Kitabı oku: «Der Mächtige Strom», sayfa 3

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Meine Mutter fuhr also mit zwei kleinen Kindern zu ihrem Mann, den sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, um die Familie wieder zusammenzuführen. Das Ziel war eine Großstadt, die tausende Kilometer von der Mandschurei entfernt lag. Ein riesiger, unvorstellbarer Ort, wo sie niemanden kannte und wo es nicht einmal ein paar Verwandte gab. Kann es da verwundern, dass sie ängstlich und voller Furcht dieser vollkommen fremden Welt entgegensah? Einer Welt, wo die „Geister weinen und die Wölfe heulen“? Meine Mutter wusste nur zu gut, dass die Zukunft keineswegs gesichert sein würde, doch sie war entschlossen, nie wieder in das kleine Dorf jenseits der Großen Mauer im Niemandsland zurückzukehren, wo sie zehn lange Jahre isoliert und einsam wie eine junge Witwe gelebt hatte.

Während meiner Kindheit erzählte Mutter uns häufig Geschichten und Märchen, denn sie war eine ausgezeichnete Erzählerin. Es gelang ihr auf faszinierende Weise, die Wildheit der Natur, die unermessliche Weiten dieser Erde, die bedrohlichen Raubtiere der Mandschurei und die unbeschreibliche Einsamkeit des Lebens einer jungen Frau in diesen Geschichten zu verschmelzen, die sie uns während der Sommerabende am Kinderbett erzählte. Durch ihre lebendige und eindringliche Art der Schilderung erschien uns Kindern, als würden wir alles hautnah miterleben. In vielen ihrer Erzählungen klangen die eigenen stillen Erwartungen und auch eine immerwährende Traurigkeit durch. Und es gab auch solche, in denen sie ihre tief sitzende Unruhe unverblümt äußerte, angefüllt mit den Schrecken, wie sie der Berg der weinenden Geister und heulenden Wölfe bereithielt, sie offenbarte schonungslos und in kraftvollen Bildern ihre eigenen Ängste vor der Größe Nankings und die Sorge um ihr eigenes Schicksal. Für sie war es eine Möglichkeit, sich all die Dinge von der Seele zu reden, worüber sie im Alltag nicht klagen mochte. Meine lebenslange Leidenschaft und das tiefe Verständnis für Literatur verdanke ich, ebenso wie das Vergnügen an der eigenen Schriftstellerei, eigentlich nur meiner Mutter, und damit einer Frau, der nicht mehr Bildung zugestanden worden war als der Besuch einer Mittelschule.

Am deutlichsten ist mir von jener Reise der Augenblick in Erinnerung geblieben, als mein Großvater mütterlicherseits meinen Bruder und meine Mutter mich bei der Hand nahm und wir am Bahnhof von Shenyang in den Zug einstiegen. Der Zug fuhr Tag und Nacht, vorbei an unzähligen Feldern, die längst abgeerntet waren, so dass wir nichts als die endlose Weite der schwarzen Erde bis hin zum Horizont erblickten, nur ab und an unterbrochen von schmalen Waldstücken, welche als Windschutz dienten. Großvater sagte, erst wenn die Zeit des Frostes vorüber sei, im kommenden März, könnten die Äcker wieder bepflanzt werden.

Der Zug fuhr von Shenyang über Shanhaiguan bis nach Peking. Dort stiegen wir um und fuhren weitere drei Tage und zwei Nächte mit der Jin-Pu-Bahn bis Nanking. Als wir in den Bahnhof Xiaguan in Nanking einfuhren, sah meine Mutter aus dem Fenster und erblickte ihn sofort, diesen attraktiven „Fremden“ mit den lebhaften, klaren Augen und dem selbstsicheren Gesichtsausdruck. So stand er auf dem Bahnsteig, kerzengrade, wartend und von Schwaden weißen Kesseldampfes umhüllt. Diese aufrechte Haltung sollte ihm bis zu seinen letzten Jahren erhalten bleiben, kerzengrade und ungebeugt. Während sich die weißen Schwaden langsam lichteten, sah der junge Mann die Frau aus dem Zug aussteigen, mit der er im Alter von 19 Jahren verheiratet worden war. Ihre Schritte waren zögerlich, und ihre Hand, welche die meine hielt, zitterte so heftig wie Espenlaub. Auf ihrem schönen Gesicht lag ein Ausdruck von Schüchternheit, der ihre wahre Freude verbarg. So stand sie dort auf dem Bahnsteig, zwischen ihren beiden Kindern, unübersehbar ihre Provinzialität, auch wenn man sie in nagelneue, baumwollgefütterte Roben gesteckt hatte.

