Kitabı oku: «Der Mächtige Strom», sayfa 5
Nach dem Scheitern des Putsches von General Guo, als für den damals 27-jährigen Mann aus dem Nordosten Chinas bereits alles verloren schien, folgten nun drei ereignisreiche Jahre, die ihn auf seine Zukunft vorbereiten würden. Seit jenem ersten Gespräch vor dem Kamin in General Guos Haus bis zu den Lagern am Liao-Fluss hatte er zahlreiche Persönlichkeiten kennengelernt und so viele Nächte im angeregten Gedankenaustausch über Ziele und Ideale verbracht. Diese Brüder im Geiste, mit denen er gestern noch debattiert hatte, waren morgen schon die Mitgestalter des modernen China. Die politische Überzeugung meines Vaters und seine wesentlichen Charakterzüge sind ganz entschieden von ihnen geprägt worden.
6 - Der Mukden-Zwischenfall
Im Juni 1928 wurde Marshall Zhang Zuolin unweit der Bahnstation Huanggutuen, einem Vorort von Shenyang, während eines Bombenattentats getötet. Der Anschlag war von einem Offizier des japanischen Militärs verübt worden. Am 18. September 1931, inszenierten japanische Soldaten der Kwantung-Armee (Guandong Jun) erneut einen Anschlag bei Shenyang, der als Mukden-Zwischenfall29 in die Geschichte eingegangen ist. Noch in derselben Nacht besetzten sie die Stadt und markierten so einen der schmerzlichsten Augenblicke in der Geschichte des modernen China. Meine Mutter, die gerade erst begonnen hatte, ihr neu gewonnenes Glück zu genießen, traf der Schock unerwartet bis ins Mark. Da ihr nun die Rückkehr verwehrt war, fürchtete sie, ihre geliebten Eltern nie mehr wiederzusehen.
Mein Vater hatte schon seit langem gewusst, dass dieser Tag früher oder später kommen würde. Seit die Granaten während des Russisch-Japanischen Krieges in den Hügeln unweit des heimatlichen Gutshofs detoniert waren, seit Guo Songling mit seinem Leben für den Versuch bezahlt hatte, das Schicksal der Mandschurei zum Besseren zu wenden, und spätestens als auch Marschall Zhang getötet worden war, da war ihm vollends bewusst geworden, dass ein solches Unheil nicht mehr abzuwenden sein würde. Nachdem es den Alten Marshall in Stücke gerissen hatte und ein Machtkampf um die Nachfolge entbrannt war, musste sein Sohn, Zhang Xueliang, in aller Eile sein schweres Erbe antreten, um den Machterhalt als Kriegsfürst zu sichern. Es fehlten ihm jedoch die Kühnheit, die Willensstärke und die Führungsqualitäten, die es gebraucht hätte, um ein derartig riesiges Land und seine Bevölkerung vor den Japanern zu schützen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als mit schreckgeweiteten Augen anzusehen, wie das herrscherlose Land vor die Hunde ging. Für meinen Vater war es über die Maßen schmerzhaft, dass die Mandschurei für immer verloren sein sollte. Doch seine Heimat, dieses riesige, fruchtbare Land durch die Unfähigkeit eines ignoranten Erben zu verlieren, der regieren wollte, wie es die Familien der feudalen Kriegsherrn schon viel zu lange getan hatten, empfand er als beschämend und empörend zugleich.
Seitdem es die Südmandschurische Eisenbahngesellschaft zu Anfang des 20. Jahrhunderts übernommen und das Streckennetz in der Mandschurei ausgebaut hatte, hatte Japan geduldig 30 Jahre lang darauf gewartet, dass dieser Tag kommen würde. Nach dem Mukden-Zwischenfall kontrollierte die japanische Kwantung-Armee in der Mandschurei sämtliche Verbindungen zur Außenwelt wie die Eisenbahn, sämtliche Straßen, und überwachte den gesamten Telegramm- und Funkverkehr. Dennoch leisteten zahlreiche Einheiten der örtlichen Milizen von Shenyang bis Harbin noch ein ganzes Jahr lang bewaffneten Widerstand. Wo waren da der junge Marschall Zhang Xueliang und seine ruhmreiche Fengtian-Armee während dieser ganzen Zeit? Was taten sie, während das ganze Land endgültig besetzt wurde?
