Kitabı oku: «Der Mächtige Strom», sayfa 9

Yazı tipi:

Meine Tante, die Schwester meines Vaters, nahm mich am nächsten Tag bei der Hand, denn ich wollte unbedingt meine Mutter und meine kleine Schwester besuchen. Sie war doch noch so klein und ich wollte sie nicht allein lassen in dieser fremden Umgebung. Man hatte veranlasst, dass meine Mutter auf die Intensivstation kam, die sich am Ende des linken Flügels befand. Mutters dritter Bruder Pei Yuqing war die ganze Zeit bei ihr am Bett geblieben und hatte voller Sorge beobachtet, wie die Ärzte rund um die Uhr darum gekämpft hatten, Mutters Zustand zu stabilisieren, denn durch den hohen Blutverlust war sie bereits lebensbedrohlich geschwächt. Onkel Pei war früher Direktor einer Volksschule gewesen, aber nach dem Fall von Tianjin und Peking hatte auch er die Mandschurei verlassen müssen und war zu uns nach Nanking geflüchtet. Jetzt wollte er gemeinsam mit uns ins halbwegs sichere Hinterland fliehen.

Es war der fünfte Tag im Katholischen Krankenhaus von Hankou und ich hatte die ganze Nacht am Bett meiner kleinen Schwester verbracht. Im Morgengrauen war ich dann todmüde und frierend zu ihr in das schmale Bettchen gekrochen und eingeschlafen. Ich kann nicht sagen, wie lange ich so bei ihr gelegen hatte, als ich plötzlich durch das laute Schluchzen meiner Tante geweckt wurde. Der kleine, schmächtige Körper meiner kleinen Schwester war ganz kalt geworden. Ihr kleines süßes Gesicht so blass und weiß, wie frischer Schnee. Jingyuan war tot! Wie hatte das nur geschehen können? Bevor ich vor Erschöpfung eingeschlafen war, hatte sie ihre Augen noch ganz weit geöffnet, mich angeschaut und dabei gemurmelt: „Arm nehmen, Jiejie, Arm nehmen.“ Jetzt lag sie regungslos da, kalt geworden wie Eis, und ihre Augen waren noch immer halb geöffnet.

Alarmiert durch unser lautes Weinen und Schluchzen kam eine Ordensschwester herbeigeeilt. Sanft legte sie ihre Hand auf das kleine Gesicht und schloss meinem Schwesterchen die Augen. Dann nahm sie mich in den Arm und erklärte mir: „Nun weine nicht mehr, denn solange deine Tränen ihr Gesicht nass machen, kann sie nicht zum Himmel aufsteigen.“ Meine Tante schickte mich aus dem Zimmer. Ich sollte auf dem Gang warten, bis sie mich wieder hereinrufen würde. Als ich das Krankenzimmer wieder betreten durfte, hatten sie den kleinen Körper bereits in ein weißes Tuch gehüllt. Wir durften uns noch verabschieden, dann trug die Ordensschwester sie hinaus. Inzwischen war es hell geworden, aber es regnete unaufhörlich. Ich schaute in den winterlichen Himmel. Er hatte die stumpfe Farbe von Metall, grau in grau. Ich war 13 Jahre alt und befand mich in einer fremden Stadt. Schweren Herzens und voller Angst schlich ich durch die Gänge bis zum Zimmer, in dem meine Mutter lag. Mutter konnte mich nicht wahrnehmen, da sie noch immer nicht bei vollem Bewusstsein war. So blieb ich hilflos an der Tür stehen.

Um ihr Krankenbett herum standen Ärzte und Krankenschwestern. Obwohl sie gerade eine weitere Bluttransfusion erhalten hatte, verlor Mutter erneut das Bewusstsein. Der ältere Arzt nahm meinen Onkel zur Seite: „Bereiten Sie sich bitte auf das Schlimmste vor. Wir werden weiterhin unser Möglichstes tun, aber es wird wohl kaum Besserung bringen. Es besteht keine große Hoffnung mehr.“

Mein Onkel war wie vor den Kopf gestoßen. Blass und wortlos machte er sich auf den Weg, um die Vorbereitungen für das scheinbar Unvermeidliche zu treffen. Begleitet von einigen Schülern fand er in der für ihn vollkommen fremden Stadt schließlich einen Sarghersteller. Bei diesem kaufte er einen kleinen Sarg und bestellte einen großen. Er ließ sich noch ein Bekleidungsgeschäft empfehlen, wo er für meinen 16-jährigen Bruder und mich Trauerkleidung bestellte. Als er schließlich ins Krankenhaus zurückkam, war der Puls meiner Mutter schon so schwach, dass man ihn kaum noch fühlen konnte. „Yuzhen! Wach auf!“, schrie mein Onkel voller Verzweiflung, „Du darfst noch nicht sterben! Schau deine Kinder an! Sie sind noch so jung! Bitte! Bitte geh noch nicht!“