Großvater war keine zwei Wochen in Nanking gewesen, als er bereits wieder in den Zug stieg, um nach Hause in die Mandschurei zu fahren. Als es Zeit wurde, Abschied zu nehmen, brach meine Mutter in Tränen aus. Es war herzzerreißend. Als fünftes und zuletzt geborenes Kind war sie auch die einzige Tochter im Hause gewesen. Die Familie hatte sie daher behütet wie eine zerbrechliche Eierschale. Umso schwerer fiel es dem Großvater in jenem Augenblick, sein geliebtes Küken hilflos in einem Meer von Menschen hier im Süden zurückzulassen. Doch es musste sein! Geprägt durch eigene Erfahrungen oder einfach nur aus Angst vor der beständigen Unsicherheit im Leben ermahnte uns Mutter in den folgenden Jahren regelmäßig: „Wenn ihr nicht fleißig lernt, wird euer Vater uns bestimmt wegschicken.“ Es war nicht wirklich verwunderlich, dass ich bereits im zarten Kindesalter begonnen hatte, mich zu sorgen. Vor lauter Kummer schlief ich oft sehr schlecht, und manchmal, wenn ich mitten in der Nacht aus wirren Träumen aufschreckte, hörte ich Vater im Nebenzimmer leise mit meiner Mutter sprechen. Seine Stimme klang sanft und gelassen. So schlief ich doch beruhigt wieder ein.

Kurz nach unserer Ankunft in Nanking wurde ich in der Volksschule angemeldet, wo ich in die erste Klasse kam. Für mein Alter war ich eher klein und viel zu dünn. Vermutlich wirkte ich wie ein richtiges Landei, und es fiel mir schwer, den Nanking-Akzent zu verstehen. Am ersten Tag hatte ich von dem, was der Lehrer uns gesagt hatte, nur so viel verstanden: „Es ist nicht erlaubt zu trinken und gleich darauf aufs Klo zu gehen!“ Und schon hatte ich große Angst, zur Schule zu gehen. Außerdem fiel es mir anfangs schwer, neue Kontakte zu knüpfen, doch mit der Zeit gelang es mir schließlich und ich fand neue Freunde unter den Mitschülern. Eines Tages schenkte mir eine dieser Schulfreundinnen einen bunten Radiergummi. Grün und rot strahlten die Farben. Ich hatte so etwas auf dem Lande noch nie gesehen und war sehr glücklich darüber. Ein paar Tage später, als sie schlechte Laune hatte, verlangte sie den Radiergummi wieder zurück. Ich fühlte mich furchtbar und war sehr traurig. Bis heute kann ich mich noch an diesen herrlichen Radiergummi erinnern. Das war auch der Grund dafür, warum ich damit anfing, auf meinen vielen Reisen schöne Radiergummis zu kaufen.

Es gibt noch eine weitere kleine Episode aus jenen Tagen, die einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen hat und mir eine unvergessliche „Lektion“ erteilte: Es geschah in jenem ersten Frühling in Nanking, als der Schnee zu schmelzen begann und die Straßen in schlammige Furchen voller Schneematsch verwandelte. Mein Bruder und ich mussten zu Fuß zur Schule gehen, die einige Gassen entfernt lag. Da es nur wenige halbwegs trockene Stellen zu beiden Seiten des Weges gab, mussten wir vorsichtig von Insel zu Insel hüpfen. Da ich ein sehr neugieriges Kind war, schaute ich ständig voller Begeisterung mal hierhin, mal dorthin, betrachtete die Umgebung und die Ereignisse zu beiden Seiten der Straßen. Es kam, wie es kommen musste. Ich latschte unversehens in ein größeres Matschloch und blieb mit meinem wattierten Schuh stecken. Mein Bruder ärgerte sich mächtig über meine Unachtsamkeit, da wir ohnehin schon spät dran waren, und scheuerte mir eine. Vor lauter Schreck fing ich an zu heulen und verlor das Gleichgewicht, so dass mein Fuß samt Schuh noch tiefer in dem Gemisch aus Schlamm und Schnee versank. Da erschien wie ein Wunder plötzlich ein Auto und hielt neben uns an. Im Wagen saß unser Vater. Auf dessen Anweisung stieg sogleich der Fahrer aus, zog mich mitsamt meinem Schuh aus dem Matsch und half mir auch noch, selbigen wieder anzuziehen. Daraufhin stieg er wieder ins Auto und die beiden fuhren davon.

Am Abend erklärte Vater uns, dass er in einem Dienstwagen gesessen hätte, und diesen dürfe man nur für Dienstangelegenheiten nutzen, genau wie die Briefbögen und das Büropapier mit dem offiziellen Dienstsiegel. Daher hätte er uns Kinder mit dem Wagen nicht zur Schule mitgenommen. Man müsse immer zwischen dienstlichem und privatem Besitz eine Grenze ziehen, außerdem wollte er verhindern, dass seine Kinder der Versuchung erliegen, vor anderen zu protzen.

