Kitabı oku: «Die Siebte Sage», sayfa 2

Yazı tipi:

Freundschaft

Ein paar Herzschläge lang saßen die beiden Mädchen schweigend nebeneinander. Dshirah kuschelte sich in das schützende Weinlaub und zog Blätter über das Zeichen des Hirten kindes auf ihrer Schulter. Sie war in Sicherheit und war froh, so froh …

Dann sprang Zaiira auf.

«Ich hole dir dein Hemd», flüsterte sie, «und – und – Schuhe …»

Sie lief ein paar Schritte über den knisternden Kiesweg, blieb stehen, kam zurück, wollte ihre Sandalen ausziehen.

«Besser als nichts», hauchte sie.

Ihr Gesicht hatte noch immer die erschrockene Blässe unter der araminisch dunklen Haut.

«Lass nur», sagte Dshirah, die Füße unter der Bank verborgen, «hier vertreibt mich doch niemand. Ich lese.»

Sie griff nach Zaiiras Buch, ließ ihre Augen über die Seiten gleiten. Lesen konnte sie die araminische Schrift kaum. Sie war bis jetzt nur zehn Tage zur Schule gegangen. Zaiira lächelte, legte eine Hand an Dshirahs linke Schläfe, ein kleines, leichtes Streicheln, dann ein deutlicher Schubs.

«Danke», lachte Dshirah, «ich passe auf.»

Oh ja, sie musste achtgeben. Wenn sie auch das Buch nicht las, so musste sie doch die Augen von rechts nach links über die Seiten führen. So schrieben die Araminen. Die Barden hatten eine andere Sprache, die inzwischen fast vergessen war. Sie hatten auch eine andere Schrift und sie schrieben von links nach rechts. Das aber hatten die herrschenden Araminen in diesem Land seit mehr als vierhundert Jahren verboten. Nur heimlich unterrichteten die Barden ihre Kinder in ihrer eigenen Schrift. So hatte Dshirah zuerst von links nach rechts lesen gelernt, bevor sie vor zehn Tagen in die Hirtenschule kam.

Zaiira war schnell zurück. Sie brachte das Hemd, das Dshirah in eine Generalstochter verwandelte, und ein paar Reitstiefel aus weichem gelbem Leder.

«Andere feste Schuhe habe ich nicht gefunden», sagte sie. «Damit kannst du nicht nach Hause gehen. Unser Zeichen ist in den Absatz gebrannt.»

Nein, Dshirah konnte auf dem Heimweg nicht zugleich ein Hirtenhemd tragen und auf allen feuchten, lehmigen Stellen am Fluss Spuren des Hauses Al-Antvari hinterlassen.

«Hier bei euch geht es», sagte Dshirah. «Silbão ist hinter mir her. Wenn er weg ist, kann ich barfuß nach Hause laufen.»

Sie wollte nach dem rechten Stiefel greifen, aber Zaiira zog ihn zurück.

«Warte», flüsterte sie.

Dann kniete sie vor Dshirah und nahm den rechten bloßen Fuß der Freundin in beide Hände. Ihre Finger glitten über die Zehen, zögernd, von einem zum anderen, als wollte sie es nicht glauben: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs – und zurück: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs.

«Bitte», sagte sie, «Dshirah, lass mich drei Sonnenblicke lang genießen, dass meine Freundin das lang ersehnte Kind mit den sechs Zehen ist. Drei Sonnenblicke lang genießen. Bis das Unglück über dich hereinbricht.»

«Wirst du», Dshirah zitterte, «mich verraten?»

«Nie!», Zaiira schüttelte heftig den Kopf. Sie streifte den gelben Stiefel über Dshirahs Fuß.

«Dann wird es kein Unglück geben», sagte Dshirah. «Nur meine Eltern und mein Bruder wissen es. Silbão und die anderen Jungen haben nichts gemerkt, als ich den Schuh verlor. Hast du ein Messer? Ich muss das Band vom linken Schuh aufschneiden.» Zaiira lief über den Kiesweg bis zum Rosentor. Da sollte ein neues Mosaik gelegt werden, es mussten dort bunte Steine mit scharfen Kanten sein, und sie brachte eine leuchtend rote Scherbe.