Jahrzehnte später sollte Mutter uns dann erzählen, dass sie sich noch daran erinnern konnte, wie sie inmitten eines grauen Nebels plötzlich diese Worte hörte. Irgendjemand rief ihren Namen, und in den dunstigen Schwaden erkannte sie nach und nach mich und meinen Bruder. Bis zu den Knien hätten wir vor ihr im tiefen Schnee gestanden und hielten drei kleine Kinderfiguren in den Händen, unsere jüngeren Geschwister … Sie fühlte, dass wir in großer Not waren, und wollte uns holen kommen, doch der Schnee war so hoch und weich, dass sie kaum einen Schritt vor den anderen setzen konnte. So kämpfte sie sich Schritt für Schritt, rutschend und stolpernd auf uns zu, immer weiter vorwärts, bis sie langsam und mühselig ins Leben zurückgekehrt war.

In meiner Hilflosigkeit hatte ich die ganze Zeit verängstigt im Türrahmen gehockt. Niemand hatte Zeit gehabt, sich um mich zu kümmern. Und als ich dann hörte, wie mein Onkel meine Mutter anflehte, da wurde mir ganz kalt und ich fühlte mich noch ängstlicher und verlassener. Plötzlich kam Zhang Dafei zu Tür hereingestürmt und wäre fast über mich gestolpert. Ich brach erneut in Tränen aus und heulte: „Die kleine Schwester ist tot! Und Mama auch bald!“ Er ging zu meiner Mutter, kniete vor dem Bett nieder, senkte den Kopf und begann mit gefalteten Händen zu beten. Nach einiger Zeit kam er dann zu mir auf den Gang und erzählte: „Ich habe mich an der Militärakademie angemeldet. Ich komme ins Ausbildungsbataillon der Luftwaffe. Und deswegen habe ich auch meinen Namen geändert. Ich nenne mich jetzt Dafei – ‚Ruhmreicher Flug‘. Wir sollen uns um elf Uhr an der Anlegestelle im Hafen versammeln, bereit für die Abfahrt. Vorher musste ich aber unbedingt noch Mutter besuchen kommen. Bitte sag es auch dem älteren Bruder. Ich werde euch schreiben, sobald ich kann.“

Dann holte er noch ein kleines Päckchen aus seinem Rucksack und legte es in meine Hände. Für einen Augenblick hielten seine Hände die meinen mit dem Päckchen umschlossen und er sagte: „Bewahre es gut auf. Es enthält all die Worte, die ich dir gern sagen würde.“ Dann verließ er mit eiligen Schritten das Krankenhaus. Später schrieb er mir in einem Brief, dass er den ganzen Weg vom Krankenhaus zum Hafen hatte rennen müssen, um noch pünktlich zum Sammelpunkt zu kommen. Dabei hätte er immerzu daran gedacht, dass er im Laufe des vergangenen Jahres so viel Liebe und Wärme von meiner Mutter empfangen hatte, gerade so wie von seiner eigenen Mutter. Und dann hatte er sich von ihr verabschieden müssen, als sie sich in solch einem kritischen Zustand befand, ohne zu wissen, ob er sie je wiedersehen würde. Den ganzen Weg zum Hafen hätte er seine Tränen immer abwischen müssen.

In dem Päckchen, das er mir überreicht hatte, befand sich eine nagelneue Bibel mit Goldschnitt und einem Umschlag aus Leder. Es war genauso eine wie die, die er selbst auch besaß. Seit jenem Tag trage ich sie immer bei mir, auf all den beschwerlichen Reisen durch die unwirtlichsten Gegenden dieser Welt und mit den unterschiedlichsten Beförderungsmitteln, sei es zu Lande, zu Wasser oder in der Luft. Bis heute, nach mehr als 60 Jahren, ist die Schrift noch immer unverblasst und sehr gut lesbar. Auf der ersten Leerseite hatte er eine Widmung geschrieben:

Für meine kleine Schwester Pang-Yuan:

Dieses Buch ist das Leben der Menschheit, die Seele des Universums und die spirituelle Quelle aller Christen. Möge der ewige Gott stets mit Dir sein und Dich mit seiner Liebe erfüllen.

Ich wünsche Dir eine helle und liebevolle Zukunft, auf dass Du stets im Garten der Freude leben mögest. Amen!