Schließlich wurde 1932 der Marionettenstaat Mandschukuo ausgerufen, ein von den Japanern errichtetes Kaiserreich auf dem Boden unserer Heimat mit einem vermeintlichen Kaiser, der einst der Kaiser von ganz China gewesen war. Dies war ein bedeutsamer Schritt für Japans Bestrebungen, sein Konzept von der Großostasiatischen Wohlstandssphäre umzusetzen, und fortan konnten sie sich auf die totale Niederwerfung Chinas konzentrieren. In einer einzigen Nacht war China zu einem Riesen geworden, dem im Schlaf beide Füße abgehackt worden waren. In dieser Nacht weckte der Schmerz über den Verlust ein ganzes Land aus dem Schlaf. Landesweit kam es plötzlich zu Aufmärschen und Massenprotesten. Die Demonstranten skandierten: „Nieder mit dem japanischen Imperialismus!“ und „Unser Leben für unser Land!“ Doch die Rufe wurden nur von uns selbst gehört. Die Welt befand sich noch im Zeitalter des Kolonialismus, und die Hauptakteure der Weltpolitik, die in der Lage gewesen wären, Sanktionen gegen Japan zu verhängen, waren zumeist selbst Kolonialmächte. Der Völkerbund schickte zwar eine Untersuchungskommission unter der Leitung des ehemaligen Vizekönigs von Indien, Graf Victor Bulwer-Lytton, nach China, doch auch das führte zu keinem Ergebnis. Der Gerechtigkeit wurde wie so oft nicht Genüge getan.
Während des ganzen Jahres nach dem Mukden-Zwischenfall machte sich mein Vater Gedanken darüber, was man gegen die Japaner unternehmen könnte. In den letzten zwei Jahren, in denen er in der KMT-Zentrale gearbeitet hatte, hatte er meist nur Kontakte zu Lehrern und Bildungsfunktionären in der Mandschurei gehabt. Aufgrund des Zwischenfalls und der Besetzung Shenyangs waren die meisten von ihnen nach Peking gezogen und hatten dort ein Büro für die Flüchtlinge eingerichtet. Einige von ihnen waren dann nach Nanking gefahren, um der Nationalregierung persönlich Bericht zu erstatten und an sie zu appellieren, den freiwilligen bewaffneten Widerstand in den Provinzen Jilin und Heilongjiang endlich tatkräftige Unterstützung zu schicken. Die Elitetruppen der Fengtian-Armee, welche nun von dem Jungen Marschall, Zhang Xueliang befehligt wurden, hatten sich, seiner „Kein-Widerstand-Erklärung“ Folge leistend, in den Nordwesten Chinas zurückgezogen, denn sie fühlten sich der Übermacht des japanischen Gegners unterlegen. Die einheimische Bevölkerung wollte jedoch nicht einfach stillhalten und darauf warten, dem Feind in die Hände zu fallen, und begann überall dort Widerstand zu leisten, wo ihr Waffen zur Verfügung standen.
Unzählige Jugendliche flüchteten nach Peking und Tianjin, um sich den Umerziehungsmaßnahmen der Japaner in den von ihnen besetzten Gebieten zu entziehen. Die einen fanden Zuflucht bei Verwandten und Freunden, die anderen zogen von Ort zu Ort auf der Suche nach einer sicheren Bleibe. Die Nationalregierung verlor den Überblick über die Zustände im Nordosten und ergriff auch keine Maßnahmen, um irgendeine Lösung zu finden. Meinem Vater wurde klar, dass er selbst in die Mandschurei gehen musste, um sich einen Eindruck von der Lage vor Ort zu verschaffen – hautnah in der Höhle des Löwen. Es war ein riskantes Unterfangen, ein Akt der Verzweiflung geradezu, bei dem mein Vater alles würde in die Waageschale werfen müssen, was ihm zur Verfügung stand. Doch er war fest entschlossen und machte sich, all seinen Mut zusammennehmend, auf den Weg, oder wie es das leidenschaftliche Volk der Mandschu nannte: „jiazhe naodai gan“ – Den Kopf untern Arm klemmen und los geht’s!
