Kitabı oku: «Der Mächtige Strom», sayfa 6
Jeden Samstag kam meine Großmutter, die damals schon über 60 Jahre alt war, mich besuchen, und wie es traditionell in Peking noch üblich war, reiste sie in einer von zwei Männern getragenen Sänfte an. Wenn dann der Moment kam, da sie wieder nach Hause aufbrach, weinte ich bitterlich und wollte ihr hinterherlaufen. Doch es war mir strengstens untersagt, das Bett zu verlassen, und so wurde ich festgehalten. Verzweifelt rief ich ihr nach: „Ich will mit dir gehen! Bitte nimm mich mit nach Hause!“ So saß ich ins Bett gezwungen und heulte und heulte. Meine Großmutter konnte mein Heulen bis nach draußen hören, wo die Sänfte für sie bereitstand, doch so sehr sie es sich selbst auch wünschte, sie durfte mich nicht mitnehmen. Eines Tages, als es wieder Zeit war, Abschied zu nehmen, da konnte auch sie ihre Tränen nicht mehr unterdrücken. Und als sie zu weinen begann, da flossen ihre Tränen entlang der tiefen Falten beinahe waagerecht zur Seite. Da begriff ich plötzlich, was mit der alten chinesischen Redewendung tatsächlich gemeint war, die besagte, dass die „Tränen quer durchs Gesicht fließen“.
Im Sanatorium lernte ich eines Tages eine andere Patientin namens Zhang Caiping kennen. Sie war etwa Mitte 20, und deshalb nannte ich sie immer „Große Schwester Zhang“. Der alte Wang meinte, dass der Liebeskummer sie krank gemacht hätte. Sie zeigte großes Interesse an mir, weil sie fand, dass ich ein kluges Mädchen sei, denn ich verstand alles, was sie mir erzählte, und sie vertraute mir des Öfteren sehr persönliche Gedanken an. Ich mochte sie wirklich sehr gerne, und manchmal ließ sie mich sogar heimlich in ihr Zimmer, was eigentlich verboten war, wegen der Ansteckungsgefahr. Sie besaß eine umfangreiche Sammlung moderner Literatur aus den Dreißigerjahren und die meisten Bände waren chinesische Übersetzungen westlicher Werke. Sie erlaubte mir, ihre Bücher zu lesen, und ich verschlang diese geradezu. Am meisten faszinierte mich der von Lin Qinnan übersetzte Roman „Die Kameliendame“. Der Stil und die Sprache des Romans gefielen mir ausgesprochen gut, und so bereitete mir die Lektüre große Freude, auch wenn ich nicht immer alles ganz genau verstand, was da in den Herzen und Köpfen der Erwachsenen vorging.
Eines Nachmittags sah ich, wie jemand Kalkpulver in Schwester Zhangs Zimmer ausstreute. Mir schwante Schreckliches, doch ich mochte es mir nicht eingestehen. Ich lief zum alten Wang und fragte ihn nach dem Grund. Ich hoffte so sehr, dass es sich als Missverständnis herausstellen würde, doch er sah mich nur mit traurigen Augen an und antwortete: „Ach Töchterchen, ich geh und koch dir ein paar Erdäpfel.“ Bis heute erinnere ich mich so deutlich an diesen Moment, dass mir noch jedes einzelne Detail klar vor Augen steht. Obwohl ich noch nicht genau definieren konnte, was „Tod“ bedeutet, war mir sofort klar, dass meine Freundin tot war, und ich spürte diesen eisigen Hauch des Endgültigen. Zum ersten Mal in meinem Leben betraf mich der Tod eines Menschen ganz persönlich, denn sie hatten den Löschkalk im Zimmer meiner Freundin gestreut.
Ich war vollkommen erschüttert und zutiefst verzweifelt über den Verlust meiner Freundin. Meine Großmutter muss sehr unter meiner Dünnhäutigkeit gelitten haben, denn ich konnte tagelang nicht mehr aufhören zu weinen. Mein ganzes Leben lang habe ich sehr oft an meine geliebte Großmutter gedacht, der ich auf ewig zu Dank verpflichtet bin, denn sie war es, die von meiner Geburt an bis ins hohe Alter eine schützende Hand über mich gehalten und sich immer verlässlich um mich gekümmert hat. Irgendwann später, als wir bereits etliche Jahre auf der Flucht von Nanking nach Chongqing kreuz und quer durchs Land gezogen waren, erhielten wir nach unserer Ankunft die verspätete Nachricht von ihrem Tod. Ich konnte es einfach nicht fassen, dass der Körper, der mich in bitterkalten Winternächten immer warm gehalten hatte, nun selbst erkaltet sein sollte.