Als ich sechs Jahre alt war, versohlte Vater mir den Hintern zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben. Auf die Züchtigung erfolgte die Belehrung im gleichen Tonfall wie damals bei der Geschichte mit dem Dienstwagen. Nanking sei kein Bauernland und deshalb dürfe ich nicht wie wild im Stadtpark herumpesen. Auch das Pflücken von Blumen wie vorher in Tieling wäre in der Stadt nicht erlaubt. Und wenn ich sie schon gepflückt hätte, dann dürfte ich nicht auch noch schwindeln! Zum Abschluss erklärte er mir: „Ich habe dich heute verhauen, damit du diese Lektion nie wieder vergisst!“ Diese Lektion hatte mich gewaltig beeindruckt, so dass ich es seither kaum mehr wagte, eine Lüge zu erzählen. Jede noch so kleine Notlüge, sei sie auch nur dazu gedacht, jemanden glücklich zu machen, verursacht mir bis zum heutigen Tage Gewissensbisse.

5 - Der unüberwindbare Liao-Strom

In meiner Erinnerung ist mein Vater, Chi Shiying, zeitlebens ein sanftmütiger Mensch von edlem Charakter gewesen. Er pflegte oft zu sagen, dass dies schon immer seine ureigene Idealvorstellung gewesen sei – die wahrhafte Menschwerdung erfordere von einem, sich ausnahmslos wie ein anständiger Mensch zu verhalten.

Einen Großteil seiner Kindheit hatte mein Vater, den meine Großmutter stets mitnahm, wenn sie ihrem Mann von Garnison zu Garnison folgte, in Kasernen verbracht. Mit den regelmäßigen Versetzungen seines Vaters lernte er das echte Kasernenleben kennen und hatte auch die Gelegenheit, viele unterschiedliche Dörfer im Norden des Landes zu besuchen. Mit der Zeit wurde ihm zutiefst bewusst, wie niedrig das tatsächliche Bildungsniveau der dortigen Menschen und wie engstirnig das Denken von Durchschnittsbürgern allgemein war. Sie hatten überhaupt keine Ahnung vom Schicksal ihrer eigenen Nation, ganz zu schweigen von dem, was auf sie selbst zukam. Hinter dieser Fassade der naiven Einfachheit verbarg sich häufig eine tiefverwurzelte Ignoranz, welche zum Großteil auf den Mangel an Bildung zurückzuführen war. Mein Vater war 15 Jahre alt, als er auf die Schule des Neuen Wissens in Tianjin kam. Drei Jahre lang wurde er in dieser Schule nach britischem Vorbild unterrichtet, welche es sich zum Ziele gesetzt hatte, ihre Schüler zu gebildeten Gentlemen zu formen und zu prägen. Während seiner Schulzeit hörte er oft die spöttischen Bemerkungen der Einheimischen über das primitive und grobschlächtige Gebaren der mandschurischen Fengtian-Armee unter Marschall Zhang Zuolin. Zum täglichen Ablauf an dieser Schule gehörte die frühmorgendliche Bibelstunde genauso wie das Fahnenhissen vor dem Unterricht. Die Schüler waren nicht verpflichtet, der christlichen Kirche beizutreten, dennoch wollte man die jungen Menschen zum rechten Weg dieser Lehre hinführen. So begann mein Vater, sich mit Fragen auseinanderzusetzen, welche die Seele betrafen, und sich über den Sinn des Lebens Gedanken zu machen.

Als Achtzehnjähriger erhielt mein Vater ein Regierungsstipendium für das Studium in Japan. Dort erlebte er zum ersten Mal ein Land, in dem Moderne und Fortschritt Einzug gehalten hatten. Die Bürger waren im Allgemeinen einfache Leute und waren dennoch dazu erzogen worden, gesetzestreu und nach hygienischen Standards zu leben, im Großen und Ganzen machten sie einen regelrecht gepflegten Eindruck. Die Gebildeteren unter ihnen legten großen Wert auf gute Manieren, Sanftmut und Höflichkeit. Sie förderten das Streben nach Wissen und Bildung. Die absolute Loyalität zur Nation schien etwas ganz Selbstverständliches zu sein, was ganz offensichtlich die Grundlage dafür war, dass ein derartig kleines Land zu solch einer asiatischen Großmacht geworden war.