Zuerst kündigte er seinen Posten in der KMT-Zentrale und reiste dann mit der gefälschten Identität eines in Deutschland ansässigen Geschäftsmannes in aller Heimlichkeit nach Shanghai. Dort schiffte er sich als Herr Zhao nach Kobe, dem größten Seehafen Japans, ein und dann ging es weiter auf dem Seeweg ins russische Wladiwostok. Ohne weitere Verzögerung ging es dann mit dem Zug, der alle zwei Tage fuhr, über die Grenzstadt Suifenhe in die Provinzhauptstadt von Helongjiang nach Harbin. Dort bezog er Quartier in einem von Weißrussen betriebenen Hotel und versuchte Kontakt zu den Verantwortlichen einer Untergrundorganisation aufzunehmen. Es sollte nicht lange dauern, bis er sich mit einigen der Kampfgefährten traf, denen es nur unter größten Schwierigkeiten gelang, die Stellung in Jilin zu halten. Zu diesen gehörten unter anderem Xu Zhen, der Direktor des regionalen Fernmeldeamtes, Zang Qifang, der Direktor der Landesverwaltung in Liaoning, und Zhou Tianfang, der Leiter des Amtes für Bildung und Erziehung. Endlich war es ihm möglich, sich ein genaueres Bild von den gegenwärtigen Verhältnissen in seiner Heimat nach dem Mukden-Zwischenfall zu machen: Die Provinz Liaoning war mittlerweile fast vollständig von Japanern besetzt. Freiwilligen Widerstandstruppen wie der Yiyong-jun, der „Armee der Rechtschaffenen und Mutigen“, war es lediglich möglich, aus dem Untergrund heraus zu agieren, und das auch nur, weil einige ihrer Anführer in ihrer offiziellen Funktion als höhere Beamte ein gewisses Maß an Deckung gewährleisten konnten. Doch der Widerstand war insgesamt viel zu schwach. In Changchun, der Hauptstadt von Jilin, konnte der bewaffnete Widerstand unter Han Chinglun und Gai Wenhua, welche ihre Freiwilligentruppe bereits vor den entscheidenden Ereignissen zusammengestellt hatten, zumindest einen Monat lang den aggressiven Vormarsch der japanischen Truppen nach Norden verzögern, doch schließlich verloren auch sie den Kampf. Gai und sieben weitere Anführer wurden nach ihrer Gefangennahme umgehend enthauptet. Ihre Köpfe wurden zur öffentlichen Abschreckung über dem Stadttor von Shenyang aufgehängt.
Mein Vater reiste von Harbin aus weiter in den Nordosten bis nach Hailun, der provisorischen Hauptstadt der Provinz Heilongjiang, wo er die Führer der schlagkräftigsten Widerstandsmilizen gegen die japanischen Invasoren, Wang Binzhang, Wang Yuzhang und drei weitere Brüder traf. Diese organisierten für ihn ein geheimes Treffen mit dem kurzfristig ernannten Gouverneur und Oberbefehlshaber von Heilongjiang, Ma Zhanshan, seines Zeichens General der Fengtian-Armee, und Su Bingwen, einem ehemaligen General der chinesischen Streitkräfte, welche sich nach einer Meuterei dem Widerstandstrupp angeschlossen hatten und fortan Nationale Befreiungsarmee Heilongjiang nannten. Von ihnen erfuhr er, wie verzweifelt die Lage der Widerstandstruppen tatsächlich war. Es mangelte an Ausrüstung, Munition und Verpflegung – also eigentlich an allem. Die Überreste der von dem jungem Marshall Zhang befehligten Armee hatten bereits jeglichen Widerstand aufgegeben, und auch die Kommunikation zu der tausende von Kilometern entfernten Nationalregierung war inzwischen abgebrochen. Aufgrund der harschen Witterungsbedingungen und mit wenig mehr als ihren bloßen Händen ausgestattet war es den Soldaten nicht länger möglich, sich allein mit patriotischer Leidenschaft, sturer Willenskraft und heißblütiger Kampfbereitschaft gegen die japanische Kwantung-Armee zu behaupten. Obwohl die Situation vollkommen hoffnungslos erschien, gelang es meinem Vater, die Generäle davon zu überzeugen, unter keinen Umständen zu kapitulieren. Er riet ihnen, die Kämpfer nach Hause zu schicken, damit der Feind keine Gelegenheit bekäme, die Männer in ihre eigenen Truppen zu zwingen, und stattdessen würde die Saat des Widerstandes im gesamten Land gestreut werden. Das erschien ihm sinnvoller als ein heldenhafter, doch gleichermaßen nutzloser Opfertod. Nachdem mit der Provinz Heilongjiang auch die letzte Bastion der Defensive gefallen war, organisierte er verschiedene Fluchtmöglichkeiten über zum Teil unvermeidbare Umwege, wie zum Beispiel für General Su, der über Deutschland nach Shanghai reisen konnte. Oder General Ma, der den beschwerlichen Weg durch die Berge und einen Pass in der großen Mauer auf sich nehmen musste, um bis nach Nanking zu gelangen. In Nanking und Shanghai wurden sie als Nationalhelden gefeiert, und die Legenden, die sich um ihr Heldentum rankten, sollten die Kampfmoral der Bevölkerung noch lange Zeit stärken und sie zum Widerstand gegen Japan mobilisieren.
