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Kapitel II
Der Widerstandskrieg – Acht Jahre Blut und Tränen
1 - Dichte Wolken des Krieges überschatten China
Das erfolgreiche Ende des Nordfeldzuges führte im Jahre 1928 zunächst einmal zur Wiedervereinigung Chinas. Die nach Nanking verlegte Nationalregierung begann mit Nachdruck den Aufbau eines modernen Chinas voranzutreiben. Die Eliten aller Provinzen und Berufsstände beteiligten sich aktiv an der Neuausrichtung des Landes. Die darauffolgenden zehn Jahre gingen schließlich als Nanking-Dekade oder auch als Das Goldene Jahrzehnt in die chinesische Geschichte der Moderne ein. Natürlich ist nicht alles Gold, was glänzt und im Schatten der Modernisierung brodelte nach wie vor ein Sumpf aus Missständen. Doch für meinen Vater sollte es ganz wahrhaftig das Goldene Jahrzehnt seines Lebens werden.
Chi Shiying, der junge Mann aus der Mandschurei, der es inzwischen zu einer gewissen Bekanntheit gebracht hatte, wurde bei seiner Ankunft in Nanking aufs Wärmste willkommen geheißen. Auch wenn der von General Guo Songling geführte Putsch gegen Marschall Zhang Zuolin gescheitert war und Guo dieses Unterfangen mit seinem Leben hatte bezahlen müssen, so fanden seine Forderungen an Zhang, sich aus dem Bürgerkrieg zwischen den Warlords im chinesischen Kernland zurückzuziehen, um sich gegen eine zu erwartende Invasion seitens der Russen und der Japaner zu wappnen, in ganz China Zustimmung und Bewunderung. Die Nationalregierung unter Führung der Revolutionspartei KMT, welche maßgeblich am Sturz der kaiserlichen Herrschaft beteiligt war, hieß den jungen Revolutionär Chi als einen der Ersten aus dem Nordosten des Landes mit überschwänglicher Begeisterung willkommen. Seine Beteiligung am Aufbau der Nation war aufgrund seiner Herkunft und Verdienste besonders gefragt, und so überreichte man ihm feierlich das KMT-Parteibuch mit der Nummer „Liao-1“. Somit war er das erste Parteimitglied aus der Provinz Liaoning überhaupt.
Generalissimus Chiang Kai-Shek wunderte sich bei ihrer ersten Begegnung: „Sie sehen nicht gerade so aus wie einer, der aus dem Nordosten stammt.“ Diese Feststellung kam ebenso unerwartet, wie sie kompliziert zu erklären ist. Zur Zeit des Nordfeldzuges vermittelten die Soldaten der Fengtian-Armee den Eindruck des starken, ja sogar raubeinigen Haudegens. Die meisten Leute dachten an furchtlose, grimmige und irgendwie barbarische Kriegertypen. Dieser 27-jährige Mann aus der Mandschurei wirkte hingegen sehr kultiviert und sanftmütig, womit er im Auftreten eher einem Aristokraten entsprach. Der Politiker Lu Chongfang aus der Stadt Shanhai-Pass hatte sich kurz zuvor sogar dazu hinreißen lassen, meinen Vater als „schlank und edel wie ein Jade-Baum im Wind“ zu beschreiben. Zudem beherrschte er drei Fremdsprachen, Englisch, Japanisch und Deutsch, und hatte bis vor gut zwei Jahren noch Geschichtsphilosophie an der Universität Heidelberg in Deutschland studiert. Dem Generalissimus schien es sichtlich Probleme zu bereiten, die Person Chi Shiying einzuordnen.
Im Zuge der Unterredung mit Chiang bot mein Vater seine Mitarbeit für die Bereiche Außenpolitik, Kultur- oder Bildungswesen an. Chiang erwiderte jedoch, dass China derart groß sei, und es gäbe doch so unendlich viel zu tun, weshalb er ihn als Junior-Berater in der Zentralen Politikkommission einsetzen werde. In dieser Funktion arbeitete er unmittelbar mit KMT-Größen wie Niu Yunjian, Huang Fu, Chen Guofu und Chen Lifu zusammen. Mit der Zeit entwickelten sich sogar freundschaftsähnliche Beziehungen zu etlichen der bedeutendsten Personen des Landes. Man setzte ihn auch als Japan-Experten zur Beratung der Nationalregierung ein. Im Rang eines Oberleutnants schickte man ihn dann für ein Jahr nach Japan, wo er an einer Infanterie-Schule studierte, um seine Kenntnisse über das japanische Militärwesen zu vertiefen.
