin, der Parteisekretär der KPCh der Provinz Liaoning und der Oberbürgermeister von Shenyang, um nur einige zu nennen. Jeder von ihnen hatte während der langen Märsche zur Evakuierung die Hymne der Heimatlosen gesungen: „Am Sunghua-Fluss war ich einst zu Hause.“
Zum 50-jährigen Jubiläum wurde 1984 auf Taiwan eine Denkschrift von ehemaligen Schülern in Form eines Sammelbandes herausgegeben. Dieser Band enthält 60 detailreiche Erlebnisberichte aus jener Dekade der Entwurzelung. Sechzig Schicksale, geschrieben mit Blut und Tränen. Das Memorandum beginnt mit folgenden Worten: Die Staatliche Zhongshan-Oberschule wurde mitten im größten Leid geboren, überlebte den Großen Krieg, ihre Schließung jedoch war zutiefst erschütternd. Seit ihrer Gründung sind 50 Jahre vergangen, und hat es während all dieser Zeit auch nur einen einzigen Tag gegeben, da wir glücklich und in Frieden sein konnten?
An einer anderen Stelle lese ich:
… Am nächsten Morgen nach dem Fahnenappell ging General Guan Linzheng auf das Podest rauf und sprach zu uns, mit Tränen in den Augen, dass die militärische Ausbildung eingestellt werden muss, und sagte dann: „Unser Staat ist so weit gebracht worden, dass er kaum noch einen wirklichen Staat darstellt. Die Wut und der Hass, den wir zu Recht empfinden, müssen nun zu einer unbezwingbaren Vergeltung gebündelt werden, wie sonst können wir uns noch als ‚Chinas Kinder‘ bezeichnen? Wie sonst können wir uns als Nachkommen der Kaiser Yan und Huang würdig erweisen?“ Jeder von uns war sofort total berührt und hatte einen dicken Kloß im Hals sitzen. Als der kühne General mit seiner Rede fertig war und wir wegtreten durften, war die Erde, wo wir gestanden hatten, ganz nass von den Tränen. Deutlich konnte man die dunklen Streifen sehen, Reihe um Reihe, Kolonne für Kolonne.
Zum Schluss: Unsere Heimat im Nordosten war gefallen! Viele der Schüler und Lehrer befanden sich in Gefangenschaft oder waren tot. Nur wenige waren um Haaresbreite demselben Schicksal entronnen und hatten Zuflucht auf Taiwan gefunden. Ruft man sich die Vergangenheit ins Gedächtnis, dann stellt sich einem jeden von uns die Frage, wer sich dem Gefühl von Gefangenschaft in dieser unablässig erschütterten Welt zu entziehen vermag.
Während ich dies schreibe, erzittert mein Innerstes von dem Nachhall der knatternden Salven aus den Bordgeschützen, während die Bomber über unsere Köpfe hinwegdonnerten. Jedes Mal, wenn jemand die Zhongshan-Schule erwähnte, überkam mich eine Flut gestochen scharfer Bilder von unserer endlosen Flucht: Ich sah meinen Vater, der, nachdem er sich vergewissert hatte, dass es uns, seiner Familie, gut ging, zum nächsten verabredeten Treffpunkt hastete. Dort angekommen musste er in aller Eile mit der örtlichen Verwaltung über die Unterbringung und Verpflegung der im Anmarsch befindlichen Schüler verhandeln. Station um Station warf er kaum mehr als einen flüchtigen Blick auf meine kranke Mutter und seine jüngste Tochter. Ich war inzwischen befördert und durfte oben auf den Gepäckhaufen des Lastwagens sitzen. Mein Bruder marschierte dann immer zu Fuß mit.
