Kitabı oku: «Der Mächtige Strom», sayfa 2
Mein Großvater Chi Pengda hatte vier Brüder. Als Jugendlicher wollte er nicht zu Hause bleiben und Bauer werden. Also ging er nach Baoding in der Provinz Hebei und besuchte dort die Offiziersschule. Er diente mehr als 20 Jahre lang in der Fengtian-Armee22 unter Marschall Zhang Zuolin, wo er zuerst vom Bataillons- zum Regimentskommandeur aufstieg und schließlich Brigadekommandeur wurde. Während dieser Jahre blieb er Zhang Zuolin stets treu ergeben. Mein Vater hingegen, Großvaters einziger Sohn, hatte Unmengen neuer Ideen im Kopf, als er von seinem Auslandsstudium in Deutschland zurückkehrte, und vor allem solche, wie man das eigene Land nach westlichen Prinzipien retten könnte. Deshalb schloss er sich Guo Sunglings revolutionären Bestrebungen gegen Marschall Zhang an. Der Putsch hat von seinem Anfang in Tianjin bis zum tragischen Fehlschlag gerade einmal einen Monat gedauert. Großvater war zu dieser Zeit gerade in Baoding, in der Provinz Hebei stationiert und hatte von Vaters Aktivitäten keine Ahnung. Jeder in der Mandschu-Armee erwartete, dass Marschall Zhang meinen Großvater exekutieren lassen würde, doch dieser erklärte zur Überraschung aller: „Der Vater ist des Vaters Generation, der Sohn entspringt einer anderen. Ich habe kein Interesse daran, die Zeche des einen mit dem anderen abzurechnen. Der alte Chi ist mir in all den Jahren immer treu ergeben gewesen. Sein Sohn, dieser Mistkerl, ist durch sein Auslandsstudium ein Wirrkopf geworden, doch das kann nicht bedeuten, dass ich deshalb den Vater töten lasse.“ Später wurde mein Großvater in einem Gefecht leicht verwundet. Er starb jedoch nicht an seiner Verletzung, sondern an einer darauffolgenden Erkältung. Sein Leben endete mit nur 50 Jahren.
Marschall Zhang Zuolin stammte aus bescheidenen Verhältnissen und hatte seine Karriere als Bandit begonnen. Doch er besaß eben jenen Edelmut und ausgeprägten Sinn für Rechtschaffenheit, welche den raubeinigen Volkshelden dieser Epoche zu eigen war. Wegen seiner Unnachgiebigkeit den Japanern gegenüber wurde er bei einem von diesen inszenierten Bombenattentat während einer Zugfahrt in der Nähe des Ortes Huanggutun getötet. Auf solche Weise endete die legendäre Ära dieses Kriegsherren, der eine unermessliche Erbschaft hinterließ: die von allen Seiten bedrohte Mandschurei. Sein Sohn Zhang Xueliang (genannt „Jungmarschall“, 1901–2001) erbte seinen Titel, seine Macht und sein Vermögen. Doch es fehlten ihm die Führungsqualität, Weisheit und Würde, um ein derart großes Gebiet zu regieren. Der Traum von einer autonomen, in Wohlstand gedeihenden Mandschurei sollte niemals Wirklichkeit werden.
Meine Großmutter, Zhang Congzhou, entstammte dem Mandschu-Volk. Sie war 19 Jahre alt, als sie mit Großvater verheiratet wurde und fortan zur Chi-Familie gehörte. Sie gebar ihm einen Sohn und zwei Töchter. Während der ersten Jahre ihrer Ehe, als Großvater noch ein Truppenoffizier unteren Ranges war und häufig versetzt wurde, begleitete sie ihn überall dorthin, wo man ihn hinschickte. Später jedoch, als jemand benötigt wurde, der unseren weitläufigen Familienbesitz bewirtschaftete und verwaltete, kehrte sie zurück ins Dorf und wurde sesshaft. Sie und meine Mutter, zwei einsame Frauen, mussten sich fortan um uns drei kleine Kinder kümmern. Mit Hilfe von zwei Dutzend Angestellten und Arbeitern brachten sie im Frühjahr die Saat aus und fuhren im Herbst die Ernte ein. Für uns Kinder war es eine wunderschöne Zeit. Gemeinsam mit meinem älteren Bruder rannte ich die Hügel hinauf bis zum Westberg, wo wir ausgelassen herumhüpften oder Gottheil pflückten. In den verwilderten Ecken unseres weitläufigen Hinterhofes suchten wir gern nach Brombeeren und sammelten wild wachsende Zwerggurken. Und im Winter gehörte es zu unserer Lieblingsbeschäftigung, auf dem vereisten Flüsschen herum zu laufen. All diese schönen Kindheitsereignisse sind mir noch lebhaft in Erinnerung!