Zhang Dafei, Dein vierter Bruder im Geiste des Herrn

18. November 1937

Bis zu jenem Tag hatte noch nie ein Mensch mein von Krankheit und Sorgen dominiertes Leben mit dem Wunsch für eine „liebevolle Zukunft“ gesegnet.

5 - Das Massaker von Nanking

Am 7. Dezember traf endlich auch mein Vater in Hankou ein. Zusammen mit einigen Dutzend treuen Mitgliedern des Obersten Führungsstabes hatte er Nanking verlassen müssen, wo sie trotz der drohenden Gefahr durch die Japaner bis zuletzt ausgeharrt hatten. Sie wurden mit Generalissimus Chiang Kai-Shek zuerst nach Yichang in der Provinz Hubei ausgeflogen und bestiegen dort eine Marine-Fregatte, die sie nach Hankou brachte.

Die Familie hatte endlich wieder ihren Vater zurück. Seine Haut war von der Wintersonne dunkelbraun gebrannt und er war vollkommen abgemagert, da es während der letzten Tage in Nanking kaum noch möglich gewesen war, an ausreichend Lebensmittel zu gelangen. Er schaute sich um und sah in unsere verängstigten Kindergesichter. Da brachen die Tränen einfach aus ihm heraus und rannen entlang seiner Falten das Gesicht herunter. Er zog sein Taschentuch heraus. Früher hatte er es stets makellos weiß gehalten, doch mittlerweile war es vom Staub gelblich-grau verfärbt. Er wischte sich immer wieder die Tränen vom Gesicht, und bald war das Tuch völlig durchnässt. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich einen erwachsenen Mann so bitterlich weinen. „Unser Land ist verwüstet, unsere Familie vertrieben. Das ist die Realität!“, sagte er schlicht, und sein langer, tiefer Seufzer erzählte uns mehr von dem Schmerz, der ihn erfüllte, als jegliche Worte es gekonnt hätten. Für uns, seine Familie, bedeutete es jedoch ein Glück im Unglück, denn immerhin war Vater unversehrt zu uns zurückgekehrt. Seine Anwesenheit erleichterte und beruhigte auch unsere Mutter sehr und gab ihr wieder neuen Lebensmut. Tag um Tag kam sie ein wenig mehr zu Kräften, und schließlich konnten wir uns sicher sein: Unsere Mutter würde überleben!

Jeden Morgen nahm mein Vater die Fähre von Hankou nach Wuchang, welches der Generalissimus zum neuen Regierungssitz erklärt hatte. Die Oberste Kommandozentrale im Antijapanischen Krieg bezog ihre neuen Diensträume in der örtlichen Garnison, und dort arbeitete auch mein Vater weiterhin für den Obersten Führungsstab. Zu seinen Aufgaben gehörten unter anderem die tägliche Auswertung der Lageberichte von den Fronten sowie die Verwaltung und Koordination der übergreifenden Planungsbereiche. Zu diesem Zeitpunkt dauerte der Krieg bereits fünf Monate, und Japan, welches sich zuvor damit gebrüstet hatte, dass es China binnen drei Monaten unterwerfen würde, sah sich nun mit einer Nation konfrontiert, die aufgewacht war und sich gegen den Feind erhoben hatte.

Die Luftangriffe der Japaner hatten sich bisher auf Shanghai, Nanking, Wuhu und Nanchang konzentriert. Nun wurde auch HankouTag und Nacht intensiv bombardiert. Alles, was nach den Bombardements von dem einst dicht bevölkerten Stadtzentrum noch übrig geblieben war, waren die skelettartigen Ruinen der einst so prächtigen und hohen Häuser zwischen Bergen aus Schutt und Leichen. Des Nachts konnte man überall entlang des Jangtse die unaufhörlich lodernden Feuer erkennen. Tag um Tag schien die Zahl der angreifenden Bomber zuzunehmen, doch unsere eigene Luftwaffe flog todesmutig Staffel um Staffel frontal gegen den Feind. Es gelang ihnen während der Luftkämpfe zahlreiche Kampfflugzeuge mit dem strahlenden Sonnenzeichen abzuschießen. Bei jedem Abschuss vergaßen die Menschen die drohende Lebensgefahr und kamen aus den Ruinen, um den tapferen Kämpfern zuzujubeln. Das neue China feierte gerade seine größten Helden: die Luftwaffe!