Während dieser geheimen Mission in der Mandschurei hatte mein Vater zahlreiche Kontakte zu den örtlichen Widerstandsorganisationen geknüpft, doch für sich selbst sah er zu jenem Zeitpunkt keine Möglichkeit mehr, dort weiterhin effektiv etwas bewirken zu können, und deshalb kehrte er wieder nach Nanking zurück. Nach seiner Ankunft wurde er von General Chiang Kai-Shek mit dem Vorsitz der kurz zuvor von der Regierung gegründeten „Dongbei Xiehui“, der Nordostchinesischen Gesellschaft mit Sitz in Shanghai betraut. Somit übernahm mein Vater die Verantwortung für sämtliche Verbindungen zwischen der chinesischen Nationalregierung und den Untergrundorganisationen in der Mandschurei. Vorrangiges Ziel war es, möglichst umfangreiche und sichere Kommunikationswege aufrechtzuerhalten. Des Weiteren oblag es ihm in seiner Position, langfristig orientierte Strategien und politische Konzepte im Kampf gegen Japan zu entwickeln und Hilfsmaßnahmen für die Flüchtlinge aus der Mandschurei bereitzustellen. Mein Vater versprach dem Generalissimus, sein Bestes zum Wohle der Landsleute zu geben und niemals in seinen Bestrebungen nachzulassen.
7 - Köpfe über dem Stadttor
Meine Großmutter und meine zwei Tanten waren mittlerweile schon nach Peking umgezogen. Kurz zuvor hatte mein Vater bereits einen Freund mit der Aufgabe betraut, meine Mutter, meinen Bruder und mich von Nanking aus dorthin zu begleiten, damit sie ihre Schwiegermutter, so wie es die Tradition erforderte, pietätvoll und mit dem gebührenden Respekt, „betreuen“ konnte. So zumindest ließ er es im Freundeskreis verlautbaren, doch insgeheim fungierte seine Familie als Tarnung für seine verdeckten Tätigkeiten in den nordchinesischen Gebieten, damit er ohne Misstrauen zu erregen seine Mission weiterführen konnte. Nach der vollständigen Übernahme der Mandschurei durch die Japaner hatte mein Vater sich dazu entschieden, so lange wie möglich im Nordosten zu bleiben, damit er zu möglichst vielen antijapanischen Untergrundorganisationen Kontakte knüpfen konnte. Er wollte sein Möglichstes tun, um zwischen den vielen versprengten Gruppen zu vermitteln und die Widerstandskämpfer auf diese Weise dabei zu unterstützen, möglichst schnell Herr der Lage zu werden. Viel schneller jedoch, als seine Bemühungen Fortschritte machten, erkannte er, dass Peking auch kein sonderlich sicherer Ort mehr war. Überall in der Stadt schnüffelten die Spitzel der Japaner herum und ihm fehlten die Kontakte, um unseren Schutz zu gewährleisten. Also veranlasste er, dass meine Mutter und ich in die 140 Kilometer entfernte Hafenstadt Tianjin umzogen, während mein Bruder in Peking bei Großmutter blieb. Er sorgte dafür, dass wir im französischen Konzessionsviertel der Stadt eine Bleibe zugeteilt bekamen. Von nun an gab es eine neue Rolle im Leben meiner Mutter, die sie auszufüllen hatte. Unversehens sah sie sich mit der Aufgabe konfrontiert, die vielen Familienangehörigen der Untergrundkämpfer, welche aus allen Teilen der nordöstlichen Gebiete ins unbesetzte China flohen, sowie zahlreiche Schüler und Studenten aus der Mandschurei, die schließlich in Tianjin landeten, zu betreuen. Der Dienst an ihrem Heimatland hielt sie derart auf Trab, dass sie nur noch ab und an die Zeit fand, nach Peking zu fahren und bei Großmutter nach dem Rechten zu sehen. Endlich gab es eine Rolle in ihrem Leben, das bis dahin nur die der Ehegattin, Mutter und Hausfrau gekannt hatte, die ihrem Dasein einen tieferen Sinn verlieh und welche sie von Herzen gern übernahm!