Großmutter war eine würdevolle, vornehme und zugleich großherzige, wohlwollende Frau. Sie mochte ihre Schwiegertochter sehr und hatte großes Mitgefühl mit ihr – der Frau ihres einzigen Sohnes, meiner Mutter. Doch auch sie selbst war von einer Schwiegertochter zur Hausherrin geworden, und deshalb wusste sie nur zu gut um die zwingende Notwendigkeit einer strengstens eingehaltenen Hausordnung. Auch wenn sie meine Mutter stets mit Güte behandelte und ihr niemals Steine in den Weg legte, so waren und blieben Regeln eben Regeln! Jedoch an diese erinnerte meine Großmutter stets mit sanfter Stimme. Obwohl wir eine große Dienerschaft besaßen, war es die Aufgabe der Schwiegertochter, der Mutter ihres Gatten das Essen stehend zu servieren und in respektvollem Abstand bei Tisch zu warten, bis diese ihre Mahlzeit beendet hatte. „So gehört es sich für eine Familie gehobenen Standes“, meinte Großmutter. Für mich hegte sie eine besonders herzliche Zuneigung, war sie es doch gewesen, die mir das Leben gerettet hatte. Ich kann mich noch erinnern, dass sie, als ich etliche Jahre später ins Xishan-Sanatorium in Peking eingeliefert werden musste, so bitterlich um mich weinte.
Die Heimkehr des Großvaters war immer ein riesiges Ereignis. In jenen Tagen war er bereits ein mächtiger Offizier, daher standen vor unserem Haustor immer vier Soldaten mit Mauser Pistolen auf Wachposten.In Bezug auf Garderobe und Tischmanieren stellte Großvater hohe Ansprüche. Wenn es ihm nicht passte, explodierte er gleich. Die ganze Familie hielt so lange den Atem an, bis er wieder fort war. Mein Vater behauptete, Großvater sei durchaus offen für modernes Gedankengut gewesen, aber da er eine Person von solch großer Autorität war, habe es einfach niemand gewagt, mit ihm zu diskutieren.
Eines Tages, kurz nach meiner Geburt, kam Großvater nach Hause. Er blickte nur flüchtig auf den in Decken gehüllten Säugling, der auf den warmen Kang gebettet lag. Dann nahm er mit bedeutungsschwangerem Gebaren im Hauptsaal Platz und verlangte: „Bringt mir mal dieses Kätzchenmädel, damit ich es auch richtig sehen kann!“ Aus irgendeinem unerfindlichen Grund erweckte dieser Winzling, der kaum 2500 Gramm wog und es nicht einmal wert war, getragen zu werden, seinen Beschützerinstinkt. Er befahl daraufhin kurz und bündig: „Niemand darf meiner Enkelin etwas zu Leide tun! Das ist mein letztes Wort!“ Dieser Befehl galt insbesondere meinem älteren Bruder, seinem erstgeborenen und recht stämmigen Enkelsohn. Obwohl wir in einem Zeitalter lebten, da Jungen mehr zählten als Mädchen, so waren die Chis doch eine recht kleine Familie, und deshalb wurde jedes Kind als Schatz betrachtet. Durch Großvaters „militärischen Befehl“ war mein Stellenwert in der Familie deutlich gestiegen.
Während seiner Zeit beim Militär erhielt Großvater zum 40. Geburtstag ein hübsches Geschenk: eine zierliche und anmutige Konkubine im Alter von 20 Jahren. Jedes Mal, wenn seine Truppe versetzt wurde oder er in den Krieg zog, schickte er sie zu uns nach Hause, wo sie von Großmutter mit Freundlichkeit und Fürsorge aufgenommen wurde. Nur wenige Jahre später verstarb die junge Frau an den Folgen einer Tuberkulose und hinterließ einen Sohn, Chi Shihao. Kleiner Onkel Shihao war in meinem Alter, und so spielten wir als Kinder recht häufig miteinander. Mein großer Bruder und meine Vettern liebten es, ihn an der Nase herumzuführen. Und auch mir spielten sie gern Streiche, das machte ihnen einfach einen Heidenspaß. Kleiner Onkel hatte trotzdem das Glück, unter der schützenden Hand meiner Großmutter aufzuwachsen, denn sie erzog ihn stets mit viel Liebe. Nachdem die Japaner Nordchina besetzt hatten, wurde er als Absolvent der Mittelschule umgehend zum Wehrdienst in einer der Hilfstruppen für die japanische Armee eingezogen. Eines Tages, während er in seiner japanischen Uniform eine schmale Dorfstraße entlanglief, schoss ihm jemand in den Rücken. Vermutlich war dieser Jemand ein antijapanischer Widerstandskämpfer. Kleiner Onkel starb alleingelassen auf dieser abgelegenen Dorfstraße, was unserer Großmutter eine kaum zu verkraftende Trauer zufügte.