Manchmal erhaschten wir einen kurzen Blick auf unseren Vater, wenn er in einem Militärfahrzeug hektisch um uns herumkurvte. Dann blickten wir mit zwiespältigen Gefühlen in den Staub, der alles in dichte Wolken hüllte, und fragten uns, wann wir ihn wohl das nächste Mal zu Gesicht bekämen. Er schien uns kaum oder eigentlich überhaupt nicht wahrzunehmen. Natürlich kränkte es mich ein bisschen, dennoch wusste ich, dass er für all jene tausend Schüler und Schülerinnen wie für seine eigenen Kinder fühlte und sorgte. Ihm war es das höchste Gebot, sie alle unversehrt an einen geschützten Ort zu bringen, wo es Hoffnung und Sicherheit für sie gab.
31 Hu Zhiwei: „Interview mit General Sun Yuanliang“, Taipei, «Biographical Literature» Juli/2007
Kapitel III
Weil es mich gibt, wird China nicht untergehen!
1 - Die Nankai-Oberschule
Seit ich meine Heimat, unseren Gutshof in Klein-Westberg im Landkreis Tieling, verlassen hatte, hielten mich meine Anfälligkeit für Krankheiten und die regelmäßigen Schulwechsel ziemlich auf Trab. Vor allem war es jedoch die Katastrophe, in der sich die Nation befand, und das daraus resultierende Desaster, dem meine Familie fortan ausgesetzt war, was mich vollkommen in Beschlag nahm. Natürlich gab es zwischendurch auch immer mal wieder glückliche Tage, wie jene in Nanking, als die Familie endlich wieder unter einem Dach vereint war und meine kleine Schwester zur Welt kam. Doch diese waren so schnell verflogen wie die Blüte des Schusterkaktus – ja, so vergänglich wie ein Strohfeuer. Später dann führte meine Familie im Tross der Zhongshan-Schule eine Art modernes Nomadenleben, das uns durch halb China führte.
Tausende von Kilometern legten wir zurück, bis wir schließlich über zahllose verschlungene Bergpfade nach Chongqing gelangten. Dort, im vermeintlichen Schutz der Berge, endete der steinige Weg unserer Pilgerreise fürs Erste. Immer wieder hatten uns Hunger, Erschöpfung und Krankheit beinahe zum Aufgeben gezwungen, doch letztendlich trieb uns der Glaube an ein Leben in Freiheit weiter voran. Unmittelbar nach unserer Ankunft in Chongqing kamen fünf Lehrer und Schüler während eines Bombenangriffs ums Leben. Die japanische Luftwaffe hatte einen unerwarteten Blitzangriff auf die Stadt geflogen und nur einen Atemzug später waren unsere Freunde tot. Die Drohungen des Krieges und der Tod waren allgegenwärtig. Egal wie weit wir liefen, sie ließen sich nicht abschütteln – sie waren immerzu um uns herum. In den nachfolgenden sieben Jahren gehörten die Bombardements zum festen Tagesablauf, man konnte beinahe die Uhr danach stellen. In meiner Erinnerung gibt es keinen Tag, an dem sich die japanischen Bomber eine Pause gegönnt hätten.
Chongqing markierte zumindest für meine Familie und mich erst einmal das Ende unserer Flucht. Die Lehrer und Schüler der Zhongshan-Schule hingegen mussten jedoch noch weitere 250 Kilometer bis nach Ziliujing marschieren, wo sie endlich ihre künftige Bleibe im großen „Tempel der Stille“ fanden. Die weitläufige Anlage des Ningjing-Si bot eine Vielzahl an Räumlichkeiten für Unterbringung und Klassenzimmer, so dass der normale Schulbetrieb zügig wieder aufgenommen werden konnte. Die Größe der Tempelanlage erwies sich als wahrer Segen, da die Schülerschaft noch unerwarteten Zuwachs aus Chongqing erhielt. Zum einen gab es Jugendliche, die aus ihrer Heimat geflohen und in der neuen Regierungshauptstadt gestrandet waren, zum anderen jene, die direkt aus Chongqing stammten und versuchten, den zunehmenden Bombardements zu entkommen. Für alle diese jungen Menschen war die Zhongshan-Schule damals ein ideales Zuhause fern der Heimat.