Die expansionistischen Bestrebungen des Japanischen Kaiserreiches in China wurden seit dem ungleichen Vertrag von Shimonoseki im Jahre 1895 mit wachsendem Nachdruck vorangetrieben. Nach dem Ersten Japanisch-Chinesischen Krieg von 1894–1895 hatte China nicht nur Taiwan, Penghu (Pescadoren-Inseln) und die Halbinsel Liaodong an Japan abtreten, sondern auch seine Vorherrschaft über Korea aufgeben müssen. Doch damit war die Gier der Japaner noch längst nicht gestillt. Im Jahre 1905 gelang den Japanern der Sieg über das Russische Kaiserreich, wodurch sie sich die Vormachtstellung in Korea und der südlichen Mandschurei sichern konnten. Im Zuge dessen gewannen sie auch die Kontrolle über die in der Südmandschurei gelegenen Strecken der Ostchinesischen Eisenbahn. Russland verlor somit einen bedeutenden Teil seines Einflusses im Nordosten und einen wichtigen Zugang zum Pazifik. Von diesem Augenblick an begann Japan mit neuem Selbstbewusstsein, seinen Einfluss in China beständig zu erweitern, und es schreckte auch nicht davor zurück, durch tückische Inszenierung zahlreicher Zwischenfälle permanent Unruhe zu stiften.
1915 zwang Japan die chinesische Regierung, die keinerlei Unterstützung von den Großmächten erfuhr, die Liste der Einundzwanzig Forderungen zu akzeptieren, die erneut einen Ungleichen Vertrag darstellte. Am 3. Mai 1928 eskalierte die von japanischen Truppen angefachte Situation in Jinan und endete in einem furchtbaren Massaker: 6000 chinesische Soldaten und Zivilisten wurden durch japanische Waffen niedergemetzelt. Am 18. September 1931 inszenierte die japanische Kwantung-Armee den Zwischenfall von Mukden, woraufhin japanische Truppen die Hauptstadt Shenyang und die gesamte Mandschurei besetzten. Ein Jahr später rief Japan seinen Marionettenstaat „Mandschukuo“ (1932–1945) aus. Die Nationalregierung war sich über das Ziel dieser japanischen Aggressionsakte absolut im Klaren, sah sich jedoch außerstande, dem massiven Druck militärisch zu begegnen. Es blieb ihr keine andere Wahl, als Gedild auszuüben und zugleich mit hohem Tempo die Aufrüstung der Streitkräfte, die Industrialisierung und die Mobilmachung der Bevölkerung zu forcieren. In den folgenden zehn Jahren preschte die Nationalregierung voller Dynamik voran, um die Versäumnisse der letzten Jahrhunderte wettzumachen. Doch es schien eher so, als würde Nanking versuchen, einen seit langem schwerkranken Hundertjährigen mit aller Macht wieder aufzupäppeln. Es bedurfte unbeschreiblicher Kraftanstrengungen, und dennoch war man fest überzeugt von einem glücklichen Ausgang des Unterfangens. Ja, man war wirklich voller Hoffnung und Zuversicht! Genau diese optimistische Stimmung erlebte auch meine Mutter, als sie im Jahr 1930 mit uns zwei Kindern in Begleitung meines Großvaters in Nanking ankam. Sie fand eine regelrecht florierende Hauptstadt vor. Überall gab es neue Baustellen, und auch Vater stürzte sich mit Leib und Seele auf die Vielzahl der neuen Projekte, um gemeinsam mit seinen jungen Freunden den Aufbau voranzutreiben. Ihnen war nur allzu bewusst, dass die Zeit gegen sie spielte, denn Japan intensivierte mit zunehmender Geschwindigkeit seine Vorbereitungen für eine geplante Invasion auf chinesischem Territorium, und es war kein Geheimnis, dass in ihrem Heeresministerium die oberste Devise galt: „Wir müssen handeln, bevor China sich erhebt!“
Der Zwischenfall von Xi’an, der von dem ungehobelten und draufgängerischen „Jungen Marshall“ Zhang Xueliang 1936 initiiert worden war, um Chiang Kai-Shek in eine Falle zu locken, beschädigte lediglich das Ansehen der Nationalrevolutionären Armee. Zhang setzte den Generalissimus fest, um einen Krieg gegen Japan zu erzwingen, konnte sich damit jedoch nicht durchsetzen und musste ihn schließlich wieder freigeben. Durch seine Torheit hatte er das Vertrauen Chiangs gegenüber den Verbündeten und dem Militär aus der Mandschurei für immer verspielt. Den Kommunisten hingegen hatte Zhang mit der Meuterei einen großen Vorteil verschafft, da ihre Armee im Augenblick der völligen Isolation in Yan’an eine einzigartige Überlebenschance erhielt. Dies wiederum bewirkte, dass sich der unerschütterliche Kampfgeist der Bevölkerung gegen die Japaner unter der Führung Chiang Kai-Sheks nun erst recht mit glühendem Enthusiasmus vereinte.