Großmutters Leben war überwiegend von Kummer und Einsamkeit geprägt. Es waren ihr nur wenige echte Glücksmomente vergönnt. Ihr einziger Sohn verließ bereits im Alter von 13 Jahren sein Zuhause, um in der Großstadt Shenyang die Schule zu besuchen, worauf er später zum Studium nach Tianjin, Japan und zuletzt nach Deutschland ging. Lediglich während der Sommerferien kam er sie besuchen, und auch das mit den Jahren immer seltener, da ihn seine Studien weiter von der Heimat weggeführt hatten. Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Deutschland schloss er sich der Revolution an und führte ab da ein Leben in ständiger Verfolgung, stets auf der Flucht, und rastete nur noch im Verborgenen. Nach dem Mukden-Zwischenfall im Jahre 193123 zog meine Großmutter mit ihren zwei Töchtern und dem Kleinen Onkel nach Peking, welches damals noch den Namen Beiping hatte24. Später dann, als sie langsam in die Jahre kam und Vater mit uns im Krieg auf der Flucht war, wurde sie häufig krank und verbrachte die meiste Zeit im Bett. Sie hat ihren einzigen Sohn bis zu ihrem Tode nie mehr wiedergesehen.
Meine beiden Tanten waren wohlauf, nachdem sie geheiratet hatten. Die ältere von beiden, Tante Chi Jinghuan, welche wir „Vierte Tante“ nannten, entsprechend ihrer Stellung in der Familie, folgte ihrem Mann Shi Zhihong nach Japan. Sie durfte dort sogar studieren, denn sie war eine wirklich intelligente und zudem sehr mutige junge Frau. Ab 1933 organisierte mein Vater den antijapanischen Widerstand in Nordchina und führte diesen dann einige Jahre lang an. Seit dieser Zeit bis kurz vor dem Sieg im Antijapanischen Krieg 1945 hat Vierte Tante regelmäßig Untergrundkämpfer am Bahnhof von Peking und anderen Treffpunkten abgeholt oder verabschiedet. Jedem dieser Mitglieder des Widerstands stellte sie sich mit ihrer Tarnbezeichnung als „Kusine“ vor. Nach einiger Zeit, als sie für das Bahnhofspersonal schon ein bekanntes Gesicht darstellte, trat einer von ihnen an sie heran und fragte: „Wie kommt’s denn, dass Sie so viele Vetter haben?“ Natürlich wusste man, dass an der Sache etwas faul sein musste, da damals jedoch alle eine Abneigung gegen die Japaner hegten, mochte niemand sie denunzieren. Zudem hielt sie meist auch noch einen Säugling im Arm und verteilte äußerst diskret Geschenke zu Neujahr und an anderen wichtigen chinesischen Feiertagen. Jahre später auf Taiwan sprachen etliche dieser „Vettern“, denen ich begegnete, noch gern über meine Vierte Tante. – Ihre Erzählungen waren voller Dankbarkeit und Bewunderung für diese tapfere Frau. Ich teilte ihre Empfindungen, denn als der Große Krieg ausbrach, waren die Ehemänner beider Tanten gezwungen, das von den Japanern besetzte Peking zu verlassen, da sie schon früh an antijapanischen Aktionen teilgenommen hatten. Also flohen sie gemeinsam mit uns nach Chongqing, wo sie tragischerweise binnen kurzem schwer erkrankten und dann verstarben, während die beiden Tanten und ihre sieben Kinder bei unserer Großmutter in Peking blieben. Sie kümmerten sich redlich weiter um ihre Mutter, bis sie im Alter von 64 Jahren an Krebs verstarb.