Nach unserer Ankunft in Chongqing mietete mein Vater ein Haus im Stadtviertel Sideli – dem „Vier-Tugenden-Viertel“. Er hatte sich dafür entschieden, weil dieses Viertel recht zentral lag, und das war ihm wichtig, denn er rief die Nordostchinesische Gesellschaft wieder ins Leben. Bis sie dann 1946 endgültig aufgelöst wurde, bestand die Hauptaufgabe der Gesellschaft in der militärischen Ausbildung von Mitgliedern der Antijapanischen Untergrundorganisationen und der Koordination von Splittergruppen für gezielte Aktionen, vor allem in der Mandschurei. All das konnte natürlich nur mit finanzieller Unterstützung der Nationalregierung stattfinden. Die Gesellschaft musste jedoch sehr bald wieder umziehen, weil das gemietete Haus, kurz nachdem wir eingezogen waren, schon durch einen Bombenangriff zerstört worden war. Wieder einmal waren wir dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen, doch wir hatten auch Glück im Unglück, denn es gelang Vater in kürzester Zeit, zwei nebeneinander stehende Häuser am Stadtrand zu finden. Mit dem wenigen, das wir noch aus den Trümmern gerettet hatten, zogen wir nun in den Stadtbezirk Shapingba um. Der Bezirk hatte seinen Namen von dem Uferdamm am Jialing-Fluss und wurde zum neuen Standort zahlreicher Bildungs- und Kultureinrichtungen, die von der Nationalregierung umgesiedelt worden waren. Eines der Häuser bewohnten wir und das andere wurde zum neuen Hauptsitz der Nordostchinesischen Gesellschaft. Später diente es auch als Redaktionsbüro für die von meinem Vater herausgegebene Zeitschrift „Zeit und Strömung“.
Eines frühen Morgens im November 1938, nachdem wir durch halb China vagabundiert waren, setzte mein Vater mich in seinen Wagen und fuhr mich wieder einmal zu meiner neuen Schule. Wir fuhren etwa 20 Kilometer flussaufwärts am Ufer des Jialing entlang, der ein Nebenfluss des Jangtse ist. Kurz hinter dem Stadtviertel Xiaolongkan zeichnete sich in dieser Einöde aus gelber Erde langsam eine Gruppe von ziegelroten Gebäuden ab. Eingebettet in einem spärlichen Hain aus dürren Bäumchen und mickrigen Büschen wirkten die Gebäude ziemlich beeindruckend. Xiaolongkan bedeutet so viel wie „Grube der Kleinen Drachen“ – in Anbetracht des imposanten Ziegelbaus wurde mir plötzlich etwas mulmig zumute. Das war also die private Nankai-Oberschule, die mich und die anderen kleinen Drachen in den folgenden Jahren zu gesunden, offenherzigen und positiv denkenden Menschen heranbilden sollte.
Nachdem die Japaner die Mandschurei besetzt hatten, nutzten sie ihre Konzession in Tianjin als militärische Basis, um ihre tückischen Klauen von dort aus nach Nord-China auszustrecken und ihre Gebietsansprüche aufs Aggressivste voranzutreiben. In den darauffolgenden Jahren gingen die Lehrer und Studenten der Nankai-Universität sowie der gleichnamigen Mittelschule, die damals noch in der Hafenstadt Tianjin ansässig waren, unzählige Male auf die Straße, um gegen die japanische Invasion zu demonstrieren. Voller Nationalbewusstsein riefen die Demonstranten zu mehr Patriotismus auf und versuchten den Kampfgeist der Bevölkerung wachzurufen. Der Rektor beider Lehrinstitutionen, Zhang Boling, hatte schon früh geahnt, dass es unweigerlich zu einem baldigen Krieg kommen würde, und daraufhin begonnen, nach einer Ausweichmöglichkeit für seine Schule im südwestlichem Teil des Landes, Provinz Sichuan, zu suchen. Chongqing war zu jener Zeit bereits Exil vieler Flüchtlinge aus dem Nordosten Chinas und erschien ihm daher als ziemlich sichere Alternative. Dank der Unterstützung durch etliche recht wohlhabende Einheimische fand er 1936 schließlich ein Grundstück im Bezirk Shapingba, das ihm unentgeltlich zur Verfügung gestellt wurde. Zudem wurde von allen Seiten Geld gespendet, so dass auch der Bau des Schulgebäudes gesichert war. So war binnen kurzem der Schulbetrieb wieder aufgenommen, und schon im ersten Jahr konnten 160 Schüler aufgenommen werden.