Als meine Eltern in ihren Siebzigern waren, zogen sie nach Neihu (Binnensee), einem Stadtteil von Taipei. Durch seine Lage in einer Gebirgssenke waren im Laufe der Zeit natürliche Seen entstanden, welche „Binnensee“ zu einer der schönsten Wohngegenden von Taipei machten. Mit ihrem Umzug begann eine Phase, da wir uns sehr regelmäßig sahen und viel miteinander sprachen. Wir verbrachten eine überaus schöne Zeit zusammen, und vielleicht waren es sogar unsere glücklichsten gemeinsamen Tage. Niemals zuvor waren Vater und ich uns so nahe gekommen. Eines Tages begleitete er mich nach dem Abendessen zur Bushaltestelle am See. Während wir gemeinsam dort saßen und auf den Bus warteten, erzählte ich ihm von meiner Zeit im Westberg-Sanatorium und welche Nachwirkungen der dortige Aufenthalt für mich hatte. Ich war furchtsam geworden und hatte seither große Angst vor der Dunkelheit. Diese Angst begleitet mich noch bis heute. „Es war grausam von euch, mich in das Sanatorium auf diesem gottverlassenen Berg zu bringen und dort mutterseelenallein zurückzulassen.“ Vater seufzte tief und sagte: „Ach Kind, in jener Zeit wusste man einfach zu wenig über Kinderpsychologie, und ich war so viele Jahre lang bis über beide Ohren mit der Revolution beschäftigt. Wir lebten doch alle in ständiger Lebensgefahr und dachten über vieles einfach nicht mehr nach. Ich ahnte nicht einmal, dass ein Kindskopf so kompliziert sein könnte. Dein Aufenthalt im Sanatorium hat mich ein Drittel meines Monatsgehalts gekostet, und ich hoffte einfach nur, dass du wieder gesund werden würdest. Alle unsere Verwandten und Freunde meinten deshalb, dass ich ein guter Vater sei.“ So saßen wir beide eine ganze Weile schweigend nebeneinander und wussten einfach nichts mehr zu sagen. Erst das laute Brummen des Busses schreckte uns aus unseren Gedanken. Meine Worte hatten Vater sichtlich überrascht, und ich bin mir sicher, dass er sich selbst daraufhin die Frage gestellt hat: „Hätte ich damals schon davon gewusst, was hätte ich dann anders gemacht?“ Ich war mir jedoch sehr bewusst, dass es ein großes Glück für mich bedeutete, solche Eltern zu haben, die mich liebevoll aufgezogen und die sich mit allen Kräften und in jeder Minute bemüht hatten, mir auf dieser Welt ein gutes Leben zu ermöglichen!
Das Sanatorium war nicht darauf eingestellt, Kinder zu betreuen, daher gab es für mich kaum Alternativen, die Langeweile zu vertreiben. Die einzige Möglichkeit der Beschäftigung während meines einjährigen Aufenthaltes war das Lesen von Büchern. Ich las sehr, sehr viele Bücher, und mit der Zeit wurde aus einer Verlegenheitsbeschäftigung allmählich eine Art Hobby, nein mehr noch, das Lesen entwickelte sich für mich sogar zu einer Leidenschaft, der ich zeitlebens nachgehen würde. Oh ja, je mehr ich las, desto stärker schien diese unsichtbare Kraft zu werden, mit der mich Bücher wie ein Magnet anzogen. Manchmal, wenn ich an diese Zeit zurückdenke und mir auch wieder meiner tief verwurzelten Verbundenheit zum gedruckten Wort bewusst werde, dann denke ich, dass es beinahe wie eine göttliche Fügung des Schicksals war: Aus dem kurzen „Unglück“ des Aufenthaltes in diesem fürchterlichen Sanatorium wurde die Freude meines Lebens!