«Deine Eltern sind nicht hier?», fragte Dshirah. «Und kommen auch nicht so bald?»

Zaiira schüttelte den Kopf: «Mein Vater ist beim Kalifen, und meine Mutter ist im Krankenhaus und besucht mal wieder bardische Kinder.»

Dann warf sie den Kopf zurück, schaute Dshirah an und stieß heraus: «Warum haben deine Eltern das getan? Warum halten sie dich verborgen? Dshirah, ich muss immer mit den Kindern des Kalifen spielen. Sie haben mir die goldene Wiege gezeigt, in der du hättest liegen sollen.»

«Wo ist die?», fragte Dshirah und hielt ihr den linken Fuß hin. «Wie sieht sie aus?»

«Sie steht mitten im Frauenpalast und – oh – sie ist ganz aus Gold mit einem Himmel aus goldener Seide. Sie steht auf Kufen, die enden in kleinen Schnecken, so …» Ihre Finger malten kleine Schnecken in die Luft. «… und wenn sie weit genug schwingt, so hin und her, schlagen die Schnecken an goldene Glöckchen, die machen Töne wie – wie – lachende Sonnenstrahlen, die über die Dächer von Palästen stolpern.»

Dshirah lehnte den Kopf an die Wand und murmelte: «Lachende Sonnenstrahlen, die über die Dächer von Palästen stolpern … Manchmal denke ich, es wäre schön gewesen.»

Zaiira säbelte mit der roten Scherbe an Dshirahs Schuhband.

«Warum haben deine Eltern das gemacht?», presste sie durch die Zähne. «Jetzt ist alles verloren. Oder …», sie schaute auf, «… kennst du vielleicht die Siebte Sage?»

Dshirah schüttelte den Kopf, und Zaiira säbelte weiter.

«Siehst du», murmelte sie, «siehst du. Jetzt ist alles verloren. Und wenn der Kalif jemals herausbekommt, dass das Kind mit sechs Zehen längst geboren ist, und es wurde ihm nicht gebracht – Dshirah, er muss euch töten, alle miteinander.»

«Ich weiß», flüsterte Dshirah. «Verrätst du mich?»

«Niemals! Ich bin deine Freundin. Aber du musst mir sagen, warum deine Eltern das gemacht haben.»

Sie zerriss das Band, zog Dshirah den linken Schuh aus, zuckte zusammen. Hatte sie gehofft, dass die Freundin an diesem Fuß nur fünf Zehen hätte? Es waren sechs. Sie blickte auf.

«Sag es mir!», verlangte sie. «Warum?»

«Weil wir Barden sind», erklärte Dshirah. «Wir glauben eben nicht, dass irgendein Kind mit sechs Zehen das Dshinnu aus den Sieben Sagen ist. Nur weil es auch sechs Zehen hat. Also haben meine Eltern auch nicht geglaubt, dass ich die verlorene Siebte Sage erzählen kann. Auch nicht, wenn ich in der goldenen Wiege schlafe. Und – was wäre dann gewesen? Der Kalif hätte mich doch getötet.»

«Ich weiß nicht», sagte Zaiira. «Kalif Hisham tötet gar nicht so gern.»

Doch Dshirah schüttelte den Kopf.

«Er hätte es getan! Wenn seine Richter und Gelehrten das Urteil fällen: das ist nicht die Siebte Sage, dann wird das Kind mit den sechs Zehen getötet. Und seine Familie dazu. Damit wieder ein Kind mit sechs Zehen geboren werden kann. Meine Eltern haben mir das alles erzählt.»

«Ja», meinte Zaiira, «aber vielleicht hättest du ja doch … Und Armei dan Hasud hat gesagt …»

«Nein!», Dshirah schüttelte heftig den Kopf. «Ich bin nicht das Dshinnu aus den sechs Geschichten. Ich habe sechs Zehen, na und? Wir Barden glauben das alles nicht.»

«Und was glaubt ihr?»

«Das wirst du doch wissen.»