Unmittelbar nach dem Zwischenfall an der Marco-Polo-Brücke von 1937 wurde die Nankai-Schule in Tianjin als eine der Ersten durch einen japanischen Bombenangriff zerstört. Seitdem galt die neu gegründete gleichnamige Schule im Hinterland als Symbol des langen Widerstands gegen die japanischen Invasoren. Nach dem Verlust von Shanghai verlegte die chinesische Regierung am 01. Dezember 1937 ihren Sitz nach Chongqing – in die provisorische Kriegshauptstadt. Trotz aller Schwierigkeiten während des achtjährigen Widerstandskrieges bildete die Nankai-Schule zigtausende Schüler aus. Sie alle wurden die Erben der Weltanschauung und des Gedankenguts ihres Schuldirektors, Zhang Boling. Die meisten von ihnen sollten auch später noch diese Geisteshaltung fortführen und verbreiten.
Direktor Zhangs wegweisendes Lebenswerk war von seinem unerschütterlichen und zugleich liebevollen Patriotismus durchdrungen. Seine auffälligsten Eigenschaften waren menschliche Wärme und Größe, die er zeitlebens ausstrahlte. Dieserart verkörperte er allen voran den unbeugsamen Geist, dessen die Nankai-Schule gerühmt wurde und der so trefflich in der Schulhymne beschrieben wird: „Des Menschen Würde und nach Höherem zu streben, das ist der Geist der Nankai-Schule, der uns beseelt!“ Und menschliche Größe verkörperte er nicht nur im charakterlichen, sondern auch im physischen Sinne. Zhang war 1,82 Meter groß, von kräftiger Statur und hatte breite Schultern. Zu seinem gewohnten Erscheinungsbild gehörten eine dunkle Brille auf der Nase und eine lange traditionelle Robe, die er zu jeder Jahreszeit trug. So konnten wir ihn jeden Tag in seiner aufrechten Haltung und mit großen Schritten über das Schulgelände gehen sehen. Nichts schien ihm etwas anhaben zu können. Unter seiner Leitung glaubten wir selbst an schlimmsten Tagen, wo die Kriegslage aussichtlos schien und die Bombemangriffe heftig waren, dass China nicht untergehen würde.
Man kann sich kaum vorstellen, wie beschwerlich das Leben in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts für das Kind eines mittellosen Hauslehrers gewesen sein muss. Man zog von Ort zu Ort, war von der Gnade der Oberhäupter des jeweiligen Familienclans abhängig, und so konnte er nur Schulen besuchen, welche kein Schulgeld verlangten. Direktor Zhangs Vater unterrichtete zumeist in ländlichen Regionen, und nicht überall gab es von den Gemeinden finanzierte Schulen. In einem solchen Umfeld aufwachsend, bekam er schon früh einen Eindruck vom Ausmaß des Analphabetentums in seiner Heimat und erkannte die große Bedeutung von Bildung. Als er 13 Jahre alt war, bestand er die Aufnahmeprüfung zur nordchinesischen Beiyang-Marineakademie in Tianjin, welche sich am modernen westlichen Bildungssystem orientierte. Zhang besaß eine schnelle Auffassungsgabe und begriff sofort die Bedeutung dieser „neuen Bildungs- und Erziehungsideale“, denn dort traf er erstmals auf moderne Intellektuelle und Denker der chinesischen Aufklärung. Er hatte das Glück, die Bekanntschaft des Gelehrten und Übersetzers Yan Fu (1854–1921) zu machen, der zum Kreise der frühen Reformer zählte und wie etliche andere Lehroffiziere einen Teil seiner Ausbildung in Großbritannien absolviert hatte.