Ich erinnere mich noch daran, dass ich kurz nach meiner Entlassung aus dem Westberg-Sanatorium eine chinesische Ausgabe von Adam Smiths „Der Wohlstand der Nationen: Eine Untersuchung seines Wesens und seiner Ursachen“ entdeckte. Ich fand dieses umfangreiche Werk im Bücherregal eines Onkels, der gerade aus dem Ausland zurückgekehrt war, und verschlang es geradezu, ohne wirklich zu begreifen, was ich da las. Dennoch bereitete mir die Lektüre große Freude und ich fühlte mich einfach unheimlich wohl dabei. Ich las so ziemlich alles, was mir zwischen die Finger kam, denn das Lesen stillte meine ungeheure Neugier auf das Leben und die Welt. Natürlich las ich auch Kinderbücher und ich liebte die Zahlenbilder, die es im Our Little Friends gab, einem christlichen Kindermagazin. Ich erinnere mich noch ganz genau daran, dass ich die Zahlen mit Strichen verband und so einen kleinen Hund zeichnete. Und noch mehr Spaß machte es mir, diese Zahlenbilder dann noch mit bunten Farben auszumalen.
Nach einem Jahr erklärten die Ärzte mich als geheilt. Vater kam am Tag meiner Entlassung und brachte mich zurück nach Nanking. Inzwischen war meine kleine Schwester schon fast zwei Jahre alt. Auch freute ich mich sehr darüber, dass ich zunächst wieder in meine alte Schule am Trommelturm gehen sollte. Ich würde endlich meine Freunde und Mitschüler wiedersehen und wäre mit gleichaltrigen Kindern zusammen. Doch als ich zur Schule kam, bemerkte ich, dass niemand mehr mit mir spielen wollte. Nicht einmal die zierliche, bildhübsche Wanfang, die vor meiner Erkrankung meine beste Freundin und eigentlich immer sehr nett gewesen war, wollte noch in meiner Nähe sein. Als ich sie darauf ansprach, sagte sie mir rundheraus: „Meine Mutter hat mir verboten, mit dir zu spielen.“ Ich wusste einfach nicht, was ich falsch gemacht hatte, und war deswegen unendlich traurig. Erst nach einer ganzen Weile kam ich dahinter, dass die Eltern einiger Mitschüler durch Zufall von meiner Tuberkulose-Erkrankung und meinem Aufenthalt im Sanatorium erfahren hatten. Da verstand ich endlich, dass sie ihren Kindern nur aus Angst vor einer Ansteckung jeglichen Kontakt mit mir verboten hatten.
Kurz darauf mussten wir erneut umziehen und ich war nicht wirklich traurig darüber. Dieses Mal zogen wir in eine neue Siedlung in der Ninghai-Straße. Ich wurde in der Shanxilu-Volksschule angemeldet, welche in unmittelbarer Nachbarschaft lag, und dort fand ich sogar recht schnell Anschluss unter den Mitschülern. Da ich von einer anderen Schule kam, bestanden meine Kontakte zumeist aus anderen Quereinsteigern und den Sitzengebliebenen, denn irgendwie gehörten wir nun alle einer Randgruppe im sozialen Gefüge dieser Schule an, deshalb fühlten wir uns von Anfang an miteinander verbunden. Da ich inzwischen sehr gute Aufsätze schreiben konnte, waren auch die Lehrer besonders freundlich zu mir, und ich bekam ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit von ihnen. Gesundheitlich ging es bei mir auch stetig bergauf und so verbrachte ich den Rest meiner Grundschulzeit bis zum Abschluss tatsächlich sehr unbeschwert und sorglos. Denke ich an dieses letzte Jahr in der Volksschule zurück, so habe ich sehr viele schöne Erinnerungen, an denen ich mich bis heute noch erfreuen kann.
9 - Mutter und ihre Landsleute
Nachdem Marschall Zhang Zuolin, auch als „Tiger der Mandschurei“ geehrt, im Juni 1928 durch ein Bombenattentat der japanischen Kwantung-Armee ums Leben gekommen war, schien das Land führerlos zu sein. Sein Sohn und Nachfolger, Zhang Xueliang, traf eine Vereinbarung mit der Nationalregierung in Nanking, worin er sein Einverständnis erklärte, am Neujahrestag des Jahres 1929 die Flagge der Republik zu hissen. Mit diesem offiziellen Akt unterstellte er die Mandschurei der Hoheitsgewalt der chinesischen Nationalregierung. Der Nordfeldzug der KMT unter Chiang Kai-Shek hatte somit sein Ziel erreicht und China war wieder eine geeinte Nation.