Zuerst absolvierte mein Vater ein Vorbereitungsjahr an der Ersten Hochschule von Tokyo, um Japanisch zu lernen. Anschließend wurde er der Vierten Hochschule in Kanazawa zugewiesen, wo er Naturwissenschaften studierte. Zu dieser Zeit gab es in Japan nur acht Hochschulen. Kanazawa liegt in Zentraljapan, direkt an der Küste zum Japanischen Meer. Als bedeutende Kulturstadt mit alter Tradition, berühmt als Blüte der feinen Künste und aufgrund ihres Reichtums bekam sie im 16. Jahrhundert den Beinamen „Hyakumangoku“26 – Stadt der Millionen Tonnen Reis. Die Hochschule war bekannt für ihre hohen Standards und man legte dort großen Wert auf die Sprachstudien. So musste mein Vater neben Japanisch auch noch Englisch- und Deutschkurse mit jeweils acht Wochenstunden belegen. In den drei Jahren, die er dort zugebracht hatte, wurde der Grundstein für seine lebenslang währende Leidenschaft des Lesens gelegt. Anfangs ging er regelmäßig in die Kirche, um in der dazugehörigen Bibliothek Bücher über die christliche Lehre zu lesen. Dies genügte ihm jedoch schon bald nicht mehr, und so begann er, philosophische Werke zu lesen. Von allen Lehrern dort war es Professor Kitaro Nishida, der als geistiger Vater der Kyoto-Schule gilt, der auch den größten Einfluss auf meinen Vater hatte. In späteren Jahren lehrte Professor Nishida dann an der Kaiserlichen Universität von Kyoto Philosophie. Unter seiner Anleitung begann Vater sich mit Philosophie, Wirtschaft und Sozialismus zu befassen. Von allen Büchern, welche die sozialen Missstände anprangerten, war es die „Erzählung zur Armut“ von Kawakami Hajimi, die ihm eine tiefe Erkenntnis des unfassbaren Ausmaßes der sozialen Ungleichheit vermittelte. Da mein Vater nicht die finanziellen Mittel besaß, nach Belieben Bücher zu erwerben, handelte er mit einem Buchladen aus, dass er die gekauften Bücher in tadellosem Zustand zurückbringen durfte und dafür 80 Prozent Gutschrift für den Kauf anderer Bücher bekam. Mein Vater hatte damals viel Zeit zum Lesen, weil es in Kanazawa häufig regnete, und während des Winters lag die Stadt für lange Zeit unter einer hohen Schneedecke verborgen. So entwickelte sich der kluge, lebhafte Jugendliche mit den Jahren zu einem belesenen, nachdenklichen jungen Mann.

Mit 22 Jahren folgte er dann seinem Vetter Shichang nach Berlin, um dort Wirtschaftsphilosophie zu studieren. Er hatte Karl Marx’ Kapital und andere Publikationen zum Sozialismus eingehend studiert und wurde das Gefühl nicht los, dass zu viele seiner Fragen unbeantwortet blieben. Er zweifelte nach wie vor, und es gelang ihm nicht, seine Ideale mit einer soliden Grundlage zu untermauern. Seine Unentschlossenheit wuchs eher noch, so dass er zeitweilig den Eindruck hatte, sich in einem Zustand geistiger Verwirrung zu befinden. Es war die Zeit nach dem ersten Weltkrieg, den Deutschland verloren hatte, und die Inflation war immens. Die chinesische und die japanische Silber-Währung standen hoch im Kurs. Die dort lebenden chinesischen Studenten bekamen plötzlich so viel Geld bar auf die Hand, dass sie ein komfortables Leben führen konnten. Immer häufiger genossen mein Vater und seine Kommilitonen die Ausschweifungen der Großstadt und lernten somit in erster Linie Land und Leute kennen, so dass für ernsthafte Studien kaum noch Zeit blieb. Im darauffolgenden Semester wechselte er des guten Rufes wegen nach Heidelberg, schrieb sich an der Universität ein und studierte Geschichtsphilosophie bei renommierten Professoren wie Heinrich Rickert und Alfred Weber. Den Verführungen der Unterhaltungsmetropole entronnen, konnte er nun seine volle Konzentration wieder dem Studium widmen. Er besuchte regelmäßig die Vorlesungen und beteiligte sich aktiv an den Diskussionen. Nach den Vorlesungen blieb er meist noch, um weitere Fragen zu stellen. Während seines Studiums der Geschichte im philosophischen Kontext erkannte er die Unverzichtbarkeit des rationalen Denkens und dass die tatsächlichen regionalen Zustände und Verhältnisse in der Tagespolitik berücksichtigt werden mussten. Ihm wurde bewusst, dass man zur Umsetzung von Theorien, wie sie unter anderem in Das Kapital beschrieben waren, diese nicht einfach voller Enthusiasmus oder durch Zwang zu allgemeinen Richtlinien erklären konnte. Diese Erkenntnis führte ihn zu der festen Überzeugung, dass nur aufgeklärte, umfassende Bildung und vernunftorientierte Erziehung das geschwächte China retten konnten. Zudem könne dies auch nicht durch gefühlsgeladene Massenbewegungen oder die Klassenrevolution geschehen, wo der Zweck praktisch alle Mittel heilige, sondern ausschließlich durch einen langfristigen und schrittweisen Prozess. Kulturelle und soziale Probleme ließen sich nur mit Vernunft lösen, denn jedwede überstürzte Veränderung würde nur zu noch größeren Problemen führen.