Ich kann mich noch sehr lebhaft an den Tag erinnern, als wir Besuch von einer gewissen Frau Gai und ihren zwei Kindern bekamen, deren Ehemann und Vater ein patriotischer Untergrundkämpfer in unserer Heimat war. Plötzlich hörte ich heftiges Schluchzen aus dem Wohnzimmer. Meine Mutter kam sichtlich verstört zu uns ins Schlafzimmer, wo wir Kinder spielten, und bat mich, mit den beiden Jungen draußen im Garten weiterzuspielen. Einer der Brüder fragte mich ganz unvermittelt: „Warum hängt der Kopf unseres Papas über dem Stadttor?“
Im Jahr 2001, während der Eröffnungsfeierlichkeiten der Chi Shiying Gedenkbibliothek an der Zhongshan-Oberschule in Shenyang, wurde mir ein Bildband überreicht, welcher den Titel „Vergesst niemals den 18. September“ trug. In diesem Buch fand ich ein großes Foto, dass eine Reihe von blutgetränkten Köpfen über einem alten Stadttor zeigte. Es war eine erschreckend scharfe Aufnahme, auf der man die weit aufgerissenen, hasserfüllten Augen und die gefletschten Zähne der Toten sehen konnte, so dass man noch immer die grimmige Wut, die auf ewig in den Gesichtern eingebrannt schien, beinahe am eigenen Leib zu spüren vermochte. Den Zorn über die Willkür dieses blutigen Abschieds von der geliebten Familie und den Verlust der eigenen Heimat nahmen sie mit sich, meine Kindheitserinnerungen jedoch waren mir plötzlich wieder gegenwärtig wie seit langem nicht mehr und sollten mir seither unauslöschlich vor Augen stehen.
Mit der Zeit stellte sich heraus, dass auch die ausländischen Konzessionsviertel keine absolute Sicherheit bieten konnten. Zudem war der Familienname Chi recht auffällig und weckte häufig das Interesse der Leute. Bis dahin war es nur mein Vater gewesen, der für seine zahlreichen Reisen unterschiedliche Identitäten annahm, doch plötzlich mussten auch wir von Zeit zu Zeit unseren Namen wechseln. Am häufigsten hießen wir Wang oder Xu. Jedes Mal, wenn wir unseren Nachnamen änderten, musste ich auch die Schule wechseln, damit der Schwindel nicht aufflog. Für meinen Vater gehörte das zu seinem beruflichen Alltag, und deshalb irritierte es ihn nicht im Mindesten, dass er mal mit einer Frau Wang und kurz darauf mit einer Frau Xu verheiratet war, je nachdem, wie sich Mutter gerade nannte. Für mich hingegen war es total verwirrend, und manchmal, bevor ich zur Schule ging, musste ich noch einmal nachfragen: „Mama, wie heiße ich heute?“
Eines Tages, als ich gerade mal wieder Wang Bang-Yuan hieß, besuchte ich die dritte Klasse der Liaoxikai-Grundschule in Tianjin. Meine besorgten Eltern wagten es nicht, mich in solch einer großen Stadt unbeaufsichtigt auf den Weg zur Schule zu schicken, daher heuerten sie den Fahrer eines gelben Rikscha-Taxis an, der mich jeden Tag von unserem Zuhause abholte und nach dem Unterricht auch wieder dort absetzte. Ich erinnere mich sehr gut daran, dass, wenn ich in dieser Rikscha saß, manchmal ein paar der frecheren Mitschüler hinter dem Taxi herliefen und gehässig „Wangba Yuan, Wangba Yuan!“ riefen. Diese Entstellung meines vermeintlichen Namens zu „Yuan, die Schildkröte“.brachte mich derart auf die Palme, dass ich vollkommen in Tränen aufgelöst war, als ich zuhause ankam. So befremdlich es für mich als Kind auch war, dass wir dauernd unseren Namen wechselten, so war ich doch das eine Mal heilfroh, als ich bald darauf wieder Xu hieß und die Schule wechseln durfte.