Diese jungen Marineoffiziere brachten von ihrem Studium in Europa modernes westliches Gedankengut und die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse nach China mit. Voller Tatendrang und Enthusiasmus wollten sie dieses Wissen dazu nutzen, einerseits eine starke und moderne Kriegsmarine aufzubauen und andererseits durch Bildung eine neue Generation von Bürgern heranzuziehen. Angesichts der Machtlosigkeit Chinas, sich militärisch gegen die zunehmende Kontrolle durch ausländische Staaten zu wehren, sahen sie es als ihre Berufung an, ihre Nation wieder zu alter Größe zu führen, nachdem diese so lange Schmach und Schande hatte erdulden müssen. Ihr aufstrebender Geist und ausgeprägter Wille hatten einen dauerhaften Einfluss auf den jungen Zhang, der ihn für den Rest seines Lebens prägen sollte.
Als der junge Kadett Zhang seine Ausbildung an der Marineakademie begann, war er in etwa so alt wie ich, als ich an der Nankai-Schule aufgenommen wurde. Sechs Jahre lang besuchte ich diese Schule, und ich kann mich noch sehr gut an die Geschichten erinnern, die uns Direktor Zhang während der allwöchentlichen Schulversammlungen erzählte, wobei er die eine oder andere Anekdote mehrfach zum Besten gab. Dennoch ist es ihm zu verdanken, dass die historischen Vorgänge meines Heimatlandes irgendwo in meinem Hinterkopf nach und nach Gestalt annahmen und sich zusammenfügten. Ich begann zu begreifen, was in unserer Gesellschaft tatsächlich geschah und warum es dazu hatte kommen müssen.
Seinen Schulabschluss machte er 1894, also in dem Jahr, als der Erste Japanisch-Chinesische Krieg ausbrach. Kaum sechs Wochen nach Kriegsbeginn verlor China fast die gesamte Nordflotte und somit eine der größten und modernsten des Landes. Die Marine-Offiziere aus Zhangs Abschlussjahrgang fanden infolgedessen kein einziges Schiff, auf dem sie den praktischen Teil ihrer Ausbildung absolvieren konnten. Es dauerte ein ganzes Jahr, bis er und seine Kameraden einen Ausbildungsplatz auf dem Kanonenboot „Tongji“ zugewiesen bekamen. Während seiner dreijährigen Ausbildung auf dem Marineschulschiff sah er mit eigenen Augen, wie der Hafen von Weihaiwei in der Provinz Shandong als Stützpunkt der verbliebenen Nordflotte zum Schlachtfeld wurde. Voller Entsetzen musste er mit ansehen, wie die Japaner einen Großteil der chinesischen Flotte versenkten und China schließlich kapitulierte. Sein Blick von den heimischen Gewässern auf das Festland verdeutlichte ihm die nationale Demütigung auf besonders anschauliche Weise: Zuerst wurde die Flagge der Verlierer, des Kaiserreiches der Qingdynastie, eingeholt und den siegreichen Japanern übergeben. Diese hissten nun ihre eigene Flagge, die mit der blutroten Sonne. Doch die Shandong-Halbinsel blieb auch weiterhin ein Spielball der imperialistischen Mächte. 1898 holten wiederum die Japaner ihre Flagge ein und übergaben sie Großbritannien. Fortan wehte über der Küste am Ostchinesischen Meer der Union Jack. Der junge Marine-Offiziere Zhang empfand es als zutiefst empörend, dass praktisch von einem auf den anderen Tag drei unterschiedliche Flaggen über seiner Heimat wehten! Viele Jahre später sollte er jene Zeit noch einmal in Erinnerung rufen:
„Tief saß der Schmerz in meiner Brust, und so schwer die Trauer auch wiegen mochte, war doch mein Herz zugleich von loderndem Zorn erfüllt. Zu bitter war die Erkenntnis darüber, wie schwach unser Land tatsächlich geworden war. Welche Wahl hatten wir denn, als unsere Nation wieder zu Größe und Stärke zu führen, um diese Zeit zu überstehen? Wie nur sollten wir überleben? Nur durch Bildung und Erziehung! Daran führte kein Weg vorbei!“
So beschrieb er seine Gefühle und Ansichten in der Gedenkschrift „Rückblick auf 40 Jahre Nankai-Schule“ von 1944. Ja, es war seinen Worten deutlich anzumerken, dass er diesen immensen Zorn im Augenblick der Erinnerung noch immer verspürte:
„… angesichts dieser unterernährten Matrosen – unserer Matrosen, in ihren schlechtsitzenden Magua-Uniformjacken, die seit hunderten von Jahren unverändert geblieben waren. Die Vorderseite war mit dem chinesischen Schriftzeichen ‚bing ‘ für Soldat und die Rückseite mit ‚yong ‘ für Tapferkeit bestickt. Mit ihrem altmodisch breiten Schwert in der Hand und einer Opiumpfeife im Gürtel steckend, trotteten sie geistesabwesend, ohne Gleichschritt oder jegliche Formation davon, um das Drachenbanner der Qingdynastie einzuholen. Kurze Zeit später rückte eine streng geordnete Soldatenformation im Gleichschritt an. Aufrecht, stolz und mit Uniformen, deren Beschläge in der Sonne glänzten: Das waren die Briten und sie strahlten eine unerschütterliche Siegesgewissheit aus. Allein dieser Anblick machte einem sofort klar, wer hier der Sieger und wer der Verlierer sein musste!“
Es machte ihn unglaublich wütend, dass die Menschen um ihn herum keinerlei Stolz, Ehrgefühl und Hingabe besaßen. Dabei ahnten sie nicht einmal, mit welcher unmittelbaren Bedrohung ihr Land konfrontiert war, oder es kümmerte sie einfach nicht. Dieser Zustand ließ Zhang keine Ruhe mehr: Die Nation stand am Abgrund und es musste ein Weg aus dieser Krise gefunden werden! Er kam zu dem Schluss, dass man das Volk nur durch Erkenntnis mittels Bildung und Erziehung wachrütteln könne. Tief in seinem Innersten spürte er die Überzeugung wachsen, dass es seine ganz eigene Bestimmung sei, in Zukunft seinen Mitbürgern traditionelles wie modernes Wissen zu vermitteln und sie zu lehren, das eigene Land wieder zu lieben. Ohne zu zögern verließ er, seiner Überzeugung folgend, die Kriegsmarine und widmete sich fortan der Bildung und Erziehung seiner Landsleute.
Noch im selben Jahr gründete er eine kleine familienbetriebene Grundschule in seiner Heimatstadt Tianjin, die jedoch vorerst nur wenige Schüler aufnehmen konnte. 1904 erweiterte er die Klassen um eine Sekundarstufe. In den folgenden Jahren reiste er zweimal nach Japan, um dort die verschiedenen Schulformen kennenzulernen, insbesondere jedoch die Privatschulen. Er entwarf ein detailliertes Konzept zur Erweiterung seiner Schule und organisierte eine Spendenaktion zur Finanzierung des Projektes. So erhielt er das Grundstück in Nankai-Wa, einer Senke im südwestlichen Teil Tianjins, wo er 1908 die Nankai-Mittelschule eröffnete. Zu diesem Zeitpunkt war er noch keine 30 Jahre alt und schwor, beseelt von patriotischer Leidenschaft, sein Leben der Ausbildung und Erziehung der Jugend eines neuen Chinas zu widmen. Umso überraschender war es für seine Mitmenschen, als er 1917, im Alter von 41 Jahren, beschloss, in die USA zu gehen, um dort an der Columbia-Universität Pädagogik zu studieren.