2 - Der Zwischenfall an der Marco-Polo-Brücke
Am 7. Juli 1937 eröffneten japanische Soldaten an der Marco-Polo-Brücke bei Peking das Feuer auf die Nationale Armee Chinas. Das eher halbherzig geführte Scharmützel jener Nacht sollte in der Folgezeit als „Zwischenfall an der Lugou-Brücke“ in die chinesische Geschichte eingehen, denn es war der Auftakt zu den Entwicklungen, die das Schicksal des modernen China entscheidend verändern würden. Und es schaffte die Voraussetzungen für meine innere Einstellung, ein Leben lang hart kämpfen zu müssen.
Kurz zuvor feierte ich mit meiner Klasse noch ausgelassen den bestandenen Grundschulabschluss und wir sangen auf dem Schulhof gemeinsam das Abschiedslied, dessen Worte der Realität nicht mehr gerecht wurden: „Jenseits des Pavillons, neben dem uralten Pfad, dort wo die duftigen Gräser sich frei zum Himmel empor strecken …“ Im nächsten Augenblick fiel die eherne Klinge des Krieges auf uns herab und meine von Krankheit geprägte Kindheit fand ein jähes Ende.
Nanking ist einer der drei sogenannten „Hochöfen am Jangtse (Yangzi)“ und der extrem heiße Sommer war noch nicht vorüber, als japanische Bomber mit dem Luftangriff begannen. Am 15. August 1937 traf die erste Bombe den überwiegend militärisch genutzten Flughafen in der Nähe des Ming-Kaiserpalastes. Gegenüber von diesem Flughafen befand sich das Zentral-Krankenhaus¸ wo meine Mutter erst drei Tage zuvor meine jüngste Schwester Xingyuan zur Welt gebracht hatte. Die enorme Druckwelle der Explosion ließ sämtliche Fenster und Türen des Krankenhauses zerbersten und überall flogen Mörtel, Glas- und Holzsplitter herum. Voller Panik rannten alle um ihr Leben, die Zimmer und Flure waren voller Staubwolken. Meine Mutter presste das Neugeborene an sich und lief barfuß hinter den anderen her, bis hinunter in die Kellerräume. Der Schock und die körperliche Anstrengung lösten bei ihr kurz darauf heftige Blutungen des Uterus aus. Zwei Tage später musste das Krankenhaus evakuiert werden und meine Mutter wurde auf einer Bahre zu uns nach Hause gebracht. Wir konnten nichts weiter tun, als dafür zu sorgen, dass sie die blutstillenden Pillen schluckte, und zuzuschauen, wie sie mit dem Tode rang.
Einen Monat nach den Schüssen an der Marco-Polo-Brücke marschierte die japanische Armee in Peking ein, nachdem sie Tianjin bereits eingenommen hatte. Zum vermeintlichen Schutz der ausländischen Konzessionen in Shanghai unterhielt Japan eine kleine Garnison innerhalb seiner Enklave. Von dort aus griffen die japanischen Verbände am 13. August 1937 die chinesischen Truppen an. Die Schlacht um Shanghai begann. Nacheinander fielen Städte in der Umgebung, wie Suzhou und Wuxi, zudem wurde die Bahnstrecke Shanghai-Nanking unterbrochen. Im Zuge ihrer Operation zur Einnahme der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte, wie Xuzhou, setzten sich die im Norden kämpfenden Truppen der Japaner entlang der Jinpu-Eisenbahn-Linie Richtung Süden in Marsch. Nanking, als Hauptstadt und Symbol des modernen China, stand in unmittelbarer Gefahr, isoliert und eingenommen zu werden. Umgehend begann die Regierung damit, Behörden und Bevölkerung zu evakuieren.