Im Laufe dieser zwei Jahre ging mein Vater in seiner Freizeit oft über die Alte Brücke, und von dort aus spazierte er am Ufer des Neckars entlang. Es war wohl die schönste Zeit seines Lebens. Im Frühling erinnerten ihn die reißenden Fluten des dahinwirbelnden Stromes an den Liao-Fluss seiner Heimat, wenn dessen trübe Wogen während der Schneeschmelze tosend dahinschossen. Dabei dachte er oft über seine zukünftigen Pläne nach und die notwendigen Reformen für seine Heimat, für China. Ja, er spürte die stürmischen Wellen auch in seinem eigenen Blut. Manchmal fühlte er sich wieder wie einst, als fünfjährige Junge, der gerade ein Paar neue Stoffschuhe bekommen hatte und vor lauter Freude ganz aufgeregt um seine Mutter herumhüpfte, damals am Ufer des Liao. Zunehmend fühlte er einen Trieb in seinem Innersten erstarken, und irgendwann hörte er deutlich den Ruf seines Herzens: „Geh zurück in dein Land und bring den Menschen Bildung!“ Ja, das war es, was er wollte. Endlich hatte er seine Bestimmung erkannt, und so leistete er vor sich selbst den feierlichen Eid: „So soll es sein. Dir, meiner schönen und unendlich weiten Heimat, werde ich eines Tages deine Güte reichlich vergelten. Ich werde mich mit ganzem Herzen dem Lernen widmen, damit ich mit all dem Wissen und Können, welches du mir zu erwerben erst möglich gemacht hast, zu dir zurückkommen kann. Dann werde ich eine Schule gründen und mich der Bildung unseres Volkes widmen, basierend auf vernunftgeleitetem Denken und mittels höchst rationaler Lehr-Methoden.“

Einer der härtesten Schicksalsschläge traf ihn, als sein Vetter Shichang in Freiburg an einer Tuberkulose-Infektion starb. Abgesehen von seinem persönlichen Verlust, welcher ihn zutiefst schmerzte, sah er auch seine Zukunftspläne gefährdet, weshalb er sich dazu entschloss, der Familie den Tod des Vetters vorerst zu verschweigen. Eine Zeitlang gelang ihm dies, doch dann starb ganz unvermittelt auch Shichangs Vater. Shichang musste nach Hause, das erwartete seine trauernde Familie. Meinem Vater fiel keine triftige Ausrede ein, mit der sich erklären ließ, warum der in der Ferne weilende Sohn nicht umgehend zur feierlichen Beisetzung seines Vaters eilen konnte. Daher blieb ihm nichts anderes übrig, als mit den sterblichen Überresten Shichangs in einer Urne heimzukehren. Als er in Shenyang ankam, kam auch die Wahrheit ans Licht, so dass Großvater ihm die Erlaubnis verweigerte, wieder ins Ausland zu gehen. Vater war damals 25 Jahre alt. Sein Streben nach höherem Wissen und somit auch sein Lebenstraum kamen zu einem jähen Ende. Nach Beerdigung seines Vetters ging mein Vater wieder nach Shenyang, um herauszufinden, ob es dort noch andere Möglichkeiten zur Fortsetzung seiner Studien gab. In der damaligen Zeit war die Heimkehr eines Stipendiaten aus Deutschland eine absolute Sensation. General Guo Songling27, der Jahrgangskamerad seines Vaters von der Offiziersschule und zugleich auch dessen guter Freund, lud ihn ein, bei ihm zu Hause zu übernachten, da er das Hotel für eher unbequem hielt.