Bereits im ersten Kriegsjahr hatten wir flüchten müssen und die damals unabhängige Hafenstadt Hankou erreicht, nur 20 Tage bevor Nanking (Nanjing) den Japanern in die Hände fiel. Nach kurzer Verschnaufpause brachen wir erneut auf und gingen nach Xiangxiang in der Provinz Hunan, wo wir uns ein halbes Jahr aufhielten. Dann machten wir uns auf den beschwerlichsten Teil unserer tausende von Kilometern langen Fluchtreise nach Chongqing, die uns unter widrigen Umständen über die Xiangqian-Straße, welche die Provinzen Hunan und Guizhou miteinander verband und schließlich quer durch die Provinz Sichuan führte. In Chongqing verbrachten wir dann die restlichen Kriegsjahre. Dort erreichte uns dann auch, mit einem Jahr Verspätung, die Nachricht von Großmutters Tod. Vater hat es zeitlebens von ganzem Herzen bedauert, dass er ihr während der letzten Stunden nicht zur Seite hatte stehen können.
3 - Schluchzer aus dem Weidegras
Mein Großvater mütterlicherseits, Pei Xincheng, war Han-Chinese und hatte eine Mongolin geheiratet. Sie lebten in Xinchengzi (Neustadt), einem kleinen Dorf etwa zehn Kilometer von unserem Zuhause entfernt. Großvater war ein wohlhabender und sehr einflussreicher Mann. Er betrieb eine Mühle und besaß zudem viele Ländereien. Im Jahre 1904 begleitete er den von der Präfektur entsandten Bildungsinspektor, Herrn Jiang, während dieser die Dorfschule von Fanjiatun besichtigte. In einer der Klassen wurde gerade Ethik unterrichtet, als einer der kleineren Schüler den Lehrer fragte: „Wieso führen die Japaner und die Russen Krieg in unserer Heimat?“ Es war die erste Begegnung meines Großvaters mit meinem Vater. Die zwei Besucher waren von Vater und seinem Vetter Shichang, welcher auch Zweiter Bruder genannt wurde, zutiefst beeindruckt. Erst kurz zuvor hatte Vater aus einiger Entfernung das Trommelfeuer der Artillerie in der Schlacht am Südberg erlebt, während die Russen zerstreut wurden und den siegreichen Japanern diese strategisch bedeutsame Stellung überlassen mussten. Bevor es dann zu einem endgültigen Waffenstillstand kam, hatten die Japaner in unserem Gutshof Quartier bezogen. Nach knapp zwei Monaten war mein Großvater väterlicherseits mit seiner Geduld am Ende, er beorderte seine eigenen Soldaten zu uns nach Hause, woraufhin die Japaner gezwungenermaßen ihre Zelte abbrachen und weiterzogen. Einige Jahre später kamen angesehene Leute als Heiratsvermittler im Auftrag von Großvater Pei und Bildungsinspektor Jiang zu meinen Großeltern und schlugen die Vermählung der Kinder der drei Familien vor. Die Tochter von Inspektor Jiang war im gleichen Alter wie Onkel Shichang, und Herr Peis Tochter Yuzhen passte altersmäßig hervorragend zu meinem Vater. Die Jungen waren attraktiv und die Mädchen bildhübsch, zudem waren alle drei Familien von gleichwertig sozialem Stand. Die Familienoberhäupter wurden sich daher schnell einig und machten die Verlobungen offiziell.
Da mein Vater und mein Onkel zu dieser Zeit die Mittelschule in Shenyang besuchten, bekamen sie keine Gelegenheit, ihre eigene Meinung zu den Verbindungen zu äußern. In den Sommerferien begleitete Vater einige Verwandte zu einer Besichtigung des familieneigenen Weinbergs, welcher in jener Zeit eine große Rarität in der Mandschurei darstellte. Während dieses Ausflugs begegnete der 14-jährige Junge zum ersten Mal seiner zukünftigen Braut. Das junge Mädchen war durchaus positiv beeindruckt von ihrem Verlobten, den auch sie zum ersten und vorerst letzten Mal sah, und dachte bei sich, dass er mit Sicherheit einen besseren Ehemann abgeben würde als irgendein Bauernsohn. Und so begann sie sich in ihren Träumen das Leben auszumalen, welches sie schon bald führen würde, und sah natürlich nur die schönen Seiten. In ihr erwachte eine tiefe Sehnsucht nach jener Welt, welche weit über die Grenzen ihres bisherigen Lebens hinausreichte.