An manchen Tagen kündigte das markerschütternde Heulen der Sirenen bereits in den frühen Morgenstunden den ersten Fliegeralarm an und die Entwarnung kam oft erst nach Sonnenuntergang. Welle um Welle führte die japanische Luftwaffe ihre Bombenangriffe ohne Unterbrechung. Hauptziele ihrer Zerstörungswut waren die Hafenanlagen in Pukou, zentrale Betriebsanlagen der Eisenbahn, Militärstützpunkte und Regierungsgebäude. Die meisten Regierungsstellen hatte man bereits in aller Eile mitsamt Unmengen wichtiger Dokumente in den Südwesten Chinas geschafft. Die wenigen noch verbliebenen Beamten und Angestellten konnten ihre Arbeit nur noch in Luftschutzbunkern versehen. In jenen Tagen wusste niemand, der sich am Morgen aufmachte, um sein Tagewerk zu beginnen, ob er am Abend wieder heil nach Hause kommen würde.
Bereits im August war die Zentrale Militärkommission der KMT zum Oberkommando des Widerstandskrieges ausgebaut worden, um eine groß angelegte Militäroperation gegen die Japaner zu führen. Mein Vater wurde zum Sekretär in der Abteilung 6 bestimmt, welche von Chen Lifu geleitet wurde, einem engen Vertrauten Chiang Kai-Sheks. Bis September 1937 hatte bereits die Hälfte der Einwohner Nanking verlassen und im Oktober glichen die Straßen denen einer Geisterstadt. Inzwischen waren wir die letzten Anwohner in der gesamten Ninghai-Straße, denn alle unsere Nachbarn hatten Hals über Kopf das Weite gesucht. In der allgemeinen Hast hatten sie es versäumt, die Fenster und Türen der Häuser ordentlich zu verschließen, so dass diese nun durch die Böen des Herbstwindes immer wieder zugeschlagen wurden. Überall flogen Papierfetzen und Kleidungsstücke herum. Die ganze Atmosphäre schien von einer alles durchdringenden und bedrohlichen Leere erfüllt zu sein, die auf mich so gespenstisch wirkte, dass es mir eisige Schauer über den Rücken jagte. Morgens verabschiedete ich meinen Vater, der zur Arbeit ging, und stieg dann auf mein Fahrrad, um ein wenig herumzufahren. Nachdem ich die Hälfte der Straße hinter mir gelassen hatte, musste ich jedoch wieder umkehren, weil mir diese unnatürliche Stille einfach zu viel Angst machte. Das laute Heulen der Sirenen machte es aber auch nicht besser – jeden Morgen, sobald es hell wurde, erfüllten sie die Luft mit ihrem schrillen Warnsignal. In unserem Haus lebten damals ziemlich viele Leute und es gab keinen Luftschutzkeller in unmittelbarer Nähe, also mussten wir versuchen, einander Mut zu machen. Während in der Ferne die Bomben mit lautem Krachen detonierten, trösteten wir uns immer wieder aufs Neue damit, dass wir glücklicherweise so weit weg vom Stadtzentrum wohnten.
Nachts schlief ich allein in meinem Zimmer, gleich neben dem Schlafraum meiner Eltern. In klaren Nächten, wenn der Mond besonders hell schien, flog die japanische Luftwaffe zusätzliche Bombenangriffe. Dann klang das Heulen der Sirenen besonders schrill und ohrenbetäubend. Nach dem Alarmsignal, das aus einem langen Ton bestand, auf den zwei kürzere folgten, dauerte es nur kurze Zeit, bis wir das erste gefährliche Brummen wahrnehmen konnten. Mit dem Herannahen der Maschinen wurde das Brummen immer lauter und bedrohlicher. Dann hörte man den Krach der Explosionen, bis die Flammen der Brände den Horizont hell erleuchteten. Ganz allein in meinem Bett lauschte ich in das nächtliche Dunkel. Ich hörte, wie eine lose Ecke vom Fliegenschutz im Herbstwind flatterte und starrte dann zum Fenster. Das Flattern schien immer lauter zu werden und ich glaubte zu sehen, dass es feinen weißen Kalk vom Himmel regnete. Kalk, Löschkalk! Es schnürte mir die Kehle zu. Ich wollte mich verkriechen, doch ich war wie erstarrt. Vor meinen Augen fiel der Löschkalk auf die unendliche Treppenflucht, die zum Sun-Yat-Sen-Mausoleum auf dem Purpurberg hinaufführt. Er fiel auf die sanften Wellen des Xuanwu-Sees, dort wo der Wassergott in Gestalt eines schwarzen Drachens lebte, und bedeckte den Park an der Dongchang-Straße. Auch auf die Wippen der Trommelturm-Grundschule regnete es Löschkalk, auf die Blüten der Pagodenbäume vor unserem Haus in der Fouhou-Gang-Straße. Es schien, als verfolgte mich der Tod, und nun hatte sein Weg ihn schließlich bis vor mein Fenster geführt, wo er sich auf den Blüten der Sternwinde niederließ, welche bereits an dem neu geflochtenen Bambusvordach emporgerankt waren … Niemals werde ich vergessen können, wie meine von Krankheit stark geschwächte und zutiefst beunruhigte Mutter sich jeden Nachmittag bei Einbruch der Dämmerung mühsam vom Bett erhob, um meinen von Sorgen geplagten Vater zu begrüßen. Das war ihre Art, ihm zu zeigen, wie glücklich sie darüber war, ihn wiederzusehen und die Familie unversehrt beisammen zu haben!