In dieser nördlichen Region herrschte im Januar eine strenge Eiseskälte und die Nächte waren lang, womit sie sich hervorragend für gemütliche Gespräche am Kamin eigneten. Sie sprachen über alles, von lokalen Ereignissen über nationale Angelegenheiten bis hin zur politischen Lage der Welt, und als sie sich verabschiedeten, hatte jeder von ihnen das Gefühl, dass aus dieser Begegnung eine Freundschaft entstehen könnte. Daraufhin wurde Vater gebeten, noch eine Weile zu bleiben, und jedes Mal, wenn General Guo wichtigen Besuch empfing, wurde mein Vater eingeladen, sich der Gesprächsrunde anzuschließen. Seine Erzählungen über Japan und Deutschland stießen bei den Gästen auf großes Interesse, und auch seine Ansichten zur Lage im eigenen Land, welche er als Auslandsstudent durch den räumlichen Abstand gewonnen hatte, wurden mit Aufmerksamkeit verfolgt. Vor allem jedoch beeindruckte er seine Zuhörer mit Schilderungen, welche die Entwicklungen in Deutschland nach dem ersten Weltkrieg zum Inhalt hatten. Nach dem verlorenen Krieg war Deutschland wirtschaftlich am Boden und die Bevölkerung musste viel Not und Leid erdulden. Was jedoch nicht hatte besiegt werden können, waren der Nationalstolz und die unverbrüchliche Überzeugung des Volkes, diese schwierigen Zeiten bald überwunden zu haben. Und tatsächlich hatten die Deutschen es geschafft. In ihren alten Häusern mit ihren dicken Mauern, welche auf steinernen Fundamenten standen, ebenso wie in den mächtigen Säulen, die noch immer trotzig emporstrebten, und in den knorrigen alten Bäumen, welche die gepflasterten Alleen säumten, konnte man diese Standfestigkeit spüren, deren Stärke in den Tiefen ihrer Kultur verwurzelt lag. In jenen langen Winternächten diskutierten sie auch die bedrohliche Situation der Mandschurei, die damals sowohl für Japan als auch für Russland ein Objekt ihrer Gier nach Expansion war. Was machte es da noch für einen Sinn, in die Bürgerkriege zwischen den chinesischen Kriegsfürsten verwickelt zu bleiben? War es nicht höchste Zeit, das Volk von Einfältigkeit und Fremdbestimmung zu befreien? Immer häufiger diskutierten sie über die Notwendigkeit, den Menschen eine umfassende Bildung und eine Erziehung im Geiste der Aufklärung zu ermöglichen, damit sie endlich diesem Dilemma entkommen konnten. Zu jenem Zeitpunkt war sich mein Vater noch nicht bewusst, dass diese Gespräche, welche bei ihm und den anderen einen starken Widerwillen gegen das Bestehende förderten und den Drang zu Reformen weckten, seinem Leben eine schicksalhafte Wendung geben würden.

Seit Jahrhunderten hatte das sagenumwobene Volk des Nordostens den Ruf, unzählige Helden hervorgebracht zu haben, furchtlose Bogenschützen zu Pferde und begnadete Kämpfer im Gelände, wenn es darum ging, ihr Land zu verteidigen und seine Stärke auszubauen. 1883, im neunten Regierungsjahr des Guangxu-Kaisers der Späten Qingdynastie, wurde General Guo Songling in dem kleinen Dorf Yuqiaozhai in Liaoning geboren. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, und erst im Alter von 15 Jahren wurde es ihm ermöglicht, einige Jahre lang eine altmodische Privatschule zu besuchen. Anschließend ging er auf die Offiziersschule der Fengtian-Armee. Nach bestandener Abschlussprüfung und Ernennung zum Leutnant marschierte er mit seiner Truppe unter dem Kommando von General Zhu Qinglan (1874–1941) nach Sichuan, wo sie sich dem Tongmenghui-Bund anschlossen. Diese 1905 von Doktor Sun Yat-Sen gegründete Geheimgesellschaft hatte es sich zum Ziel gemacht, eine revolutionäre Allianz zu bilden, welche die korrupte mandschurische Herrschaft stürzen sollte, um dann eine neue chinesische Republik auszurufen. Mit 33 Jahren absolvierte Guo schließlich die Führungsakademie des Heeres und wurde auf Empfehlung von General Zhu, der inzwischen zum Gouverneur der Provinz Kanton ernannt worden war, zum Kommandeur des Gardebataillons befördert. Zeitgleich wurde er als Lehrer und Ausbilder an die Shaoguan Militärakademie für Offiziersanwärter berufen, eine Institution der „Verfassungsschützenden Militärregierung“ unter Vorsitz von Doktor Sun Yat-Sen, deren Zweck die Vorbereitung von Streitkräften auf militärische Konflikte mit der Pekinger Regierung war. Dank seines umfassenden Wissens und dem Weitblick seiner Ideen gewann er schnell das Vertrauen der jungen Offiziere. Allein Fachwissen zu vermitteln reichte ihm jedoch nicht aus. Für ihn war es von großer Wichtigkeit, dass seine Schüler sich zu Patrioten mit demokratischer Gesinnung entwickelten.