Im Herbst jenes Jahres fanden im ganzen Land die Aufnahmeprüfungen für den achten Jahrgang der Huangpu-Militärakademie statt, die im Anschluss an ihren Umzug von Guangzhou in die neue Hauptstadt Nanking umbenannt worden und seither „Zentrale Militärakademie“ (CMA) hieß. Die Parteizentrale der KMT bat meinen Vater um seine Mithilfe bei der Anwerbung von Kadetten aus der Mandschurei. Während eines Treffens mit Chiang Kai-Shek, der damals der Vorsitzende der Militärkommission war, unterbreitete mein Vater ihm den Vorschlag, an die hundert Kandidaten aus dem Nordosten aufzunehmen, die die erste Stufe der Ausleseprüfung bestanden hatten. So, argumentierte er, könnte die Saat der Revolution flächendeckend in der Mandschurei ausgebracht werden. Wo früher nur regionalen Interessen nachgegangen wurde, könnte auf diese Weise künftig eine neue Generation von jungen Menschen mit einem nationalen Selbstverständnis und einer zeitgemäßen militärischen Ausbildung heranwachsen, die eine stärkere und dauerhaftere Bindung an die Nationalregierung besäße. Dem Vorschlag wurde stattgegeben und mein Vater wurde von Zhang Zhizhong, dem ersten Kommandanten der Akademie, mit der Aufgabe betraut, in den folgenden vier Jahren dafür zu sorgen, dass jeweils hundert Kadetten aus der Mandschurei in die Militärakademie aufgenommen werden konnten. Nach dem Mukden-Zwischenfall 1931 stammte annähernd ein Viertel aller CMA-Kadetten aus der Mandschurei. Diese jungen Menschen, deren Heimat von den Japanern besetzt worden war, wurden nach ihrer abgeschlossenen Ausbildung in allen Bereichen des Militärs eingesetzt und sollten sich später im Krieg gegen Japan als entscheidende Kräfte an allen Fronten erweisen, da sie mit größter Entschlossenheit für China kämpften. Das bedeutete jedoch auch, dass nur wenige von ihnen nach dem Krieg ihre Heimat wiedersahen.
Neben den Offiziersanwärtern der Militärakademie erhielten jedes Jahr auch noch 20 bis 30 Absolventen von Mittelschulen in meiner Heimat einen Ausbildungsplatz an der Zentralen Polizeiakademie oder der Zentralen Politischen Hochschule in Nanking. Letztere wurde anlässlich ihrer Neugründung auf Taiwan in National Chengchi-Universität umbenannt. Während die Hochschule ihren Sitz in Nanking hatte, galt sie als „Kaderschmiede“ und erwies sich als unentbehrliche Quelle an hochrangigen Führungskräften während des Antijapanischen Kriegs und stellte auch noch in der Zeit danach einen großen Teil der Regierungselite. Diese Studenten waren auch der Grund, warum wir von der Fuhou-Gang-Straße in das größere Haus in der Ninghai-Straße umgezogen waren, denn in regelmäßigen Abständen mussten wir etliche von ihnen für eine Weile bei uns zu Hause aufnehmen, bis sie eine eigene Bleibe gefunden hatten. Unser neues Heim war ein beigefarbener Neubau mit zwei Etagen und einem großen Garten. Meine Mutter legte dort einige Etagenbeete an, die sie mit allen erdenklichen Blumen und Gräsern bepflanzte. Es sah wunderschön aus. Das Schlafzimmer unserer Eltern lag im oberen Stockwerk, und von ihrem Fenster aus, welches nach Osten ging, konnten wir den Purpur-Berg sehen, die höchste Erhebung im Umland von Nanking. Am Nordhang des Berges lag das Grabmal von Doktor Sun Yat-Sen, dem Begründer des modernen China. Je nach Art und Farbe der Wolken über dem Purpurnen Berg konnten wir das Wetter mit ziemlicher Genauigkeit voraussagen. Ein weiterer Grund für unseren Umzug in das größere Haus lag darin, dass mein Vater häufig Gäste zu sich nach Hause einlud, und ebenso häufig übernachteten diese dann auch bei uns. Ausschlaggebend war jedoch die erneute Schwangerschaft meiner Mutter gewesen. Für mich war das der schönste Grund: Die Geburt meiner zweiten, der jüngsten Schwester Xingyuan. Für meine Mutter zählten diese Jahre zu den schönsten in ihrem Leben, denn nun war sie schließlich, nach mehr als einem Dutzend Ehejahren, doch noch selbst zur Herrin des eigenen Hauses geworden.