Mein Vater war seinem Wesen entsprechend stets unverzagt und optimistisch. Dennoch war auch ihm nur allzu bewusst, dass er vor der schier unlösbaren Aufgabe stand, sämtliche Lehrer und Schüler der Zhongshan-Oberschule zuerst von Nanking nach Hankou, und dann weiter nach Südwesten ins sichere Hinterland zu evakuieren.
3 - Flucht von Nanking nach Hankou
Die Evakuierung erfolgte in zwei Etappen. Mitte Oktober wurde die erste Gruppe von knapp 700 Personen zusammengestellt. Dazu gehörten sämtliche Schülerinnen aller Klassenstufen und die Schüler der Unterstufe. Sie wurden von ihren Lehrern und etlichen Mitarbeitern der Nordostchinesischen Gesellschaft begleitet, deren Kinder zu den Schülern zählten. Der Transport erfolgte von Nanking aus mit der Bahn bis nach Anqing in der Provinz Anhui. Von dort aus sollte sie ein Flussdampfer Richtung Westen den Jangtse-Fluss hinaufbringen, bis nach Hankou, dem neuen vorläufigen Regierungssitz des Generalissimus.
Die zweite Gruppe umfasste die mehr als 300 Schüler der Oberstufe. Sie mussten vorerst noch in der Schule bleiben, bis man auch für sie Transportmöglichkeiten per Bahn und Schiff arrangieren konnte. Die Leitung hatte man dem neu ernannten Schuldirektor Wang Yuzhang übertragen. Er war einer der fünf legendären Wang-Brüder, die in der nordöstlichen Provinz am Amur-Fluss bewaffneten Widerstand gegen die Japaner geleistet hatten. Kurz zuvor war er noch ein einfacher Lehroffizier an der Zentralen Militärakademie gewesen, nun trug er die Verantwortung für insgesamt mehr als 1000 Lehrer und Schüler der Zhongshan-Oberschule, die es sicher ins Hinterland zu bringen galt. Unsere Familie hatte man der zweiten Gruppe zugeteilt.
Abgesehen von den logistischen Herausforderungen bereitete meinem Vater die Sicherheit seiner Schützlinge einiges an Kopfzerbrechen. Vor allem in den abgelegenen ländlichen Gebieten kam es immer wieder zu Übergriffen durch Plünderer und Kriminelle jeglicher Art. Er und seine Mitstreiter kamen zu dem Schluss, dass man sich selbst verteidigen müsse, und daher forderte er einen Monat vor der geplanten Evakuierung vom Kommandierenden General des 67. Korps, Wu Keren, hundert Gewehre samt Munition zum Schutz der Schule an. General Wu erklärte sich einverstanden und lieferte das Gewünschte. Sobald die Waffen geliefert worden waren, mussten sich die Oberprimaner einer kurzen, jedoch intensiven Militärausbildung unterziehen. Danach wurden sie militärisch gegliedert, bewaffnet und bildeten fortan die schützende Hand, die uns sicher ans Ziel bringen sollte.