Nach der Revolution von 1911 herrschten in China chaotische Zustände. Aufgrund seiner häufigen Versetzungen vom Norden bis weit in den Süden des Landes hatte er das große Durcheinander, welches überall herrschte, die Tumulte und unfassbares Elend mit eigenen Augen sehen können. Mit diesen Erfahrungen und seinem Blick fürs Ganze kehrte er schließlich wieder in die Mandschurei zurück, wo er den Posten eines Dozenten für militärische Strategien an der neu errichteten Nordostchinesischen Militärakademie antrat. Es war kein Zufall, dass einer der jungen Offiziersanwärter, der bei ihm die Schulbank drückte, Zhang Xueliang hieß, und trotz seiner Jugend bereits eine führende Position durch seinen Vater in der Fengtian-Armee bekleidete. Der älteste Sohn des Marschalls Zhang Zuolin war ein äußerst zielstrebiger Schüler, der seinen Lehrer geradezu vergötterte. Eines Tages bat er Guo um Hilfe, denn er wollte die Mandschu-Armee reformieren und eine neue, moderne Truppe zusammenstellen. Dies sollte der Beginn einer engen kameradschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den beiden werden. Guo trat daraufhin der Fengtian-Armee bei und wurde vorerst zum Stellvertreter seines Schülers ernannt. Später übernahm er dann ein eigenes Truppenkommando. Seine herausragenden militärischen Erfolge während der zwei großen Schlachten von 1922 und 1924 zwischen Fengtian-Armee und den Verbänden der Nordchinesischen Kriegsfürsten waren das Ergebnis seiner geschickt kalkulierten Taktiken und der ausgezeichneten Ausbildung seiner Truppen. Trotzdem machte Guo sich Gedanken über den Sinn des Krieges: Lohnte es sich überhaupt, ganz China in einen Krieg zu verwickeln? Während die jungen Männer hinter der Großen Mauer kämpften, verdorrten in der Heimat die Felder, da es nicht mehr genügend Arbeitskräfte gab, um sie zu bestellen. All diese Soldaten, die auf feindlichem Gebiet verwundet wurden oder starben, ließen daheim Frauen und Kinder, denen ein schweres Schicksal gewiss war, schutzlos zurück. Er kam zu der Schlussfolgerung: Keine Kriege mehr! Was die Menschen wirklich brauchten waren Frieden, Nahrung und Bildung!

In den Augen junger Studenten, die aus Europa zurückkehrten, besaß der Gedanke, eine neue Armee aufzustellen, hohe Anziehungskraft. Zu denen zählte auch mein Vater, der von Guos Persönlichkeit und seinen Idealen absolut begeistert war. Als Anführer des modernisierten Teils der Fentian-Armee befand sich der General in einer herausragenden Stellung, war zugleich eine Person mit Format und besaß ein sympathisches Äußeres. Hinzu kam noch, dass er sich durch Entschlussfreudigkeit und Durchsetzungsfähigkeit auszeichnete. Seine Ehe war entgegen aller Tradition eine Liebesheirat und seine Frau, Han Shuying, eine Absolventin der Yanjing-Universität28, die einst von Missionaren in Peking gegründet worden war. Die beiden empfanden eine tiefe Liebe füreinander, lasen gern Bücher und standen neuen Ideen sehr aufgeschlossen gegenüber. Dem geselligen Paar fiel es leicht, neue Freundschaften zu schließen, und wenn sie sprachen, dann wurde schnell deutlich, dass sie sich viele Gedanken zum Weltgeschehen machten und hinsichtlich der Zukunft des Landes in der Verpflichtung sahen. Zusammen mit dem Junior-Marshall Zhang Xueliang und einigen Unterstützern gründete er eine Mittelschule für die Kinder gefallener Soldaten, um den Kriegskameraden Respekt zu zollen und deren hinterbliebenen Familien zu helfen. Aufgrund ihrer vielen Gespräche wusste General Guo, dass mein Vater seit seiner Rückkehr aus dem Ausland das Ziel verfolgte, jungen Menschen eine fundierte Bildung zu ermöglichen und durch Aufklärung zu einem modernen Denken zu führen. Also wurde mein Vater kurzerhand zum Direktor der neuen Tongze-Mittelschule ernannt. Die Satzung der Schule hatte man nach dem Vorbild der Bildungssysteme aus England, Deutschland und Japan zusammengesetzt, wodurch ein für chinesische Verhältnisse außergewöhnlich solides Fundament der modernen Schulbildung geschaffen wurde. Aus dem ganzen Land wurden hochqualifizierte Lehrer angeworben und eingestellt. Bis zur Gründung Mandschukuos, dem von Japan 1932 in der Mandschurei errichteten Marionettenstaat, galt diese Schule als eine der renommiertesten im ganzen Land und besaß den seltenen Ruf politischer Unabhängigkeit. Später wurde noch eine gleichnamige Mädchenschule gegründet und auch eine Universität hatte man bereits in Planung, welche als rein wissenschaftliche Institution vollkommen unabhängig von behördlichen Vorgaben und ohne jegliche politische Einflussnahme geführt werden sollte. Höhere Bildung durfte nicht mehr ausschließlich zum Ziel haben, Beamte für einen überholten Machtapparat zu schaffen.