In jenen Tagen, da um uns herum überall Gefahren lauerten und wir andauernd umziehen mussten, hat meine Mutter nicht mehr geweint. Sie war längst nicht mehr die schwermütige, tränenselige Frau von einst. Diese Tage voller Unsicherheit schweißten meine Eltern zusammen, und so akzeptierte sie nicht nur die schwere Bürde der Verantwortung, sondern war regelrecht glücklich, denn nun gab es endlich jemanden, mit dem sie ihren Kummer teilen konnte. Mein Vater teilte wiederum seine Sorgen mit ihr, und so fühlte sie sich endlich nicht mehr einsam. Dank ihrer selbstlosen Hingabe und ihrer liebevollen Fürsorge wuchs ich stets mit dem Gefühl auf, vollkommen sicher und behütet zu sein. Ich fühlte mich einfach geborgen und war glücklich. Viele Jahre später, kurz bevor sie im Alter von 83 Jahren verstarb, unterhielten wir uns einmal über das hart erkämpfte Recht der Frauen in der modernen Zeit, sich selbst die Partner aussuchen zu können. Ich fragte sie, ob sie sich heute, da sie jetzt die freie Wahl hätte, auch für Vater entscheiden und ihn wieder heiraten würde. Daraufhin lächelte sie mich an und schwieg. Einige Tage später antwortete sie mir dann doch noch ganz unvermittelt: „Ja, ich würde ihn wieder heiraten. Mag sein, dass er nicht der geborene Familienmensch ist, aber er ist ein Mann von Ehre. Und er war stets ein sanftmütiger und aufrichtiger Mensch.“
Als wir von Tianjin wieder nach Nanking umgezogen waren, mieteten wir zunächst ein kleines, relativ neues Haus in der Fuhou-Gang-Straße, benannt nach dem einstigen Wachturm der Kaiserin Fu. Dahinter erstreckte sich weithin Brachland bis zum Xuanwu-See. Unserem Haus gegenüber lag ein großes Grundstück, auf dem viele hochgewachsene Japanische Pagodenbäume standen. Im Frühsommer trugen diese eine Fülle von kleinen, duftenden Blüten, die wie hellgelbe Perlen aussahen, welche man auf lange Schnüre gezogen hatte. Schauten wir aus unserem Fenster, so schien es, als würden Wolken aus Perlen die imposanten Bäume umschweben. Ich liebte diese Blüten genauso wie die Pfingstrosen, denn ihr Anblick und ihr Duft lösten in mir immer sofort das größte Glücksgefühl aus, das ich kenne – das Gefühl des „Zuhauseseins“. Jeden Morgen lief ich von meinem neuen Zuhause aus, gemeinsam mit meiner Klassenkameradin Duan Yonglan und ihrem Cousin Liu Zhaotian, neben den Schienen der gerade erst fertiggestellten Südchinesischen Jiangnan-Eisenbahnlinie entlang, bis zur Trommelturm-Grundschule. Links und rechts des Weges blühten überall der Löwenzahn und viele andere bunte Wildblümchen.
Kurz nach Beginn der Sommerferien wurde meine Schwester geboren. Aus Sehnsucht nach unserer Heimat in der Provinz Liaoning gab Vater ihr den Namen Ningyuan, was so viel wie „Tochter von Liaoning“ bedeutet. Sie war ein gesunder, fröhlicher und nicht gerade magerer Säugling. Tagsüber war sie immer gut gelaunt, aber nachts weinte sie sehr oft, und vor allem weinte sie wirklich sehr laut. Mutter musste dann immer schnell aufstehen, sie auf den Arm nehmen und ins Nebenzimmer gehen, damit unser Vater nicht im Schlaf gestört wurde. Unser neues Kindermädchen, Frau Li, wollte gern behilflich sein und bat ihren Bekannten, ein daoistisches „Edikt des Himmelsvaters“ zu kalligrafieren, das in ihrer Heimat Fengyang in der Provinz Anhui als schnell wirkendes Wundermittel gegen unruhige oder schreiende Kleinkinder galt. Der „Zauberspruch“ lautete:
Allmächtiger Gebieter des Himmels,
Oh, Schöpfer der Erde von unendlicher Macht,
In unserem Heim ein Kindelein,
Das weinet bitterlich die ganze Nacht.