Bereits seit frühester Kindheit hatte Vetter Shichang einen großen Einfluss auf meinen Vater gehabt. Shichang war vier Jahre älter als er und voller fortschrittlicher Ideen. Als Nachrichten von der Revolution in Wuhan 1911 endlich bis nach Shenyang durchgedrungen waren, ließ er sich sofort den altmodischen Zopf abschneiden. Sein jüngerer Cousin, der gerade einmal neun Jahre alt war, machte es ihm in bewunderndem Eifer sogleich nach. Ebenso folgte er seinem Vetter auch zum Haus des Gouverneurs, vor dem die beiden dann stundenlang knieten, als Teilnehmer einer öffentlichen Petition zur Einführung einer parlamentarischen Volksvertretung. Aus Unzufriedenheit über den Lehrplan an ihrer Mittelschule gingen sie ohne Wissen und Erlaubnis ihrer Eltern nach Tianjin, wo sie gemeinsam die Prüfung zur Aufnahme an einer von englischen Missionaren geführten und sehr modernen anglikanische Schule ablegten und auch bestanden. Nachdem sie dort ihren Schulabschluss gemacht hatten, gingen sie gemeinsam zum Studium nach Japan. Mein Vater erhielt dank seiner überragenden Prüfungsergebnisse ein Stipendium, welches von der Stadtverwaltung finanziert wurde, und konnte somit an der First Tokio High School studieren. Ein Jahr später wurde er der Kanazawa Fourth High School zugeteilt. Er war mittlerweile 19 Jahre alt. Während der Sommerferien erreichte ihn ein Brief von zu Hause: Großmutter sei krank und deshalb nun eine frische Hand bitter nötig, die sich an ihrer Stelle um den Haushalt kümmert. Er solle umgehend heimkommen und heiraten. Mein Vater weigerte sich jedoch, nach Hause zu reisen. Daraufhin schickte Großvater einen seiner Vettern nach Japan, um meinen Vater doch noch umzustimmen, und gelänge dies nicht, dann solle man ihn einfach nach Hause zurückschleppen. Bis ins hohe Alter erzählte uns Vater immer wieder gern diese Anekdote. Nach eigener Aussage hatte er daraufhin einige Bedingungen aufgestellt, damit er sich zur Heirat bereit erklären würde: Es dürfen keine Kotaus gemacht werden, es dürfe keine rote Kleidung getragen werden und auch auf den roten Schleier muss verzichtet werden. Es würde auch keine überdachte Sänfte geben, stattdessen dürften sie auf Pferden reiten. Überdies forderte er, dass seine Braut ihn nach der Eheschließung ins Ausland zum Studium begleiten dürfe. Würde allen seinen Bedingungen stattgegeben, dann kehre er heim, wenn nicht, dann würde er bleiben, wo er sei. Die Familie versprach dann, seine Forderungen zu erfüllen. Aber eingehalten wurde nur, dass er während der Hochzeitsprozession hoch zu Ross thronen durfte. Alles andere verlief nach guter alter chinesischer Tradition. Einen Monat später war er bereits wieder in Japan, jedoch ohne die Braut.
Während der ersten zehn Jahre ihrer Ehe war es meiner Mutter weder erlaubt noch praktisch möglich, das Gelände unseres Anwesens zu verlassen. Lediglich in Ausnahmefall wurde ihr gestattet, das Familiengrundstück zu verlassen. Mein Vater war der einzige Sohn der Familie, daher hatte sie als Einzige all jene Aufgaben zu erfüllen, die der chinesischen Tradition gemäß einer Schwiegertochter zufielen. In ihrer dürftigen Freizeit nähte sie Kleider, stichelte Schuhsohlen25 oder stickte die Außenschafte der Schuhe. Ihre Lieblingsbeschäftigung war es jedoch, Kopfkissenbezüge mit selbsterdachten Mustern zu besticken. Es war die einzige Tätigkeit, die sie als wirklich entspannend empfand. Als Angeheiratete hatte meine Mutter keine Freunde in der Nähe und auch keinerlei gesellschaftliches Leben. Umso dankbarer war sie für die Erlaubnis, zweimal im Jahr ihr zehn Kilometer entferntes Elternhaus besuchen zu dürfen. In meinen Kindheitserinnerungen erscheint meine Mutter entweder als die Frau, die mit hängenden Armen demütig bei Tisch