Am Nachmittag des 13. Dezember ertönten draußen auf der Straße die lauten Rufe der Zeitungsjungen: „Extrablatt! Extrablatt!“ Mein Onkel rannte so schnell er konnte die Treppen hinunter, um eine Ausgabe zu ergattern. Auf dem Titelblatt prangte die Schlagzeile: „Nanking in feindlicher Hand! Japanische Soldaten marschieren durch das Zhonghua-Tor in unsere Hauptstadt. Erbarmungslos setzen sie die Stadt in Brand, plündern und metzeln die Bevölkerung nieder …“ Am nächsten Tag titelten die Zeitungen: „Nanking ist gefallen!“ Dem Artikel zufolge waren 50.000 unserer Soldaten während der Verteidigung in den ersten zwei Tagen gefallen oder schwer verwundet worden. Hunderttausende Zivilisten, Männer, Frauen und Kinder aller Altersgruppen hatte der Feind brutal abgeschlachtet! Um sich bei ihren Vorgesetzten als würdig zu erweisen, begannen die japanischen Soldaten, sich gegenseitig an Brutalität und Grausamkeit zu überbieten. Die Spirale der Gewalt hatte sich verselbständigt und der Feind berauschte sich am Blut der Verlierer. Unzählige Frauen jeden Alters wurden auf bestialische Weise vergewaltigt und dann getötet. Die Opfer wurden aufgespießt, bei lebendigem Leib gehäutet oder einfach begraben, bis ihre Schreie von der Erde erstickt wurden. Diejenigen, denen man einfach den Kopf abschlug, hatten Glück gehabt. Die barbarischen Abscheulichkeiten der japanischen Soldaten gipfelten schließlich in regelrechten Tötungswettkämpfen!

Auf der selben Seite stand: Der Wissenschaftler Albbert Einstein, der britische Philosoph Bertrand A. W. Russel, der französische Schriftsteller Romain Rolland und der amerikanische Philosoph John Dewey appelierten in einem gemeinsamen offenen Brief an alle Völker der Welt, japanische Handelsgüter zu boykottieren, nicht mit Japan zusammenzuarbeiten, China mit allen Mitteln zur Hilfe zu kommen, bis die japanische Armee gänzlich aus China zurückzöge und mit den aggressiven Gewalttaten aufhörte. Dieser Appell wurde von Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen zahlreicher Nationen unterstützt. Doch wie zu allen Zeiten verhallten auch die Rufe der modernen Welt nach Gerechtigkeit ungehört im Kanonendonner der Hegemonie. Drei Monate später marschierten Hitlers Truppen in Österreich ein und das Land wurde dem Deutschen Reich einverleibt. All den großen Wissenschaftlern und Philosophen blieb nichts anderes übrig, als hilflos dabei zuzusehen, wie eins ums andere ihrer Heimatländer im alten Europa in die blutbefleckten Hände dieses Diktators fiel. Wie sollte ihre Solidaritätsbekundung für China daraufhin noch einen praktischen Effekt haben können?

Nachdem auch Wuhu erobert worden war, traf die oberste militärische Führung die Entscheidung, zum Schutz der Gebiete flussaufwärts des Jangtse eine Blockade gegen die japanische Kriegsmarine zu bilden. Dazu wurden in der Flussenge von Madang 18 Dampfschiffe strategisch versenkt. Zudem ließ man eine Vielzahl von Dschunken und Sampan-Booten mit Steinen voll beladen, um sie dann zwischen den Dampfern zum Sinken zu bringen. Die Massaker von Nanking hatten keinerlei Zweifel an der zutiefst grausamen Natur der japanischen Aggressoren gelassen und den Widerstandswillen aller Chinesen entfacht. Aus allen Teilen des Landes trafen Telegramme ein, in denen die Provinzregierungen ihre Solidarität mit der Nationalregierung verkündeten und ihre Kampftruppen für die Kriegsfront zusicherten. Sogar die chinesischen Kommunisten gaben am 26. Dezember eine offizielle Erklärung ab, in der sie Chiang Kai-Shek ihre Unterstützung zusicherten und dem militärischen Oberkommando der Republik ihre Militäreinheiten unterstellten. Das erklärte Ziel aller Chinesen war es, den Kampf gegen die Japaner gemeinsam und unerbittlich bis zum Ende zu führen.

6 - Flucht von Hankou nach Xiangxiang

Die Regierung ordnete kurz darauf die Evakuierung der Bevölkerung und aller Flüchtlinge an. Sämtliche zivilen und militärischen Einrichtungen, Schulen sowie Fabrik- und Produktionsanlagen mussten schnellstmöglich Richtung Süden in die Provinzen Guizhou und Sichuan verlegt werden. Die Stadt Chongqing wurde daraufhin zur provisorischen Hauptstadt erklärt. Die Evakuierten sollten sich so rasch wie möglich auf den Weg nach Südwesten machen und dazu unbedingt der Hunan- Guangxi-Straße folgen, welche noch als sicher galt.