Jedes Wochenende luden meine Eltern grüppchenweise Studenten aus der Heimat zu uns nach Hause ein. Es zählte zu den Aufgaben meines Vaters, sich um die jungen Leute zu kümmern, die nun so weit weg von zu Hause in Nanking lebten. Mutter liebte es, ihre Landsleute mit all den köstlichen Mehlspeisen zu bewirten, die sie nach traditionell nordchinesischer Art anfertigte. Sie genoss es ganz unverhohlen, sich von diesem allgemeinen Gefühl der Nostalgie tragen zu lassen, denn es half ihr, die eigene Sehnsucht nach der Heimat für eine Weile zu stillen, und jeder dieser jungen Gäste war für sie wie ein Teil der Familie. Wie gern lauschte sie auch nach dem Essen den unterschiedlichen Erzählungen aus der Heimat, die von den Jahreszeiten in der Mandschurei, den Familien unserer Gäste und der mühseligen Arbeit auf den fruchtbaren Feldern handelten.
Nachdem wir in die Ninghai-Straße umgezogen waren, entdeckte Mutter, dass unser geräumiger Hinterhof auch tagsüber schattig und kühl war. Dort, wo es am kältesten war, stellte sie Tongefäße in allen möglichen Größen auf und begann, in großen Mengen gegorenen Chinakohl herzustellen. Von Bekannten ließ sie sich auch einen großen kupfernen Feuertopf aus Peking mitbringen. In den Jahren vor dem Ausbruch des Sino-Japanischen Krieges hat der Feuertopf mit Bauchfleisch und Sauerkohl der Familie Chi mehr heimwehkranke Herzen aus dem Nordosten Chinas erwärmt, als ich zu zählen vermochte! Meine Mutter war der Ansicht, dass Sojabohnenpaste aus der Mandschurei eine Delikatesse und die beste überhaupt sei. Um sie herzustellen, musste man die Bohnen jedoch verschimmeln lassen, und das war wirklich kein schöner Anblick. „Was ist denn das für gammeliges Zeug?“, fragte eines Tages Vater meine Mutter. „Das wird die beste Sojabohnenpaste der Welt“, antwortete Mutter voller Stolz, „und ich mache sie ja hier im Hof, wo es niemand sehen kann.“ Vater mochte es überhaupt nicht leiden und verbot daher, dass in seinem Haus so etwas Ekelhaftes hergestellt würde. Mutter wiederum wollte es sich nicht gefallen lassen, dass man ihr als Herrin über Haus und Herd dazwischenfunkte, doch sie ließ ihn einfach reden. Als am darauffolgenden Wochenende wieder eine Gruppe von Kadetten zu Besuch kam, servierte Mutter ihnen Zwerggurken mit Bohnenpaste und dazu noch Feuertopf mit Bauchfleisch und Sauerkohl. Während die jungen Männer beim Essen saßen, bekamen einige von ihnen regelrecht feuchte Augen und seufzten wehmütig. Und plötzlich bekamen wir alle eine so große Sehnsucht nach der Heimat. Heimat, ja das war ein Ort, an den diese jungen Männer nicht mehr zurückkehren konnten. Was konnte mein Vater da noch gegen ein paar schimmlige Bohnen sagen?
Als die chinesischen Kommunisten 1958 begannen, zwei Inseln vor Taiwan, Jinmen (Quemoy) und Matsu, massiv zu bombardieren, eilte mein Vater mit einigen Parlamentsabgeordneten an den Kriegsschauplatz. Der Befehlshaber von Jinmen, General Wang Duonian, war ein Absolvent des zehnten Jahrgangs der CMA und einer der jungen Männer, die regelmäßig bei uns zum Feuertopf-Essen eingeladen gewesen waren. Während um sie herum die Granaten einschlugen, schwärmte er meinem Vater gegenüber voller Begeisterung von Mutters heimatlichen Leckerbissen, an die er sich zeitlebens erinnern würde.
Gegen Ende des Jahres 1937, als wir uns noch auf unserem eigenen leidvollen langen Marsch von Nanking nach Chongqing befanden, trafen wir einige junge Offiziere, die ebenfalls bei uns zu Gast gewesen waren. Sie alle bemühten sich sehr um uns, soweit es ihnen möglich war, und versuchten uns das Leben etwas angenehmer zu machen. Es war ihrerseits vor allem ein Zeichen großer Dankbarkeit meiner Mutter gegenüber. Viele Jahre später, auf dem Begräbnis meiner Mutter, ließ es sich Botschafter a. D. Zhao Jinyong nicht nehmen, ihr zu Ehren eine Rede zu halten. Er erzählte von seiner Studentenzeit an der Zentralen Politischen Hochschule in Nanking und bedankte sich bei meiner Mutter für ihre Großzügigkeit und Fürsorge, denn sie hatte ihm bei jedem Besuch ein kleines Taschengeld zugesteckt, nachdem der Kontakt zu seiner eigenen Familie aufgrund des Krieges abgebrochen war.