«Nein! Dshirah, ich gehe auf eine araminische Fürstenschule. Von den Barden erzählen sie uns nichts.»

«Ah», sagte Dshirah, «so.»

Und dann sprudelte es aus ihr heraus.

«Die Sieben Sagen sind unsere Geschichten! Nicht eure! Ihr habt sie uns gestohlen wie unser Land. Ihr habt alle unsere Bücher zerstört. Dabei ist die Siebte Sage verschwunden. Und viele Jahre konnten wir nichts von unseren Geschichten erzählen, bis alles vergessen war. Dann endlich haben die Araminen gemerkt, dass Barden auch Menschen sind. Kalif Obajan war ein gerechter Herrscher. Und seitdem geht es uns hier gut, und sechs Geschichten von den sieben hat man gefunden. Aber die siebte Geschichte ist weg. Und dass ein Kind mit sechs Zehen kommt und nur weil es in einer goldenen Wiege beim Kalifen aufwächst, dann mit sieben Jahren diese Sage erzählen kann, das ist Unsinn, Zaiira, Unsinn!»

«Leise. Bitte», sagte Zaiira, «nicht so laut.»

«Mein Vater», murmelte Dshirah, «mein Vater meint, das ist nur, weil die Richter nicht wissen, wie sie ein – was für ein Todesurteil sie sprechen müssen. Es gibt da kein Gesetz. Darum soll das Dshinnu das machen. Die Siebte Sage erzählen, und dann haben sie ihr Gesetz. Das kann ich nicht. Das will ich nicht!»

Zaiira setzte sich neben Dshirah auf die Bank. Beide schauten in den Patio, aber Dshirah sah nichts, nicht das Rosentor, nicht die Pomeranzenbäume, auch nicht zwischen den Lorbeerbäumen die Fontänen des Brunnens, bunt gefärbt von Blumen und Fliesen.

«Aber Geschichten vergisst man doch nicht», sagte Zaiira. «Man erzählt sie weiter und immer weiter, auch wenn keine Bücher da sind. Das ist doch bei uns genauso.»

«Ja …», Dshirah zögerte, «ja … du weißt nicht viel von euch, Zaiira, sie erzählen euch in eurer Schule nichts von uns und nicht viel von euch. Aber wir reden ja auch nicht gern davon.»

«Wovon? Komm! Sag es mir!»

Aber Dshirah schüttelte den Kopf: «Meine Mutter sagt immer, ich soll das keinem araminischen Kind erzählen. Wir leben gut jetzt hier mit euch. Meine Mutter meint, das müssten die Araminen ihren Kindern selber sagen.»

Zaiira drängte nicht mehr.

«Mein Vater wird es tun, wenn es richtig ist», flüsterte sie. «Er hat mir beigebracht – du, jetzt verrate ich dir ein Geheimnis –, er hat mir gesagt, ich soll immer, wenn ich einen Barden begrüße, mit dazu denken: ‹Und ich bitte dich, verzeih mir.› Aber er hat mir nicht gesagt, warum.»

Die beiden Mädchen schauten sich an. In Zaiiras Blick lag eine Bitte. Dshirah nickte und hielt der Freundin die offene Hand hin. Zaiira legte einen Zeigefinger auf Dshirahs Handgelenk und suchte, bis sie den Puls fühlte. Da schloss sie die Augen. Sie saßen reglos, bis sie beide spürten, dass ihre Herzen im gleichen Takt und Rhythmus schlugen. Das war ein alter bardischer Brauch für Herzensfreunde. Niemand wusste, ob er aus uralten Zeiten stammte und im Gegensatz zu den Büchern nicht hatte zerstört werden können, oder ob er entstanden war, als die Araminen die Barden so schlimm unterdrückten.

Die beiden Mädchen nahmen ihre Hände wieder zu sich, und die schreckliche graue Blässe unter Zaiiras dunkler Haut war verschwunden.

«Du musst nach Hause», sagte sie. «Komm!»