Die meisten seiner Mitstreiter versuchten ihn von diesem Vorhaben abzubringen: „Denk doch noch mal darüber nach. Du bist doch schon erfolgreich und so etwas wie eine Berühmtheit. Welchen Sinn macht es da, zwischen all den fremden Jugendlichen noch einmal die Schulbank zu drücken?“ Andere wiederum versuchten Druck auf ihn auszuüben, indem sie ihm vorhielten: „Dich mag es nicht weiter kümmern, dass du dein Gesicht verlierst, indem du all das unbedingt über dich ergehen lassen willst, aber uns ist es keinesfalls egal! Dir muss klar sein, dass wir dann wohl alle unser Gesicht verlieren werden!“ Doch fortgehen, das musste er, für die Zukunft seiner Schüler und für sich selbst. Er ging und arbeitete hart für sein Studium, absolvierte verschiedene Praktika und engagierte sich im Rahmen unterschiedlicher Austauschprogramme. Einer seiner Dozenten war der renommierte Philosoph und Pädagoge John Dewey (1858–1952), der später, Mitte der Zwanzigerjahre, in China das moderne Schulsystem als Berater mit aufbauen würde. Ein gutes Jahr später kehrte er nach Tianjin zurück und gründete dort die Nankai-Universität.
Seine vielfachen Aktivitäten für den Wiederaufbau des Landes und zur Modernisierung des chinesischen Bildungswesens blieben auch bei den Japanern nicht unbemerkt. Zudem intensivierte er seine patriotischen Bestrebungen mit Beginn des Antijapanischen Widerstandskrieges. Die Japaner hassten ihn wie die Pest. Vor allem die landesweit renommierte Nankai-Universität betrachteten sie als zentralen Nährboden für Chinas Patriotismus und als Keimzelle des Widerstandes gegen die japanischen Übergriffe. Als Rache für seine erfolgreichen Unternehmungen wurde die Universität gleich zu Beginn des Krieges zum Hauptziel eines japanischen Fliegerangriffs. Das Gebäude wurde völlig zerbombt. Doch damit noch nicht genug, denn während des Einmarsches der japanischen Truppen wurde die Ruine auch noch bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Japan hatte damit ein unübersehbares Zeichen gesetzt. Generalissimus Chiang Kai-Shek erklärte daraufhin öffentlich: „Die Nankai hat sich für unser Land aufgeopfert! Solange es ein China gibt, so lange wird es auch die Nankai geben!“ Daraufhin ordnete er die sofortige Evakuierung der Universitäten Nankai, Beida (Peking-Universität) und Tsinghua an, die erst in Changsha und später dann in Kunming, in der Provinz Yunnan vorübergehend zur Vereinigten Südwest-Universität zusammengefasst wurden. Die sogenannte Xinan Lianda galt während des Krieges als die beste Hochschule des Landes.
Seit 1904, als seine kleine Familienschule gerade einmal Platz für 75 Schüler bot, bis zu seinem Tod im Jahre 1951 hatte Direktor Zhang unzählige von glühender Leidenschaft beseelte Vorträge im ganzen Land gehalten, und jedes Mal legte er den Zuhörern seinen Leitsatz ans Herz: „Weil es mich gibt, wird China nicht untergehen!“ Sein ganzes Leben hatte er dem Ideal gewidmet, China durch Bildung und Erziehung seines Volkes zu retten. Es ist seiner unermüdlichen Hingabe zu verdanken, dass die jungen Menschen der nachfolgenden Generationen endlich begannen, voller Mut und Zuversicht die Verwandlung und den Aufbau ihres Landes wieder selbst in die Hand zu nehmen. Während dieser Schaffensperiode im Dienste der Bildung, die beinahe 50 Jahre lang andauerte, erlebte er ein China, das von einer Vielzahl von Katastrophen und schrecklichem Leid heimgesucht wurde.