Es war ein Wettlauf gegen die Zeit. Mit Mühe und Not gelang es meinem Vater schließlich in Yongfeng, einer Kleinstadt in der Provinz Hunan, eine Bleibe für seine Schule zu finden. Die Stadtverwaltung hatte seinem dringlichen Ersuchen entsprochen und ihm eine vorläufige Zuflucht im Huangbi-Ahnentempel gewährt. Dieser bot ausreichend Platz für 1000 Schüler und Lehrer. Zudem erhielt er die Zusicherung der örtlichen Würdenträger, dass die Flüchtlinge mit Hilfeleistungen unterstützt würden. Sobald die Zusage eingetroffen war, brach hektische Betriebsamkeit aus. Binnen 24 Stunden waren wir bereit zum Aufbruch – Wir befanden uns wieder auf der Flucht. Die Kleinstadt, die zum Verwaltungsgebiet von Xiangxiang gehörte, war etwa 250 Kilometer von Hankou entfernt. Da uns nur wenige Lastwagen zur Verfügung standen, musste der Großteil unserer Gruppe den beschwerlichen Weg zu Fuß machen und die Reise nach Yongfeng sollte fast einen ganzen Monat dauern.

Aus Sorge um den Gesundheitszustand meiner Mutter hatte mein Vater alle Hebel in Bewegung gesetzt, und in letzter Minute war es ihm noch gelungen, einen Wagen zu organisieren. Er bestimmte, dass meine Mutter, mein Onkel, meine beiden Schwestern und ich mit dem Wagen fahren sollten. Da es noch Platz gab, konnten die Mutter eines Lehrers und die Ehefrau eines anderen Lehrers, die den langen Fußmarsch altersbedingt nicht mehr zu bewältigen vermochten, bei uns mitfahren. Unterwegs überholten wir die Marschkolonne der Schule. Mein Onkel erspähte meinen Bruder in der Truppe, welche die Nachhut bildete, und ließ den Wagen kurz anhalten. Er forderte meinen Bruder auf, in den Wagen zu steigen, und so rutschten alle zusammen, bis er sich neben den Fahrer quetschen konnte.

Am nächsten Tag machten wir Rast an einem kleinen Gasthof, wo wir auf meinen Vater warteten. Als er schließlich eintraf und meinen Bruder im Wagen entdeckte, fragte er ihn: „Warum fährst du denn im Auto mit? Hast du dich verletzt?“ Mein Bruder wusste nicht so recht, was er antworten sollte, woraufhin mein Onkel schnell das Wort ergriff: „Ach, im Wagen ist doch eh noch Platz, und du hast ja auch nur diesen einen Sohn. Lass ihn doch einfach bei uns mitfahren.“ Damit, dachte er, sei die Angelegenheit geklärt, doch da kannte er meinen Vater schlecht. Dieser antwortete ihm in einem unmissverständlichen Ton: „Unter all diesen Schülern, die unter meiner Obhut stehen, gibt es viele, die die einzigen Söhne ihrer Familie sind. Sie alle sind die Stammhalter ihrer jeweiligen Familie. Wieso sollten sie alle zu Fuß gehen, während mein Sohn in einem Wagen fahren darf?“ Da er als Antwort nur ein betretenes Schweigen erhielt, befahl mein Vater die sofortige Abfahrt, damit wir zügig die Marschkolonne einholen konnten. Als wir die Nachhut erreichten, ließ er meinen Bruder aussteigen, damit er mit den anderen Schülern zu Fuß weitergehen konnte.

Die Kolonne marschierte den ganzen Tag und rastete bei Nacht. Während wir in den unterschiedlichsten Herbergen entlang der Reiseroute unser Nachtquartier bezogen, mussten die anderen in zuvor arrangierten Unterkünften wie Gemeindesälen, Klassenzimmern oder dem Sportplatz irgendeiner Schule ihr Lager aufschlagen. Von den örtlichen Militärgarnisonen bekamen sie Reis und etwas Stroh als Schlafunterlage. Meistens gab es auch noch gekochten Rettich oder Chinakohl, so dass sie sich einigermaßen satt essen konnten.

Nachdem mein Bruder aus dem Auto geworfen worden war, nervte ich Vater und Mutter stundenlang mit meinem Gequengel. Ich wollte unbedingt mit meinem Bruder mitgehen: „Wieso darf er zu Fuß gehen und ich nicht? Warum muss ich denn mit dem Auto fahren?“ Da ich auch am nächsten Tag keine Ruhe geben wollte, willigten meine Eltern schließlich ein und ich durfte doch mitmarschieren. Frohmütig lief ich den Rest des Tages mit der Schülertruppe. In der darauffolgenden Nacht, die ich mit den anderen im Stroh schlafend verbrachte, bekam ich auf einmal hohes Fieber. Gleich bei Tagesanbruch wurde ich zu meiner Mutter zurückgebracht. Seit jenem Zwischenfall war für mich das Marschieren mit den anderen Jugendlichen kein Thema mehr.