Auf dem Weg zum Bahnhof sahen wir kaum eine Menschenseele. Erst am Bahnhof trafen wir auf eine nie zuvor erlebte Menschenmenge, zehntausende drängten sich dort dicht an dicht. Es gab kaum einen Fleck in der Vorhalle, auf den Bahnsteigen, wo sich in wattierte dunkle Baumwollmäntel gehüllte Männer, Frauen und Kinder mit ihrem zu dicken Bündeln geschnürten Bettzeug, mit Koffern und Kisten drängten. Eine Woge aggressiver Schreie, hysterischen Heulens und panischer Zurufe gellte in unseren Ohren, während wir wie all die anderen versuchten, uns im Geschiebe und Gedränge zu den Bahngleisen vorzuarbeiten. Jeder versuchte, seine älteren Familienmitglieder stützend durch das Gewühl zu schieben und die Kinder sowie das Gepäck bis zu einem der Züge zu manövrieren. Überall lagen Koffer, zusammengerollte Schlafmatten und vollgepackte Körbe auf der Erde, vor und in den Warteräumen, sogar auf den Bahngleisen. Der gesamte Bahnhof hatte sich in einen gefährlich brodelnden Kessel verwandelt.
Das Erziehungsministerium hatte uns zwei Waggons zur Verfügung gestellt, was unter normalen Umständen zu wenig gewesen wäre, doch angesichts der prekären Lage war es ein unermessliches Privileg. Die bewaffnete Schüler-Truppe tat ihr Bestes, um uns zu schützen und einen Weg durch die Massen zu bahnen. Sie trugen ihre Gewehre auf dem Rücken, hatten Wickelgamaschen an den Beinen, und mit ihrem grimmigen Gesichtsausdruck wirkten sie trotz ihrer Jugend doch ziemlich respekteinflößend. Halbwegs unbehelligt gelangten wir schließlich zum wartenden Zug. Mein Bruder, Vetter Pei Lienju und der 19-jährige Zhang Dafei hoben meine kranke, in eine Baumwolldecke gehüllte Mutter in den Waggon und fanden darin noch eine freie Ecke, wo sie halb sitzend, halb liegend die Reise durchstehen konnte. Anschließend wurden meine drei Schwestern und ich von den Jungs einfach hochgehoben und durch ein offenes Fenster in den Zug hineingehievt. An meinem Gürtel trug ich eine kleine Stofftasche, in der sich zwei goldene Ringe, etwas Bargeld und ein Zettel mit der Kontaktadresse eines Bekannten in Hankou befanden. Während ich durch das Fenster kletterte, passte ich gut auf, dass sie nicht abgerissen wurde. Körper an Körper, dicht gedrängt standen, saßen und hockten die Menschen, dass man den Eindruck hatte, sie wären mit Leim zusammengeklebt worden. Selbst oben auf dem Dach drängten sich die verzweifelten Menschen. Der Bahnhofsvorsteher schrie unaufhörlich, dass sie herunterkommen sollten, bis er kaum noch Stimme hatte, aber die Menschen blieben oben auf dem Dach. Sie wollten alle nur eines – endlich aus Nanking entkommen. Offenbar dachte jeder, man wäre schon in Sicherheit, wenn man bloß einen Platz in oder auf dem Zug ergattert hätte.
Gegen Mittag fuhr der völlig überladene Zug endlich ab. Mein Vater stand draußen vor dem Bahnhof im kalten Herbstwind und beobachtete schweren Herzens den mit Flüchtlingen voll beladenen Zug, der sich nur langsam in Bewegung setzten wollte. Schwerfällig rollte er aus dem Bahnhof und Vater machte sich große Sorgen, ob wir die mehr als 250 Kilometer lange Fahrt heil überstehen würden, wo doch die Japaner Tag und Nacht ihre Luftangriffe entlang des Jangtse-Flusses flogen! Und auch wir im Zug hofften inständig, dass kein Unglück unseren Weg kreuzen würde.
Der Zug fuhr in den ersten Tunnel hinein, als wir verzweifelte Schreie vom Dach hörten: „Aiyo! Jemand wurde runtergefegt! Hilfe! Hilfe! Der Mann ist runtergestürzt!“ Das Heulen und Schreien ging uns durch Mark und Bein. „So helft ihm doch! Kann denn niemand helfen?!“ Doch wir, die im Waggon saßen, konnten nicht einmal die eigene Hand heben, so dicht aneinandergequetscht waren wir, geschweige denn auf irgendeine Weise eine helfende Hand ausstrecken.