Dreimal so sprechet, oh ihr Edlen,
Ihr Passanten, dieses Wunschgebet,
Alsbald so schlafe ein, bis hell erstrahlend
die Morgensonne sich erhebt!30
Mein Bruder erhielt daraufhin von ihr die Anweisung, den Zettel mit der Kalligrafie an einen Laternenpfahl in einer belebten Straße zu kleben, als er am nächsten Morgen zur Schule ging. Neugierig, wie wir waren, und da wir jeden Tag an dem Zettel vorbeigehen mussten, versteckten wir uns natürlich jedes Mal für eine Weile in unmittelbarer Nähe und warteten voller Spannung darauf, ob wirklich jemand davor stehen bleiben und das Edikt dreimal rezitieren würde. Wir hatten ziemlich große Angst, dabei von Vater erwischt zu werden, denn wir wussten genau, dass er dann wütend werden würde. Unser Vater hatte immer betont, dass eines der Ziele, die es im Zuge seiner Arbeit für die Nationalregierung hauptsächlich zu erreichen galt, darin bestand, das Land vom weitverbreiteten Phänomen des Aberglaubens sowie obskuren Sitten und Gebräuchen zu befreien.
Ich war neun Jahre alt, als ich die Trommelturm-Grundschule in Nanking besuchte. Die Stadt war erfüllt von einem neuen Geist, denn unsere Regierung hatte inzwischen die „Bewegung für ein Neues Leben“ eingeführt, um die chinesische Gesellschaft von ihrer Rückständigkeit zu befreien und in eine zeitgemäße Zivilgesellschaft umzuwandeln. Sämtliche Schüler der Grund- und Volksschulen wurden mobilisiert, um die auf Papierstreifen gedruckten Leitsätze in der ganzen Stadt anzubringen. Quasi über Nacht schienen Nankings Straßen mit farbigen Spruchbändern geschmückt worden zu sein und von überall her sprangen einen die zahlreichen Parolen an, etwa „Spucken verboten!“ oder „Reißt euch zusammen und strebt vorwärts!“ Aus heutiger Sicht betrachtet klingen solche Aufforderungen absurd und lächerlich. Niemand würde so etwas heutzutage noch öffentlich plakatieren, aber ich erinnere mich noch gut daran, als wir nach Taiwan kamen, da erschien das Ziel, der Bevölkerung das „Auf-die-Straße-Spucken“ abzugewöhnen, noch in sehr weiter Ferne zu liegen. Auch damals noch waren Parolen wie „Sei fleißig und sparsam!“, „Finger weg vom Alkohol!“, „Glücksspiel verboten!“ und „Nieder mit dem Aberglauben“ allgegenwärtig. Und derer gab es noch viele mehr.
Zwischen 1928 und 1937 war China, mit Nanking als Hauptstadt, noch voller Hoffnung. Überall wurde gebaut und Neues errichtet, denn der Erneuerungsprozess war in vollem Gange. Für viele Menschen war diese Epoche das „Goldene Jahrzehnt“ der Moderne und ging deshalb als Glanzpunkt in die Geschichte der Republik ein. Laut offiziellem japanischem Archivmaterial, welches in späteren Jahren veröffentlicht wurde, war die gesamte japanische Militärführung der Ansicht, dass man den Krieg gegen China sofort beginnen müsse, bevor es wieder zu alter Stärke gelangt, ansonsten gäbe es keine Aussicht mehr auf einen Sieg und somit wäre das ganze Unterfangen obsolet.
8 - Löschkalk und Tod
Im Sommer 1934 wurde ich plötzlich sehr krank. Ich hatte schon seit frühester Kindheit immerzu Probleme mit den Atemwegen. In jenen Sommerferien erkrankte ich gleich zweimal lebensgefährlich an einer Lungenentzündung. Meine Eltern waren überaus besorgt und der Arzt hatte ihnen daraufhin geraten: „In ihrem Zustand ist das trockene Klima des Nordens wesentlich zuträglicher für ihre Tochter, wenn die Lungen sich wieder erholen sollen.“ Als meine Großmutter, die damals noch in Peking lebte, von meiner Krankheit und dem Rat des Arztes erfuhr, schrieb sie umgehend: „Schickt das Kind nach Peking. Sie kann hier bei mir bleiben.“ Da sie ebenfalls gesundheitlich angeschlagen war, musste sie seit einiger Zeit regelmäßig in das von deutschen Ärzten betriebene „Deutsche Hospital“ gehen, wo sie dank Vaters Beziehungen behandelt wurde.