Gemeinsam sprangen sie durch den Patio über knisternden Kies, über farbige Mosaike. Sie liefen durch den hinteren Teil des Hauses, wo die Verwalter und Diener wohnten, und wieder hinaus, nun auf sandigen Wegen, in die Dshirahs Absätze das Zeichen des Hauses Al-Antvari drückten. So hüpften sie am Reitplatz vorbei, wo ein paar Jungen mit den dreijährigen Fohlen übten, ruhig auf einem Fleck zu stehen. Als die Mädchen vorbeirannten, sprangen fünf junge Pferde zugleich in die Luft, schnaubten, prusteten, quietschten, buckelten, stiegen.

Zaiira legte einen Arm um Dshirahs Schulter.

«Wahrscheinlich hast du recht», zischte sie der Freundin ins Ohr. «Wenn Kalif Hisham wüsste, dass du sechs Zehen hast – er ahnt es nicht! Liebe Sonne, Dshirah, er ahnt es nicht, und ich weiß es! Ich glaube, er würde dich sofort den Rechtsgelehrten geben, damit sie aus dir herausquetschen, ob man die zum Tode Verurteilten nun hängen oder köpfen soll.»

«Das könnte ich ihnen sogar erzählen», sagte Dshirah. «Dazu brauche ich die Siebte Sage nicht. Ich weiß ja, dass sie aus unserem Volk kommt. Wenn wir die Siebte Sage fänden, würde die grässliche Köpferei endlich aufhören.»

«Ich glaube nicht, dass die Gehängten schöner sind», sagte Zaiira.

«Immerhin sind die Köpfe noch dran», meinte Dshirah.

Zaiira blieb stehen.

«Hast du mal einen gesehen?», fragte sie atemlos.

«Liebe Sonne nein!!!» Dshirah schüttelte sich. «Einen Toten! Nie!»

Sie liefen weiter und erreichten die Stallungen. Von hier konnte Dshirah über die Ebene laufen, ohne von der Stadt aus gesehen zu werden.

«Kann ich deine Sandalen haben?», fragte sie. «Es ist doch besser als nichts, und mein rechter Fuß tut mir weh. Kein Kind in Al-Cúrbona ist das Barfußlaufen so wenig gewöhnt wie ich.»

«Natürlich kriegst du die Sandalen. Aber nicht zum Laufen. Ich gebe dir Dshalla.»

Dshirah blieb stehen.

«Das kannst du nicht wagen. Ich kann sie heute nicht mehr zurückbringen.»

«Du lässt sie einfach bei der Herde. Sie fällt zwischen den wilden Stuten nicht auf. Und morgen bringst du sie zurück.»

Zaiiras eigene Stute Dshallalalama hatte die gleiche helle Falbfarbe wie die halbwilden Sorraia-Pferde, nur nicht die dunklen Querstreifen an den Beinen.

«Das geht», überlegte Dshirah, «Januão zählt die Herde immer schon auf dem Heimweg. Wenn da hinterher eines mehr ist, merkt das keiner. Und sie ist tragend, ja? Du bist sicher? Wir haben den Hengst.»

«Umso besser. Wenn sie noch nicht tragend ist, wird er sie decken. Er ist doch ein Vollblut.»

«Danke», sagte Dshirah. «Dann komme ich auch nicht gar so spät heim. Meine Eltern haben es nicht gern, wenn ich in der Stadt bin. Du weißt jetzt, warum.»

Dshallalalama war zusammen mit den anderen Stuten der Al-Antvaris im Sandauslauf. Sie langweilte sich und kam sofort, als sie die Mädchen sah. Zaiira legte ihr ein leichtes Schnurhalfter an. Das genügte Dshirah zum Reiten. Dann tauschten sie die Schuhe. Noch einmal hielt Zaiira einen von Dshirahs Füßen zwischen den Händen, die genauso heftig zitterten wie Dshirahs Fuß und Stimme, als sie wieder und immer wieder sagte: «Es ist nichts Besonderes. Es ist gar nichts Besonderes. Ich bin deine ganz gewöhnliche Freundin. Das einzige Besondere ist, dass ich ein Hirtenkind bin, und du bist eine Fürstentochter.»