In jenem Jahr, als wir in der Ninghai-Straße ansässig waren, kam uns mein Großvater endlich wieder einmal besuchen. Als er sah, dass seine Lieblingstochter ihre Trauer überwunden hatte und in bester Stimmung geschäftig zwischen den Blumen im vorderen Garten und den Tontöpfen im Hinterhof herumwuselte, da fiel ihm ein Stein vom Herzen und er wusste, dass er sich um sie keine Sorgen mehr machen musste. Zwei Jahre später verstarb er friedlich, ohne Bedauern und ruhigen Gewissens.
Ihren eigenen Haushalt zu führen machte Mutter wirklich glücklich! So konnte ich häufig ihr leises Summen hören, wenn sie mit irgendeiner Arbeit beschäftigt war. In der Regel gelang es mir nicht herauszuhören, welche Lieder sie gerade vor sich hin summte, doch wenn sie meine jüngste Schwester in den Armen hielt, dann sang sie mit leiser klarer Stimme, dann konnte ich jedes einzelne Wort verstehen. Es war das Lied von „Su Wu, dem Schäfer vom Baikalsee“. Die letzte Strophe sang sie mit besonders viel Gefühl: „… Aufrecht saß er dort in rauer Kälte. Die Einsamkeit am westlichen Ende jener Großen Mauer, durchbrochen nur vom Klang der Zither. Sein Herz – es ward getroffen, schubweise von der Tartaren Musik – der Schmerz wie ein Peitschenhieb.“
Diese Strophe wiederholte sie immer und immer wieder, bis meine kleine Schwester eingeschlafen war. Dann legte sie das Kind in die Wiege und saß noch eine ganze Weile allein in der sich ausbreitenden Stille.
Mehr als ein Jahrzehnt später, nach dem Sieg über Japan, fuhr meine Mutter zurück in die Heimat, wo sie die Gräber ihrer Eltern besuchte, um ihnen Respekt zu erweisen und sich zu verabschieden. Danach blieb sie noch einige Tage auf unserem Gutshof, wo sie einst zehn lange Jahre auf ihren Ehemann gewartet hatte, bevor sie hatte flüchten müssen. Und nach diesem Besuch war sie wieder auf der Flucht, nur sollte der Weg sie dieses Mal viel weiter von der Heimat wegführen als je zuvor – bis nach Taiwan. Nun, 20 Jahre danach in Mittel-Taiwan, saß sie an der Wiege meines Sohnes und sang flüsternd erneut das Lied von „Su Wu, dem Schäfer vom Baikalsee“. Ja, der gute Su Wu lebte nach all den Jahren in ihrer Vorstellung noch immer am Baikalsee, allein in jenem fremden Land und voller Wehmut. In Wirklichkeit hatte Su Wu nach 19 Jahren im Exil wieder in seine Heimat, das damalige Han-China, zurückkehren dürfen. Während der 38 Jahre, die meine Mutter auf der Insel Taiwan lebte, bis wir sie in der Nähe der Hafenstadt Danshui an einem Berghang begruben, hatte sie ihre Heimat jedoch niemals wiedergesehen.