Wir erreichten Xiangxiang Ende Januar, nur wenige Tage vor dem Frühlingsfest. Unterwegs war uns bereits aufgefallen, dass es in der Provinz Hunan eine wahre Vielzahl an unterschiedlichen Dialekten gab, was die Verständigung manchmal ziemlich schwierig machte. Obendrauf stellten wir nun fest, dass der Dialekt, der in Xiangxiang vorherrschte, der eigenartigste von allen war. Die Sprache war nur eine der Besonderheiten dieser Region. Xiangxiang war die Heimat des berühmten Malers Qi Baishi (1864–1957), einem Meister der volkstümlichen Malerei. Überhaupt war die ganze Stadt von einem besonderen Lokalkolorit geprägt, überall waren die alten Traditionen und Gebräuche sichtbar. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass die Ahnenverehrung eine besonders große Bedeutung für die Bevölkerung hatte.

Der für die Zhongshan-Schule vorgesehene Ahnentempel Huangbitang lag in dem Städtchen Yongfeng ein Paar Kilometer von Xiangxiang entfernt und war Eigentum einer mit Ming-Kaiser verwandten Familie. Die prächtige Anlage war von imposanter Größe und hatte knapp hundert Räume, so dass es nicht nur genug Platz für all die Unterrichtsklassen gab, sondern auch noch für die Unterkünfte der Schüler. Unsere Familie wurde zusammen mit den Lehrern und ihren Angehörigen in einem anderen Ahnentempel, der Fujia-Halle, die zum Anwesen eines reichen Bauern gehörte, einquartiert.

Seit wir aus Nanking geflohen waren, hatten wir nun zum ersten Mal wieder eine feste Bleibe! Es war zugleich auch seit langem das erste Mal, dass wir als Familie wieder vereinigt waren. Daher ließ sich der plötzliche Tod meiner jüngsten Schwester Jingyuan auch nicht mehr länger vor unserer Mutter verheimlichen. Zuvor hatte Vater ihr erzählt, dass sich die Kleine in der Obhut von Tante Han, seiner Schwester, befände. Erst jetzt wagten wir es, unserer Mutter die Wahrheit zu erzählen. Nun erfuhr sie auch, dass ihr Neffe Pei Lianjü und unser Quasi-Bruder Zhang Dafei sich freiwillig zur Armee gemeldet hatten. Mutter war zutiefst erschüttert und brach angesichts dieser Neuigkeiten in Tränen aus. Ihr Schmerz und ihre Trauer waren so groß, dass sie einen Rückfall erlitt und erneut für eine ganze Weile ans Bett gefesselt war.

7 - „Am Sunghua-Fluss war ich einst zu Haus“

Einige Tage nachdem sich die Schule in der Huangbi-Tempelanlage eingerichtet hatte, begannen die Festlichkeiten zum Chinesischen Neujahr. Der letzte Tag des Jahres war grau und trüb gewesen, doch das konnte die Vorfreude auf den Jahreswechsel nicht trüben. Während am Silvesterabend draußen ein Unwetter tobte, bereiteten drinnen Lehrer und Schüler gemeinsam das traditionelle „Jiaozi“-Essen zu, eine nordchinesische Spezialität für Familienfeiern. Dazu füllt man kleine Taschen aus Nudelteig mit Fleisch, Gemüse und Kräutern, ähnlich den deutschen Maultaschen, die ich viele Jahre später in Berlin kosten durfte. Da die Form der Jiaozi an die kleinen Goldschiffchen erinnert, die in China lange Zeit als Währung verwendet worden waren, schreibt man ihnen bis heute eine symbolische Bedeutung zu, die für das neue Jahr Glück, Wohlstand und sogar Reichtum verheißen soll. Das gemeinsame Kochen von Lehrern und Schülern am Silvesterabend war eine Tradition, die seit der Gründung der Zhongshan-Oberschule bestand, da viele der Schüler fern von ihrer Heimat diese Tradition nicht mit ihren eigenen Familien begehen konnten. Für die Jungen und Mädchen, die schon seit Längerem keine warme Mahlzeit mehr gesehen hatten, war dieses Festmahl ein besonders freudiges Ereignis und ein wahrhaftiger Genuss.