Dann schloss sie die Schnalle der Sandalen. Die gelben Stiefel lagen noch am Boden, Zaiira hatte keinen Grund, ihre Füße zu verbergen. Dshirah schlüpfte aus dem Generalshemd. Sie führten die Stute zu dem Stein, den man zum Aufsteigen benutzte, und Dshirah sprang auf Dshallalalamas Rücken.

«Es stimmt nicht, was ich gerade gesagt habe», flüsterte sie. Dabei legte sie den Kopf an Dshallas Hals, so tief, dass sie fast Zaiiras Stirn berührte. «Das wirklich Besondere an unserer Freundschaft ist – ist –, dass du mir hilfst, auch wenn es für dich gefährlich ist. Zaiira, wenn irgendjemand erfährt, dass du es weißt …»

Zaiira nickte. Ihr dunkles Haar streifte Dshirahs Stirn. Sie führte die Stute durch den Torbogen hinaus ins freie Feld. Beide Mädchen blickten über das Gelände.

«Silbão ist längst nach Hause gegangen», sagte Dshirah.

«Jetzt reite!» Zaiira ließ ihr Pferd los. Dshirah zögerte.

«Zaiira», sagte sie, «jedes Mal, wenn ich dich grüße, werde ich jetzt denken: Ich danke dir, meine Freundin, ich danke dir.»

Und sie drückte der Stute die Schenkel in die Seite. Sie drehte sich nicht mehr um. Es war kein schwerer Abschied von der Freundin. Sie glaubte ja, dass sie sich bald wiedersähen.

Obwohl sie einen Umweg reiten musste, würde sie viel schneller sein als zu Fuß. Auf geradem Weg zu ihrem Elternhaus führte nur ein schmaler Steg über den Fluss. Da kam man mit einem Pferd nicht hinüber. Sie musste den Fluss überqueren, wo das Wasser niedrig war. Also lenkte sie die Stute nach Nordwesten. Nur einmal schaute sie nach rechts, sah in der Ferne an dem Steg einen Reiter stehen, wunderte sich kurz: Was wollte der Mann da mit einem Pferd? Aber dann sprang Dshalla die Böschung hinunter und sie konnte den fremden Reiter nicht mehr sehen.

Sie genoss den Ritt über die weite Ebene wie niemals zuvor. Sie saß auf einem Vollblutpferd, einem echten Vollblutpferd, und es war nicht irgendeines, es war Zaiiras. Sie hielt die dünnen Lederzügel mit der Rechten, das Handgelenk der Linken aber legte sie an ihre Schläfe, dahin, wo die Haut am dünnsten war. An dem Handgelenk hatten Zaiiras Finger den Puls gefühlt, bis ihre Herzen wie ein einziges doppeltes schlugen. Und sie ritt Zaiiras Pferd. Sie war so glücklich, dass sie nicht aufhören konnte, glücklich zu sein, als sie vor dem kleinen weißen Haus ihrer Eltern elf fremde Pferde sah. Die standen dort mit hängenden Zügeln und dem Zeichen der Polizei auf der Satteldecke. Sie waren nicht angebunden, sie standen und rührten sich nicht, als Dshirah an ihnen vorbeiritt. Das waren vorzüglich erzogene Pferde hoher Polizeioffiziere. Und Dshirah war so glücklich, dass sie immer noch keine Angst hatte.

Aber sie ritt um das Haus herum und mied den Eingang.

Elf. Elf Polizeioffiziere im Haus ihrer Eltern? Manchmal kam einer, um die Fohlen des letzten Jahres zu prüfen, denn die Polizei ritt immer Halbblüter, deren Mütter halbwilde Sorraia-Stuten waren und der Vater ein Vollbluthengst aus dem Stall des Kalifen. Aber elf ! Was konnte so wichtig sein, dass die auf einmal zu einem Pferdehirten kamen? Und elf war eine Zahl, die im ganzen Land gemieden wurde. Die Lieblingszahl des Kalifen war zwölf. Am Steg, dachte sie, der zwölfte Reiter steht am Steg.