10 - Eine ganze Nation auf der Flucht
Die Gründung der staatlich geführten Nordöstlichen Zhongshan-Oberschule war für meinen Vater die Erfüllung seiner Berufung. Als er 1932 unter Lebensgefahr in die Mandschurei zurückgekehrt war, befanden sich die Untergrundmilizen der verschiedenen Widerstandsgruppen und die Freiwilligen-Armee, die jeder für sich gegen die japanischen Aggressoren kämpften, in einer vollkommen aussichtslosen Lage. Seine Kameraden aus den Untergrundorganisationen waren der Ansicht, dass mein Vater nach Nanking gehen sollte, denn dort könne er aufgrund seiner engen Beziehungen zur Parteizentrale der KMT und seiner leitenden Position in der bereits etablierten Nordostchinesischen Gesellschaft mehr für seine Heimat und seine Landsleute tun, als es ihm in dem von Japan besetzten Gebiet jemals möglich sein würde. So machte sich mein Vater schließlich wieder auf den Weg Richtung Süden. Er unterbrach seine Reise für ein paar Wochen, als er in Peking ankam, und gründete kurzerhand die „Hilfsorganisation zur Förderung für Jugendliche aus dem Nordosten“. Diese Einrichtung wurde von freiwilligen Unterstützern und älteren Lehrern betrieben, die ebenfalls aus der Mandschurei stammten und sich nun im Exil befanden. Sie alle hatten nicht mehr unter der japanischen Herrschaft zu leben vermocht, und zugleich fühlten sie sich ihrem eigenen Kulturkreis so stark verbunden, dass es ihnen eine Herzensangelegenheit war, die jugendlichen Flüchtlinge aufzunehmen und sich um sie zu kümmern. Es waren ihrer so viele, und die meisten von ihnen hatten weder Freunde noch Verwandte vor Ort, an die sie sich hätten wenden können. Überall in der Stadt sah man mittellose Jugendliche ziellos umherwandern, ausgezehrt, oft verlumpt. Als der Winter kam, errichtete die Hilfsorganisation Zeltlager für diese Heimatlosen, verteilte Lebensmittel sowie andere notwendige Alltagsgegenstände und stellte auf diese Weise zumindest die existenzielle Grundversorgung sicher. Sie waren ja eigentlich noch Kinder, und vollkommen hilflos.
Beim großen Neujahrstreffen der Nationalregierung in Nanking lernte mein Vater 1934 den Staatssekretär des Verkehrsministeriums, Peng Xuepei (1896–1948), kennen. Er wusste, dass dieser aus dem Norden Chinas stammte, und so gelang es ihm mit ein wenig Überredungskunst, Peng für sein Vorhaben zu gewinnen. Der Staatssekretär bewilligte ihm umgehend 50.000 Silbertaler. Mit diesem Startkapital, über das er sofort verfügen konnte, machte sich mein Vater augenblicklich an die Arbeit und kontaktierte seine Freunde in Peking. Angesteckt von seiner Begeisterung begannen sie eilends mit der Organisation und suchten zuerst einmal nach geeigneten Räumlichkeiten. Nach einigem Hin und Her bewilligte die Stadtverwaltung übergangsweise einige Räumlichkeiten im Kloster des Baoguo Tempels, dem Shuntianer Verwaltungsgebäude und der ehemaligen Polizeiakademie. Somit konnte binnen kürzester Zeit die Gründung der Nordöstlichen Zhongshan-Oberschule erfolgen, die auch als „Nationale Doktor Sun Yat-Sen Oberschule“ bekannt wurde, da sie die erste staatliche Oberschule Chinas schlechthin war. Die Schule war in Unter- und Oberstufe unterteilt, die etwa 2000 Exilschüler aufnehmen konnten. Am 26. März 1934 wurde die neue Schule festlich eingeweiht, nachdem es meinem Vater gelungen war, das Bildungsministerium davon zu überzeugen, dass es die Aufgabe des Staates sei, die Finanzierung solcher Einrichtungen dauerhaft zu gewährleisten. Für ihn bedeutete dies einen immensen Erfolg, denn er war der festen Überzeugung, dass der freie Zugang zu allgemeiner Bildung eine Grundlage für den Fortbestand der Nation darstellte. Außerdem war es ihm eine Herzensangelegenheit, dass die zahllosen Jugendlichen aus seiner Heimat, die sich auf der Flucht befanden, Hilfe in ihrer Notlage erhielten und auch weiterhin zur Schule gehen konnten. Eine verlorene Generation konnte und durfte China sich nicht leisten!
Li Xi’en, der ehemalige Rektor der Jilin-Universität in der Mandschurei, wurde nun zum ersten Schulleiter ernannt. Li war ein ehemaliger Kommilitone meines Onkels Shichang, hatte gemeinsam mit ihm in Deutschland studiert, daher wusste mein Vater, dass sie die gleichen politischen Ansichten vertraten und betrachtete ihn quasi als eine Art Bruder. Die von ihnen angestellten Lehrer waren fast alle ehemalige Hochschuldozenten, die von der Mandschurei aus nach Peking geflohenen waren. Mein Bruder, der damals die Oberstufe einer anderen Schule in Peking besuchte, bewarb sich dort, sobald Vater ihm davon berichtet hatte. Leider musste er die Aufnahmeprüfung zweimal machen, aber schließlich schaffte er es doch noch, an der neuen Schule aufgenommen zu werden.