stand und meinen Großeltern das Essen servierte, oder als die, die verborgen im hohen Weidegras bitterlich weinte und schluchzte. Während dieser zehn Jahre war mein Vater nur vier- oder fünfmal in den Sommerferien nach Hause gekommen und kaum zwei bis drei Monate geblieben. Eines Tages, als meine Mutter gerade schwanger war, verspürte sie einen großen Heißhunger auf Kirschen. In unserer Region gab es nur eine Saison für Kirschen, daher waren sie nur kurze Zeit von Juli bis August erhältlich. Ein Wanderhändler, der mit Körben an seiner Schulterstange von Ort zu Ort zog, verkaufte gerade seine Kirschen am Eingang zu unserem Dorf. Mein Vater, der damals 21 Jahre alt war, lief schnell hinaus, um noch welche zu ergattern, und vergaß in der Eile, einen Beutel mitzunehmen. Kurzerhand raffte er den vorderen Teil seines langen Gewandes zusammen und ließ sich die Kirschen hineinfüllen. Mit einem Schoß voller Kirschen lief mein Vater vom Dorfeingang zurück zu unserem Gutshof. Die Erinnerung an diesen Schoß voller Kirschen sollte meiner Mutter in den folgenden neun Jahren voller Einsamkeit die Kraft zum Durchhalten geben. In jenen Ferien entschied mein Vater auch, dass der Name meiner Mutter, „Yuzhen“, welcher Leben in Keuschheit bedeutet, zu altmodisch und zu gewöhnlich sei, und gab ihr daraufhin einen neuen Namen. Von da an war ihr Name „Chunyi“, denn er vertrat die Ansicht, dass Rein und Dauerhaftigkeit viel angemessener für sie wäre und auch wesentlich besser zu ihm passen würde.
Nach seinem Studium in Japan ging mein Vater direkt nach Deutschland. Alle seine Briefe und die darin enthaltenen Fotos waren an meine Großeltern adressiert. Sie begannen allesamt mit „Hochverehrte liebste Eltern“ und lediglich am Schluss eines Briefes schrieb er gewöhnlich „Grüße auch an Yuzhen“. Vielleicht lag es daran, dass Männer sich in jener Zeit noch genierten oder er sich aufgrund seiner bedeutenden Position als erstgeborener Sohn des Hauses nicht die Blöße zu geben wagte, persönliche Gefühle für seine Frau in einem Familienbrief, wobei das Familienoberhaupt der Adressant war, zu zeigen. Ganz zu schweigen von einem privaten Brief an seine Frau als deutliches Liebeszeichen. Und so beschritten meine Eltern, obwohl sie im gleichen Alter waren, vollkommen verschiedene Lebenswege. Während mein Vater sich in der weiten Welt mit Büchern, neuen Ideen und gesellschaftlichen Entwicklungen beschäftigte, blieb meine Mutter daheim und kümmerte sich tagein tagaus um die nicht enden wollenden Aufgaben im Haushalt und auf dem Gehöft. Auf ihrer Liste stand: Täglich drei Mahlzeiten kochen, danach Geschirr und Töpfe abwaschen. Sand und Staub wegfegen, die ohne Unterlass von den unendlichen Weiten hinter der Großen Mauer herüberwehten. Zwischendurch nach dem Wohlbefinden der Schwiegereltern erkundigen und alle Wünsche erfüllen. Dazu noch das Polieren auf Hochglanz der rituellen Gegenstände für das Frühlingsfest sowie die Vorbereitung der zahlreichen Familienfeste und Feiertage im Allgemeinen. Jedes Jahr im Oktober musste sie dafür Sorge tragen, dass die Knechte und Mägde rechtzeitig den Chinakohl und die großen Rettichwurzeln im Keller als Wintervorrat einlagerten. Dann wurde ihr erst bewusst, dass sich ein weiteres Jahr bereits dem Ende zuneigte. Die Wege dieser zwei Menschen entfernten sich immer weiter voneinander und meine Mutter vermochte sich schon längst nicht mehr vorzustellen, welche Kreise das Leben ihres Mannes zog und wie es in seiner Welt aussah. Ihr Leben und Erleben konnten unterschiedlicher nicht sein, und selbst wenn sie den Wunsch verspürt hätten, die starke Zuneigung, welche sie füreinander empfanden, dem jeweils anderen mitzuteilen, so gab es doch keine gemeinsame Sprache mehr, um dies noch zu tun.