Kilometer um Kilometer kroch der Zug dahin. Immer wieder musste die Fahrt unterbrochen werden. Sobald das erste Brummen der Kampfbomber zu hören war, musste der Zug in einem der Tunnel haltmachen, um nicht unter Beschuss zu geraten. Als wir endlich die Hafenstadt Wuhu erreichten, wo wir auf ein militärisches Versorgungsschiff umsteigen sollten, war die Dunkelheit bereits angebrochen. Es durfte kein Licht gemacht werden, damit die feindlichen Kampfbomber uns nicht ausfindig machen konnten. Deshalb fuhren die Schiffe nur nachts und die gesamte Hafenanlage blieb unbeleuchtet. Nur ein paar schwache Lämpchen glommen über dem Holzsteg, der zum Flussdampfer führte.
Nachdem wir zu guter Letzt doch noch die Anlegestelle gefunden hatten, stolperten wir erschöpft auf das Vorderdeck und weiter ins Schiffsinnere. Hinter uns wurde es chaotisch, weil zu viele Menschen auf den Steg drängten. Dann hörten wir Menschen ins Wasser fallen – die Laufplanke hatte dem Gewicht der Massen nicht mehr standhalten können und war auf einmal mit einem dumpfen Krachen zerbrochen. Menschen heulten in der Dunkelheit auf, stürzten schreiend ins Wasser und versanken im pechschwarzen Fluss. An Bord und an Land herrschte ausschließlich Panik! Überall liefen Kinder und Erwachsene durcheinander und suchten ihre Familienangehörigen.
Es wurde eine gefährliche, angsterfüllte Nachtfahrt und die Erinnerung daran sollte mich bis ins hohe Alter hinein verfolgen: Der rabenschwarze Fluss, die erstickten Hilfeschreie im Wasser, die verzweifelten Rufe der Eltern, die in jener grauenhaften Nacht nach ihren Kindern suchten. All diese Geräusche verschmolzen mit den gellenden Schreien jener Menschen, die tagsüber vom Dach des Zuges gestürzt waren, zu einer unerträglichen Kakofonie des Leidens. Das alles prägte sich tief in mein Gedächtnis ein. Jene verzweifelten und erbarmungswürdigen Schreie hallten durch so manche meiner schlaflosen Nächte bis in mein Herz hinein. Sie waren es, die meine Einstellung zur Nation und Heimat prägten – zunehmend in mir die Auflehnung gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt erstarken ließen und ein tiefverwurzeltes Mitgefühl für die gesamte Menschheit schufen. Und auch das Lesen bekam für mich einen gänzlich neuen Stellenwert, der weit über das rein Literarische hinausreichte!
In jenen Tagen bildeten die Versorgungsschiffe der Marine eine der wenigen noch funktionierenden Lebensadern von Nanking. Zudem waren die Truppentransporte über den Yangtse unverzichtbar für die Verteidigung der Hauptstadt. Unglücklicherweise konnten die Schiffe vom flussaufwärts gelegenen Hankou bestenfalls bis Wuhu fahren, da die restliche Strecke nicht mehr schiffbar war. Shanghai war bereits zehn Tage zuvor gefallen. Nachdem die letzten chinesischen Verteidiger von dort abgezogen worden waren, konzentrierten sich die japanischen Bombenangriffe auf die Schiffe, die den Yangtse befuhren, um die Städte von jeglicher Versorgung abzuschneiden. Die Wasserstraße unmittelbar um Xiaguan, dem Hafen von Nanking, war gerammelt voll mit liegen gebliebenen Schiffen und auf weite Strecken verstopft durch zahlreiche zerbombte Wracks. Das machte Wuhu zum letzten erreichbaren Hafen in nächster Umgebung zur Hauptstadt Nanking.
Nachdem die Truppen in Wuhu entladen worden waren, begannen die Transportschiffe sofort mit dem Einladen des Personals der Regierungsbehörden und der wichtigen Dokumente, einschließlich der wertvollen Sammlung von Kunstschätzen aus dem Kaiserpalast. Im Schutz der Nacht traten sie dann die gefahrvolle Rückfahrt nach Hankou an. Bei gutem Wetter fuhren die mit Baum-Ästen getarnten Schiffe auch tagsüber, wobei sie sich möglichst dicht am Ufer hielten, um im Schutz der ausladenden alten Bäume unentdeckt zu bleiben. Unser Schiff war wahrscheinlich eines der letzten, welches noch Truppen zur Verstärkung transportiert hatte. Um die japanische Bodenoffensive zu erschweren, waren die Eisenbahn- und sämtliche Straßenbrücken von Wuhu durch unsere eigenen Soldaten am 1. Dezember gesprengt worden. Zu diesem Zeitpunkt konnten Schiffe nur noch den Hafen von Anqing am oberen Flusslauf erreichen. Auch die Bahnverbindung zwischen Nanking und Anqing hatte eingestellt werden müssen, da sämtliche Züge bombardiert worden und die Strecke nicht mehr befahrbar war. Den Menschen in Nanking waren somit sämtliche Fluchtwege versperrt, wer sterben oder überleben würde entschied nun einzig das Schicksal – nur wenige Tage später begannen die Japaner mit einem grauenhaften Massaker an der Bevölkerung von Nanking!