Nach der offiziellen Einweihung der Tongze-Schule nutzte man übergangsweise einige frisch renovierte Baracken der Shanzuizi-Kaserne östlich von Shenyang als Unterrichtsräume, da das eigentliche Schulgebäude noch im Bau befindlich war. Im Sommer 1924 wurden die ersten Schlüer eingeschult, allesamt unter 14 Jahre alt. Zu diesen Halbwüchsigen zählte auch Song Changzhi, der spätere Admiral Verteidigungsminister von Taiwan. Für meinen Vater, den jungen Schulleiter, ging ein langersehnter Traum in Erfüllung. Voller Begeisterung und Elan stürzte er sich auf seine Aufgaben und arbeitete unermüdlich: Er suchte und fand die Lehrkräfte, arbeitete Lehrpläne aus, beriet Kollegen und widmete sich voller Hingabe dem Unterrichten seiner Schüler. Kurz gesagt, er war mit Leib und Seele dabei und stand permanent unter Dampf. Er kam sich vor wie die Lokomotive der kleinen Lokalbahn, welche die Kaserne mit der Stadt verband: den Kessel unter Hochdruck, voller Tatendrang und ab nach vorn – immer weiter in die Ferne mit dem Ziel vor Augen.

Doch diese glücklichen Tage währten kein ganzes Jahr. Eines Abends Anfang November 1925 rief General Guo meinen Vater an, weil er ihn dringend unter vier Augen sprechen wollte. Um nach Dienstschluss in die Stadt zu kommen, musste Vater den Lokführer der Lokalbahn bitten, ihn außerplanmäßig in die 20 Kilometer entfernte Provinzhauptstadt Shenyang zu fahren. Der Lokführer hatte bereits Feierabend gemacht und die Feuerbüchse war längst erkaltet. Nach einigem Hin und Her ließ sich der Lokführer durch das drängende Bitten meines Vaters erweichen und entzündete erneut das Feuer. Endlich in der Stadt angekommen, vertraute General Guo meinem Vater an, dass er Befehl erhalten hatte, bereits am nächsten Tag mit seinen Divisionen in den südlichen Teil Nordchinas einzumarschieren. Er bat meinen Vater darum, sich seinen Truppen anzuschließen. Vater sollte den Leiter des Lehrbereiches bitten, vorerst die Vertretung zu übernehmen, da der Truppenttansport bereits in den Morgenstunden des kommenden Tages stattfinden würde. Einige Tage nachdem sie die Hafenstadt Tianjin erreicht hatten, bezog General Guo Quartier im Italienischen Hospital, das im Konzessionsviertel der Italiener lag. Dort erklärte er meinem Vater, dass das Ziel des Einmarsches in die Gebiete jenseits der Großen Mauer sei, die vom Kriegsfürsten Sun Chuanfang angeführte Armee „Allianz der Fünf Provinzen“ zu zerschlagen und somit die Vormachtstellung der Fengtian-Armee in den Provinzen Hebei, Shandong, Anhui und Jiangsu zu manifestieren. Aber er, Guo, der siegreiche Truppenführer, sei kriegsmüde und habe das sinnlose Blutvergießen satt. Daher beabsichtige er, seine Truppen in die Mandschurei zurückzuführen und Zhang Zuolin zu einer friedlichen Lösung des Konfliktes zu zwingen, notfalls auch mit Gewalt! Im Vorfeld hatte Guo bereits alle seine Kommandeure oberhalb der Regimentsebene zu einem Treffen versammelt und ihnen seine Absichten dargelegt. Dazu legte er ihnen einen Friedensplan für die zukünftige Entwicklung der Mandschurei vor. Jene, die willens waren, ihm in den Nordwesten zu folgen, sollten diesen Plan unterzeichnen. Die Mehrheit der Anwesenden war dafür gestimmt und bekräftigte dies mit ihrer Unterschrift. Lediglich einige wenige langjährige Weggefährten des Marschalls Zhang Zuolin verweigerten die Teilnahme an dem geplanten Putsch, den sie für unangemessen befanden, und blieben in Tianjin, wo sie den Truppen von General Li Jinglin zugeteilt wurden.

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