Ich erinnere mich daran, dass mein Vater und ich mit der staatlichen Jinpu-Bahn nach Peking fuhren, und ich hatte keinen blassen Schimmer, weshalb wir diese Reise unternahmen. Doch allein der Umstand, dass mein Vater mit mir zusammen reiste, machte mich überglücklich. Die Bahnfahrt dauerte zwei Tage und zwei Nächte. Es war der zweite Tag und unser Zug befand sich gerade auf der langen Luokou- Eisenbahnbrücke, welche über den Gelben Fluss führt, als ich zum ersten Mal in meinem Leben im Speisewagen eine Mahlzeit einnehmen durfte. Vater hatte das Beefsteak für mich in kleine Häppchen zerlegt und zeigte mir, wie man mit Messer und Gabel umging. Alles erschien mir so aufregend, als der Zug über die endlos scheinende Stahlbrücke fuhr und das gleichmäßige Rumpeln der Räder in meinen Ohren dröhnte. Und es war auch das erste Mal in meinem Leben, dass ich meinem Vater während einer Mahlzeit gegenübersaß. Ich erinnere mich, dass sich in mir ein unglaubliches Wonnegefühl ausbreitete. Ja, in diesem Augenblick war ich einfach nur glücklich!
Nachdem ich von einem Arzt im Deutschen Hospital in Peking untersucht worden war, nahm dieser meinen Vater zur Seite und sagte: „Der Zustand ihres Kindes ist sehr ernst, und sollte die Krankheit weiter fortschreiten, dann können wir für nichts mehr garantieren. Sie werden sie sehr wahrscheinlich verlieren.“ Die beste Chance für eine Genesung sah er in der Behandlung durch Spezialisten einer Heilanstalt. Daher empfahl er meinem Vater, mich in das von Deutschen und Chinesen gemeinsam geführte Westberg-Sanatorium 20 Kilometer außerhalb von Peking zu bringen. Dort sei ich bestens aufgehoben, versprach er. Meinem Vater blieb nichts übrig, als dem Arzt zu vertrauen, obwohl es ihm gar nicht gefiel, mich irgendwo allein zu lassen. Also nahm er mich bei der Hand und fuhr mit mir zum Sanatorium am Fuße des Westbergs von Peking. Das Sanatorium wurde nach westlichem Standard geführt. Jeder Patient wurde in einem Einzelzimmer untergebracht, und so bekam auch ich ein eigenes Zimmer, obwohl ich dort das einzige Kind war. Ich hatte noch nie in meinem Leben eine Nacht allein verbracht und bekam schreckliche Angst. Ein ganzes Jahr lang musste ich dort bleiben, und es gab keine einzige Nacht, in der ich mich nicht fürchtete.
Lungentuberkulose war damals eine lebensbedrohliche und nur schwer zu heilende Krankheit. Täglich gab es Todesfälle im Sanatorium, und nachdem man die Leiche hinausgetragen hatte, wurde sofort im ganzen Zimmer Löschkalk ausgestreut, um alles zu desinfizieren. Zuerst verstand ich nicht, was da geschah, doch mit der Zeit kam ich dahinter, dass jedes Mal, wenn der ätzende Kalk ausgestreut wurde, jemand gestorben war. Ich war noch zu jung, um zu begreifen, was Tod tatsächlich bedeutet, dennoch überkam mich stets eine große Traurigkeit, wenn das weiße Pulver gestreut wurde – immer fing ich an zu weinen. Im Sanatorium gab es einen Küchenhelfer, der auch dafür zuständig war, den Patienten die Mahlzeiten zu bringen. Alle dort nannten ihn einfach nur den alten Wang, aber für mich war er der Tröster in der Not. Der alte Wang war mitten in seinen Dreißiger-Jahren, also noch gar nicht wirklich alt, und von stämmiger, fast rundlicher Statur. Mir gegenüber zeigte er sich immer besonders fürsorglich, da er selbst eine Tochter in meinem Alter hatte, deshalb nannte er mich gern „Töchterchen“. Jedes Mal, wenn er mich mit tränennassen Augen sah, sagte er sofort: „Nicht weinen, Töchterchen, ich koche dir gleich einen schönen Erdapfel!“ Schon als kleines Kind waren Kartoffeln meine Lieblingsspeise, und sie sind es bis heute geblieben. Wenn ich mit guten Freunden zum Essen ausgehe und jemand hat eine schöne, runde gekochte Kartoffel auf seinem Teller, dann wird sie immer gleich an mich weitergereicht. So sehr ich mich über diese köstliche Gabe freue, so sehr erinnert sie mich auch jedes Mal an meine Kindheitserlebnisse im Westberg, und dann überkommt mich nach wie vor diese dustere Traurigkeit.