Den wichtigsten Rückhalt in ihrem von Einsamkeit geprägten Dasein erhielt meine Mutter durch die Ankunft meines älteren Bruders und meine Geburt. Wir Kinder erschienen ihr wie Geschenke des Himmels, wie ein Unterpfand der Treue und der Liebe, somit in gewisser Weise auch wie ein Abbild ihres abwesenden Ehemannes. Mein Bruder Zhenyi, dessen Name Aufschwung und Dauerhaftigkeit bedeutet, war im Frühling zur Welt gekommen, nachdem Vater in den Sommerferien zuvor nach Hause gekommen war. Zwei Jahre später zur selben Jahreszeit wurde ich geboren. Wieder drei Jahre vergingen, da erblickte Bruder Zhendao, was so viel wie Aufschwung des natürlichen Weges bedeutet, das Licht dieser Welt. Die für damalige Verhältnisse kleine Familie Chi besaß keine große Nachkommenschaft, umso bedeutender für sie und vor allem für meine Eltern war die Geburt und das gesunde Aufwachsen von uns Kindern. Insbesondere in Zeiten, da die medizinische Versorgung noch sehr rückständig war, und dementsprechend hoch fiel auch die Sterberate bei Kleinkindern aus. Mein jüngerer Bruder war erst drei Jahre alt, als er sich eines Tages beim Herumtollen im Haus versehentlich mit den Händen auf dem beheizten Ofen abstützte und sich dabei schwere Verbrennungen zuzog. Er wurde zur ärztlichen Behandlung nach Shengyang geschickt, wo er bei meiner Tante untergebracht wurde. Während seines Aufenthaltes dort steckte er sich bei seiner Kusine mit einer Hirnhautentzündung an und starb zwei Wochen später an den Folgen der Infektion.
Meine Mutter konnte den Tod ihres jüngsten Sohnes nicht verwinden. Sie machte sich schwere Vorwürfe, weinte unaufhörlich und versank tief traumatisiert zusehends in einem Zustand der Verwirrung. Die traditionelle Gesellschaft betrachtete es als unheilvolles Omen, wenn eine junge Schwiegertochter schwermütig wurde und ständig „ohne nennenswerten Grund“ in Tränen ausbrach. Mutter war sich dessen nur allzu bewusst, daher blieb ihr nichts anderes übrig, als sich so lange zusammenzureißen, bis sie das Abendessen serviert hatte, und erst dann lief sie aus dem Haus, tief hinein ins meterhohe Weidegras, wo sie endlich ihrer tiefen Trauer freien Lauf lassen konnte. Tag um Tag, Woche für Woche hockte sie dort nach Sonnenuntergang im Verborgenen und weinte. Während all dieser Monate, da das zarte Grün im Frühling nach der Schneeschmelze zu sprießen begann, bis zu dem Zeitpunkt, da es zu einem faden Grau verblasst war und wieder unter einer dichten Schneedecke versank, bot ihr das Dickicht aus mannshohem Weidegras am hinteren Ende unseres Gartens eine Zuflucht, wo sie ihrer tagsüber unterdrückten Trauer endlich mit gedämpften Schluchzern Luft machen konnte. Als der Frühling zurückkehrte und der Schnee endlich wieder geschmolzen war, nahm meine Mutter mich mit zum nahegelegenen Familiengrab. Dort angekommen warf sie sich auf den kleinen Erdhaufen, welcher die letzte Ruhestätte meines kleinen Bruders markierte, und weinte bitterlich. Ich kann mich noch erinnern, dass um den kleinen Friedhof herum Fichten wuchsen, welche wild im Frühlingswind tanzten. Überall auf den Gräbern blühten langstielige rosarote Blumen. Die üppige Fülle dieser zarten, beinahe transparenten Blütenblätter im Kontrast mit den viel zu dünnen Stängeln erschienen mir wie eine zierliche und edle Schönheit, die ihresgleichen weit und breit nicht zu finden vermochte. Sie waren so gänzlich anders als die mir bekannten Wildblumen, die überall bei uns in der Gegend wuchsen. Begleitet vom leisen, schmerzerfüllten Weinen meiner Mutter pflückte ich geschäftig eine große Anzahl dieser herrlichen Blumen. Auf dem Weg nach Hause trug ich dann voller Stolz den riesigen Blumenstrauß vor mir her. Großmutter freute sich sehr über die wunderschönen Blumen, als wir nach Hause kamen, und erklärte mir, dass es Pfingstrosen seien. Seither verbinde ich mit Pfingstrosen das unermesslich, unvergänglich Schöne und die ewige Trauer zugleich. Jedes Mal, wenn ich sie sehe, klingen in meinen Ohren das leise Schluchzen meiner Mutter und die Leiden jener Frauen einer vergangenen Epoche.