Sie sprang vom Pferd. Run, Lont und Moia kamen ihr entgegen, die drei Hirtenhunde ihrer Familie, groß, gelb, mit langem, feinem Haar und mit einer schwarzen Maske im Gesicht, auch Beine und Schwanzspitze waren schwarz. Nur die Pferdehirten hatten solche Hunde, die eigentlich Windhunde waren aus dem Zwinger des Kalifen für die Jagd. Alle drei kamen lautlos, still – kein Bellen, kein Fiepen, kein wildes Begrüßen wie sonst, wenn sie Dshirah sahen. Run, die Jüngste, wedelte heftig mit dem Schwanz und hechelte, die anderen taten nicht einmal das. Also hatten ihr Bruder oder ihre Mutter oder ihr Vater den Befehl: «Still allem!!!», gesprochen. Die Hunde waren so gut erzogen wie die Pferde der Polizeioffiziere. Run leckte Dshirahs Hand und konnte gar nicht damit aufhören. Dshirah streichelte sie und band Dshallalalama an der Rückseite des Hauses an. Sie stieg durchs Fenster in das Zimmer, das sie sich mit ihrem Bruder teilte – und schaute in Silbãos dunkle, vor Schreck und Angst so weit aufgerissene Augen, dass sogar dieses Gesicht nur noch verzerrt und gar nicht mehr schön war.


Flucht ins Gefängnis

Silbão legte eine Hand auf seinen halb offenen Mund und stellte sich vor die Tür, die zum Patio führte. Er schaute auf Dshirahs Füße. Die Sandalen verdeckten die äußeren Zehen, ließen die mittleren frei, und nur wer genau hinsah, konnte erkennen, dass es hier nicht drei, sondern vier mittlere gab. Silbãos Hand fiel herunter.

«Es ist wahr», hauchte er.

Dshirah schluckte.

«Wie – wie hast du es gemerkt?»

«Du musst fliehen», sagte er. «Sofort! Sie sind schon da. Sie dürfen es nicht sehen. Nie! Dann haben sie keinen Beweis.»

Dshirahs Herz überschlug sich. Es verlor den Takt, der in Zaiiras Hand gepocht hatte. Wer hatte sie verraten? Wer? Die Jungen! Es mussten die Jungen gewesen sein. Sie hatten es also doch gesehen. Bevor sie die Gefahr spürte, die jetzt ihrem Leben drohte, hatte sie Angst, ihr Glück zu verlieren, das Glück, das Zaiira hieß.

Nein!, dachte sie. Zaiira war es nicht. Die Zeit war ja auch viel zu kurz. Nein!

Der Gedanke beruhigte sie und sie konnte fragen: «Was ist geschehen?»

«Du bist über die Baustelle gelaufen. Du bist auf den Sand getreten. Mit dem – dem Fuß da. Die Arbeiter haben geschimpft. Und als sie deinen Fußabdruck wegharken wollten, haben sie es gesehen. Kirr hat verraten, wer du bist.»

Kirr! Ein Barde wie sie!

«Ich bin dir weiter nachgelaufen», fuhr Silbão fort. «Ich wollte dich warnen. Ich glaube nicht, dass so eine Spur im Sand ein Beweis ist. Du musst weg. Wenn sie dich nie sehen … aber ich weiß nicht, wohin? Weißt du wohin?»

Sie schüttelte den Kopf.

«Der Kalif wird dich suchen lassen. Überall. Es gibt keinen Ort, wo er nicht suchen wird, wir müssen Januão fragen. Der ist klug. Ich bin nicht so klug.»

«Wo ist er?»

«Was? Was sagst du?»

Silbão konnte sie nicht mehr verstehen. Die Angst hatte angefangen, ihre Stimme zu zernagen. Sie schluckte.

«Wo ist er?»

«Im Patio. Ich glaube, ich kann ihn holen.»

Er öffnete die Tür einen Spalt. Geschützt vom Dunkel des Raumes blickte sie in den Hof und sah ihre Eltern an dem kleinen Brunnen sitzen. Das Gesicht der Mutter war so weiß wie der gekalkte Brunnenrand. Der Vater wandte ihr den Rücken zu. In dem kleinen Patio saßen die Polizeioffiziere, sie rauchten oder aßen Trauben, sie tranken Tee, sonst taten sie nichts. Sie warteten. Januão sah Dshirah nicht. Aber Silbão schien zu wissen, wo er war. Er schlüpfte durch den Türspalt und kam gleich darauf mit dem Freund zurück.