Im Herbst 1936 verschlechterte sich die Lage in Nordchina zusehends, Vater spürte die politischen Spannungen eindeutig, wie die Vorboten eines Sturms. Die ganze Region war, so beschrieb er, als befände sie sich „in einem kleinen Haus, auf das gerade ein mächtiger Taifun zuraste, und die ersten starken Windstöße fuhren schon durch alle Räume hindurch, brausend und zischend, wie in den tiefen Schluchten des Gebirges“. Die unverhohlenen Kriegsandrohungen seitens der Japaner und die fortschreitende Infiltration durch die Kommunisten machten eine Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in Peking zunehmend schwieriger. Die Stadt schien ihm als sicherer Standort für die Zhongshan-Schule täglich ungeeigneter zu werden und deren Verlegung nach Nanking die einzige Lösung zu sein. Deshalb kauften mein Vater und andere Mitbegründer der Schule in Banqiao, ungefähr zehn Kilometer südlich von Nanking entfernt, ein Grundstück und begannen dort Schulgebäude und Unterkünfte für die Lehrer zu errichten.
Nachdem die Schule umgezogen war und auch das Lehrpersonal sich halbwegs eingerichtet hatte, begannen die Bauarbeiten erst richtig. Sogar die Schüler mussten mit anpacken – den Boden ebnen, wo einmal der Sportplatz angelegt werden sollte, die Außenmauer um das Schulgelände hochziehen, und auch die Toreinfahrten aus Lehmziegeln verlegen … An der Außenseite der Schulmauer, direkt neben dem Haupteingang, brachten sie ein riesiges Schild an, welches man schon von weitem erkennen konnte. Darauf stand in acht großen Schriftzeichen das Motto der Schule, das aus der „Geschichte der Kämpfenden Reiche“ stammte:
Im Reiche Chu überlebten nur drei Familien, doch sollte es einer der ihren sein, der einst den Tyrannen des Qin-Reiches vernichten würde!
Dieser Leitspruch war mit Bedacht ausgewählt worden, und waren ihre Lebensumstände auch noch so beschwerlich, so war der Wille bei den Lehrern ebenso wie bei den Schülern ungebrochen, denn aufzugeben kam für sie keinesfalls in Betracht. Jeden Morgen während des Fahnenappells sangen sie hochmotiviert das Gründungslied ihrer Schule:
Hoch auf den Bergen das ewige Weiß, unendlich der Fluss des Schwarzen Drachen;
ein Land von solcher Schönheit, sind Hass und Leiden dennoch unvergessen.
Vertrieben und verweht in tiefstem Elend sind all die jungen Menschen.
Indes, die Drei Prinzipien des Volkes, sie weisen euch den Weg;
nehmt sie zum Ideal des Landes und tragt auch noch die schwerste Bürde.
Die Schule sei euch Heim und Zuflucht, dem Lernenden ein Hort des Wissens,
in schützender Umarmung einst am Taiye-See umfängt euch nun der Qinhuai-Fluss.
Die Schande, welche ihr erfahren habt, soll euch Charakterstärke lehren,
so aufrecht wie die Männer, geboren aus dem Volk der Chu;
kaum drei Familien brauchte es, die Macht der Qin zu stürzen.
Aus dem Norden kam ich einst und in den Norden kehre ich zurück.
Insbesondere die erste Zeit in Banqiao gestaltete sich als große Herausforderung für alle, vor allem auch, weil die meisten der Schüler wirklich noch sehr jung waren. Doch mein Vater blickte stets voller Optimismus in die Zukunft, so vergingen etwa eineinhalb Jahre, in denen sie trotz aller Bescheidenheit der Verhältnisse ein recht beständiges und sicheres Dasein voller Hoffnung führen konnten. Dann war es aber vorbei mit der Sicherheit in Nanking. Vor uns lag ein langer, strapaziöser Weg, dieses Mal sollten die Tage der Flucht wesentlich härter werden, als wir es uns vorstellen konnten. Wir befanden uns in einer verzweifelten Notlage: gejagt von den Feinden, immerzu am Rande der Erschöpfung, litten wir täglich Hunger und Kälte auf unserem Weg, der uns durchs halbe China führte, in Richtung Südwesten in die Gebirge.