Seit jenem Besuch am Familiengrab saß meine Mutter häufig apathisch auf der Bettkante. Ihr starrer Blick auf das Fenster gerichtet ging in eine ferne Leere. Selbst Großmutters Rufe konnten sie manchmal nicht wachrütteln. Nach dem Qingming-Fest im April, dem Gedenktag für die Verstorbenen, an dem ihre Grabstätten gefegt werden, kam die Schneeschmelze und die Natur erwachte aus ihrem Winterschlaf. Überall schoss das zarte Grün der Pflanzen aus der Erde empor, und dann zeigte sich unter ihnen auch wieder eine besondere Seltenheit: die Gänsedistel, die einen frischen und leicht bitteren Geschmack hat. Die Frauen unseres Dorfes sammelten sie am gegenüberliegenden Ufer des Flusses und ich ging natürlich sehr gern mit. Als wir das Brachland erreichten, erschienen am Himmel immer wieder Scharen von Wildgänsen, welche in typischer V-Formation aus dem Süden heimkehrten, und wir konnten deutlich ihre Schreie hören, rau und klagend. Meine Mutter richtete sich zwischendurch immer wieder auf und schaute ihnen lange Zeit unbewegt nach. Sie kehrte erst heim, nachdem alle anderen schon längst gegangen waren.
4 - Abschied von der Heimat
Eines Morgens kam mein Großvater mütterlicherseits unangekündigt auf einen Besuch vorbei. Jemand hatte ihm erzählt, seine Tochter Yuzhen sei mittlerweile derart verstört, dass sie beim Kochen die Hand mit dem Brennholz zu weit in den glühenden Ofen gesteckt habe, ohne dabei irgendwelche Schmerzen zu spüren. Auch solle sie sich bereits seit einiger Zeit in diesem Zustand von Geistesabwesenheit befinden, erklärte er meinen Großeltern väterlicherseits, weshalb er sich große Sorgen um seine Tochter mache. Außerdem sei ihm noch zu Ohren gekommen, dass mein Vater derzeit in Nanking mit den sogenannten fortschrittlich-modernen Studentinnen und Studenten in einer Wohngemeinschaft zusammenlebe, und das könne er keinesfalls gutheißen. Schließlich willigten meine Großeltern ein, dass er meine Mutter und uns zwei Kinder zu meinem Vater nach Nanking bringen dürfe, damit wir künftig mit meinem Vater leben konnten. Großvater musste ihnen jedoch versichern, dass er uns wieder nach Hause mitnehmen würde, falls mein Vater uns nicht aufnehmen wollte.
Ich kann mich noch ganz genau erinnern, dass es Spätherbst war. Fast alle Blätter waren schon von den Bäumen gefallen und die Hirse war bereits geerntet. Zwei Angestellte fuhren uns mit einer Pferdekutsche zu dem fünf Kilometer entfernten Bahnhof. Die Station hieß Luanshishan (wörtlich: chaotischer Steinberg), und dort sah es wirklich nach Geröllberg aus. Die losen Felsbrocken, die sich überall auftürmten, wurden von der Ostmandschurischen Eisenbahngesellschaft zum Ausbau der Strecke verwendet. Für die Reise nach Nanking, in die Hauptstadt der Republik China, trugen mein Bruder und ich unsere neuen baumwollgefütterten Roben. Meine Mutter hatte die Roben eigens zu diesem Anlass in Shenyang anfertigen lassen. Meine war aus rotem Stoff gefertigt und mit zierlichen blauen Blümchen bestickt. Für mich war das alles unheimlich aufregend.
Kaum hatte die Kutsche unser Dorf verlassen, da tauchte vor uns auch schon die trostlose Landschaft mit den kahlen Geröllhügeln auf. Kein einziger Baum wuchs dort. Ich stieß eine Frage aus: „Mama, wie heißt dieser Berg?“ Meine Mutter, die bereits seit den frühen Morgenstunden meine lautstarke Fragerei erdulden musste, antwortete leicht genervt: „Das ist der Geister-Weinen-Wölfe-Heulen-Berg!“ Dieser sonderbare Name und der eigenartige Gesichtsausdruck meiner Mutter während sie ihn mir nannte, machten auf mich einen so gruseligen Eindruck, dass er noch sehr lange in meiner Erinnerung nachwirken sollte.