Laut Plan sollte die Fahrt flussaufwärts von Wuhu nach Hankou zwei Tage und eine Nacht dauern. Um jedoch den ständigen Luftangriffen zu entgehen, musste der Dampfer bei Tageslicht immer wieder am Ufer haltmachen, da wir nicht aus dem Schutz der Baumwipfel herausfahren durften. Glücklicherweise nahte der Winter und so gab es nur wenige Stunden Tageslicht. Wir erreichten Hankou im Morgengrauen des vierten Tages. Die Schüler, die während der ganzen Fahrt unter Deck auf dem Fußboden gesessen hatten, stolperten auf wackligen Beinen von Bord und wurden so schnell es ging zu einer Fähre gebracht, die sie zum gegenüberliegenden Ufer des Yangtse transportierte, in die Stadt Wuchang. Unweit der Anlegestelle befand sich die Mittelschule, wo sie endlich wieder mit ihren Schulkameraden der ersten Gruppe vereint wurden. Die Schulleitung hatte die Aula umfunktioniert und dort ein provisorisches Lager eingerichtet, wo sie alle vorerst Unterschlupf fanden. Mein Vater, der sich sehr um Mutters Zustand sorgte, hatte zuvor einen vor Ort lebenden Freund beauftragt, ein Hotelzimmer zu buchen, wo seine Familie untergebracht wurde. Er hoffte auch, dadurch den Kontakt mit uns einigermaßen sicher aufrechterhalten zu können, während wir auf seine Ankunft warteten.
4 - Das Land zerstört, die Familien verblutet
Nun wähnte uns mein Vater in relativer Sicherheit, und auch von uns ahnte noch niemand, dass der ganzen Familie eine viel größere Herausforderung bevorstand. Ein Kampf auf Leben und Tod lauerte schon in den Schatten von Wuchang.
Seit unserer Abfahrt vom Bahnhof in Nanking bis zur Ankunft am Marinestützpunkt im Hafen von Wuhu wurde meine Mutter immer von jemandem huckepack getragen, wenn wir eine Strecke zu Fuß gehen mussten. Dennoch litt sie die ganze Zeit unter starken Schmerzen und blutete auch immerzu. Am dritten Tag der Schiffsreise erlitt sie aufgrund der übermäßigen Anstrengung erneut einen Blutsturz. Die blutstillenden Pillen zeigten keine Wirkung mehr, obwohl wir die Dosis erhöht hatten. Nachdem sämtliche Betttücher verbraucht waren, nahmen wir alles, was noch an sauberer Unterwäsche da war, und platzierten sie unter ihrem Unterleib.
Als der Dampfer endlich in dem Hafen von Hankou einlief, war meine Mutter bereits seit einigen Stunden bewusstlos. Sie schien in den letzten Zügen zu liegen, als man sie an jenem Morgen vom Anleger direkt in ein katholisches Krankenhaus brachte. Mit ihr zusammen musste auch meine 18 Monate alte Schwester Jingyuan ins Krankenhaus gebracht werden. Die Kleine war noch nicht vollkommen abgestillt, und da sie gerade erst zu laufen begonnen hatte, war sie mit ihren tapsigen kleinen Schritten einfach unglaublich drollig. Jingyuan war ein echter Nestflüchter und mit ihren kleinen Beinchen richtig flink unterwegs. Während sich an Bord alle Erwachsenen um meine kranke Mutter kümmerten, gelang es meiner kleinen Schwester immer mal wieder, allein und unbeaufsichtigt auf dem Schiff herumzulaufen. Vermutlich haben Mitreisende sie währenddessen mit allerlei Proviant gefüttert, denn nach drei Tagen litt sie plötzlich an Durchfall und musste sich dauernd erbrechen. Daher wurde sie gleich in die Kinderstation gebracht, die sich im rechten Flügel des Krankenhauses befand. Der behandelnde Arzt stellte bei ihr eine akute Darmentzündung fest und sie musste zur weiteren Behandlung dortbleiben.