Nach dem gemeinsamen Abendessen gingen einige der Schüler zum Flussufer, wo sie auf den Wiesen etliche Lagerfeuer machten. Die anderen folgten etwas später nach und schließlich saßen einige hundert Schüler und Lehrer fröhlich um die lodernden Festfeuer herum. Irgendjemand sagte dann, dass die Heimat immer weiter in die Ferne rücken würde. Die Japaner hätten schon die Hälfte Chinas besetzt und würden uns unentwegt weiter fortjagen. Wann würde es möglich sein, die Rückkehr in die Heimat anzutreten? Unvermittelt breitete sich eine bedrückende Stille aus. Außer dem leisen Rauschen des Flusses und dem Knacken der brennenden Äste war nichts mehr zu hören. „Werden wir wohl jemals unsere Heimat wiedersehen?“, fragte jemand in die drückende Stille hinein. Als ich mich umsah, um herauszufinden, wer die Frage gestellt hatte, blickte ich im Schein des Feuers in lauter tränennasse Gesichter. Dann begann eines der jüngeren Mädchen laut und hemmungslos zu Weinen. Da brach es auch bei uns anderen heraus. All der Schmerz und die Ängste der letzten Monate, die wir tapfer zurückgehalten hatten, suchten sich ihren Weg ins Freie.

Dann durchbrach ein Lied diese beklemmende Atmosphäre – Herr Hao Lengruo, unser Chinesisch-Lehrer, hatte das berühmte Lied „Am Sunghua-Fluss war ich einst zu Haus“ angestimmt, und nun fielen alle mit ein:

Am Sunghua-Fluss war ich einst zu Haus.

Unsere Wälder sind unendlich weit,

Unerschöpflich die Schätze der Berge,

Und auf den Feldern gedeihen Soja und Hirse.

Am Sunghua-Fluss war ich einst zu Haus.

Dort leben meine Nachbarn,

Und auch meine betagten Eltern.

Der 18. September, der 18. September;

Seit jenem tragischen Tag –

Der 18. September, der 18. September;

Seit jenem tragischen Tag –

Vertrieben aus glücklicher Heimat,

Verloren sind all unsere Schätze!

Ohne Heim, vertrieben, irren wir ziellos umher;

Vagabundieren seither innerhalb der Großen Mauer.

In welchem Jahr, in welchem Monat, endlich –

kehren wir in die geliebte Heimat zurück?

In welchem Jahr, in welchem Monat, endlich –

erlangen wir all unsere Schätze zurück?

Oh, Vater, oh, Mutter!

Oh, Vater, oh, Mutter!

Wann endlich sehen wir uns wieder –

wann bleiben wir vereint im eigenen Heim?

Der Musiklehrer der Zhongshan-Schule, Herr Ma Baishui, hatte uns dieses Lied schon vor einiger Zeit beigebracht. Dieses Lied war zu Beginn des Widerstandskrieges entstanden und in kurzer Zeit sehr populär geworden, denn wie kaum ein anderes wurde es zum Inbegriff für das unfreiwillige und schutzlose Ausgeliefertsein eines Volkes an das Wüten und den Sturm eines brutalen Krieges. Es beklagte den Mukden-Zwischenfall als Auslöser für die Mandschurei-Krise und den darauffolgenden Verlust der Heimat, die Flucht aus dem Nordosten des Landes und das schmerzende Heimweh der Vertriebenen. Es begleitete die knapp 1000 Schüler aus der Mandschurei auch auf ihrer beschwerlichen Flucht von Hunan nach Sichuan, im Zuge derer sie 1500 Kilometer zu Fuß oder mit primitivsten Transportmitteln hatten zurücklegen müssen. Acht Jahre später würden dieselben Menschen erneut auf Wanderschaft gehen und wieder dasselbe Lied singend vom Südwesten des Landes in ihre zerstörte Heimat zurückkehren. Diese Trilogie der Vertreibung prägte eine zutiefst tragische Ära, während der Millionen von Flüchtlingen im eigenen Land mehr als 14 Jahre lang ein Dasein voller Angst, Verlust und fortwährendem Umherirren führen mussten. Und in jeder Phase der Vertreibung, sei es ab 1931 mit Beginn der Widerstandsbewegung gegen Japan, im Antijapanischen Krieg von 1937 bis 1945, während des darauffolgenden Bürgerkrieges von 1945 bis 1949 oder nach 1949 während der großen Fluchtwelle vom Festland nach Taiwan, wurde immer wieder dieses Lied gesungen. Wie kein anderes schien es aus dem Schmerz geschaffen zu sein, der sich tief in die Herzen der Heimatlosen gebrannt hatte. Selbst nach mehr als einem Jahrzehnt im Exil wurde es auf Taiwan immer noch gesungen.

8 - Zwischenspiel an der Zhounan-Mädchenschule

Da ich bis zu diesem Zeitpunkt lediglich den Grundschulabschluss erworben hatte und unsere Lebenssituation mittlerweile als sicher zu bezeichnen war, beschlossen meine Eltern, dass ich nun auf eine Mittelschule gehen sollte. Ich war überglücklich, denn ich wollte auch an die Zhongshan-Schule, wie mein älterer Bruder. Doch diese verweigerte mir die Aufnahme, da ich zu häufig krank gewesen war. Die Schulleitung befürchtete, dass ich aufgrund meiner regelmäßigen Fieberschübe und meiner generell schwachen körperlichen Konstitution den schulischen Belastungen nicht gewachsen sei. Deshalb beschlossen meine Eltern, mich auf eine Privatschule zu schicken, und meldeten mich an der renommierten Zhounan-Mädchenschule in Changsha, der Provinzhauptstadt von Hunan, an. Zu Semesterbeginn war ich dann wieder einmal allein und auf mich selbst gestellt. Andererseits war ich auch ein bisschen stolz, denn die Zhounan-Mittelschule hatte bis weit über die Grenze der Provinz hinaus den Ruf, eine der besten Mädchenschulen des Landes zu sein, und sie blickte auf eine beeindruckende Geschichte zurück. Bis heute existiert auf Taiwan noch der Alumni-Verein dieser Schule.

Mein damaliger Klassenlehrer war Herr Li Shifen. Gegen Ende der 1960er-Jahre, also beinahe 20 Jahre nachdem ich in Taipei angekommen war, habe ich seinen Namen regelmäßig in den Zeitungen gelesen. Er bekleidete nun den Posten des Vorstandsvorsitzenden des Rundfunksenders „China Broadcasting Co.“. Als ich ihn besuchte, konnte er sich tatsächlich noch an mich erinnern. Ich sei eine Schülerin gewesen, die ihm recht viele Kopfschmerzen bereitet hätte, obwohl meine schulischen Leistungen überdurchschnittlich gut gewesen wären – ganz im Gegensatz zu meinem gesundheitlichen Zustand. Entweder sei ich völlig unerwartet in Ohnmacht gefallen oder hätte ganz plötzlich hohes Fieber bekommen. Immer wieder hätte man mich eilends in ein Krankenhaus bringen müssen. „Na, du warst mir ja vielleicht ’n spackes Püppchen!“, scherzte er in seinem ausgeprägten Hunan-Dialekt. „Ne Menge Sorgen un Mühe haste mir gemacht!“ Die Zhounan war ein Internat, und als solches trug die Schule gegenüber den Eltern die volle Verantwortung für deren Töchter. Das war eine gravierende Verpflichtung, insbesondere da es sich um einen Haufen pubertierender Mädchen handelte.

Ich war tatsächlich nur kurze Zeit an dieser Schule, genau genommen ein einziges Semester. Doch während meines Aufenthaltes war ich eine fleißige Schülerin, die alle Aufgaben sorgfältig und gewissenhaft erledigte. Als die Japaner schließlich bis nach Hankou vorgedrungen waren und nach monatelanger Belagerung in die Stadt einmarschierten, verwandelte sich Changsha in einen brodelnden Kessel aus Angst und Wut. Hankou war von Changsha aus gesehen die nächstliegende Großstadt im Norden. Nachdem sie vom Feind eingenommen worden war, stand die Bedrohung nun wieder unmittelbar vor unseren Toren. Die Zhounan-Mädchenschule war nicht nur für ihr hohes Bildungsniveau berühmt, sondern auch für ihre Fortschrittlichkeit. Während des Antijapanischen Krieges wurde dort auch das patriotische Bewusstsein der Mädchen gefördert und wir Schülerinnen erfuhren zum ersten Mal eine deutliche Veränderung unseres Stellenwertes in der Gesellschaft. Deshalb sollte auch die gesamte Schule an einer großen patriotischen Demonstration durch die Innenstadt teilnehmen. Von meinem neuen Selbstbewusstsein durchdrungen, meldete ich mich sofort als Freiwillige bei der Trommelgruppe an. Herr Li, unser Klassenlehrer, fragte mich, was ich denn dort machen wolle. Daraufhin antwortete ich voller Überzeugung: „Die große Trommel schlagen!“ Ich war der Ansicht, dass nur das größte und lauteste Schlaginstrument dazu geeignet wäre, meinen überstarken antijapanischen Gefühlen hinreichend Ausdruck zu verleihen.

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