Die Geschwister schauten sich an.

Wie die sich anschauen konnten, die zwei! Es gab vielleicht im gesamten araminischen Reich keinen anderen Menschen, dem Dshirah oder Januão so gerade, so geradewegs in die Augen schauen konnten. Ihre Blicke passten zusammen. Sie hatten beide die gleichen weit auseinanderstehenden Augen. Es war, als seien ihre Augen nach außen gerutscht, an den Rand des breiten Gesichts, an die äußerste Grenze des menschlichen raubtierähnlichen Blicks. Ein wenig mehr noch und die Augen wären an der Seite gelandet, wie bei Pferden und Rindern und Hirschen, wie bei allen Tieren, die nicht jagen, sondern gejagt werden. Und zwischen den Augen war reichlich Platz für das strähnige helle farblose Haar, das ihnen von der Stirn fiel.

Manchmal aber brach Januão aus dem Geschwisterblick. Wenn er lautlos, tief im Innern, ein neues Lied sang, das er für sich und die Pferde spielen würde, dann verloren seine Augen jeden Blick. Er lief dann gegen den Tisch oder die Truhe oder die Tür, und seine Mutter Chomina musste ihm immer wieder sagen: «Vergiss das Schauen nicht. Verlern es nicht. Sonst wirst du noch blind.»

Januão war ein Jahr älter als seine Schwester, aber nicht größer, weil er so sehr kurze Beine hatte.

«Dir ist etwas eingefallen?», fragte Silbão. «Du weißt, wo wir sie hinbringen können?»

Januão nickte.

«En-Wlowa», sagte er, und Silbão wurde blass.

«Da geht niemand freiwillig hin.»

Januão zuckte die Achseln.

«Ich weiß kein anderes Versteck.»

«A-a-aber», wenn Silbão aufgeregt war, fing er immer an zu stottern, «aber ist es nicht besser, sie geht zu dem Kalifen? Du kannst so gute Geschichten erzählen. Warum erfindest du nicht die Siebte Sage?»

«Das haben schon viele versucht, aber noch nie haben die Richter und die Gelehrten so eine Geschichte als Siebte Sage anerkannt. Alle warten auf etwas – keine Ahnung auf was, ja, sie warten auf etwas, das sie nicht erwartet haben.»

Der Gedanke an En-Wlowa hatte Dshirah nur wenig erschreckt.

«Muss ich da lange bleiben?», fragte sie. «Ich kenne da niemanden.»

«Du musst bleiben, bis sie dich hier nicht mehr überall suchen. Dann hole ich dich und bringe dich übers Meer. Die Eltern kommen nach. Wir gehen alle nach Afrika. Die Mutter hat immer gewusst, dass dies eines Tages geschieht.»

Da erst erschrak auch Dshirah. Sehr!

«En-Wlowa», murmelte Silbão. «Oh, es ist schlimm. Wir kriegen sie rein, aber nie wieder raus.»

«Wir kriegen sie genauso raus, wie wir es immer mit dir gemacht haben», sagte Januão.

Silbão schüttelte heftig den schönen, störrischen Kopf.

«Ich habe immer gewusst, dass du am nächsten Tag um dieselbe Zeit die Pferde vorbeirufst. Wie soll sie das wissen, wenn sie Wochen da drin ist?»

«Indem du hineingehst, Silbão, und es ihr sagst. Wir brauchen dich.»

Dshirah erholte sich nicht von ihrem Schreck. Es war jedoch nicht En-Wlowa, was sie entsetzte. Sie kannte von dem Gefängnis des Landes nur die Blumenmauer. Es war der Gedanke an Afrika, der ihr alle Freude nahm.

«Wir gehen fort?», flüsterte sie.

Und sie dachte an Zaiira. Januão nickte.

«In der Wüste wissen sie nichts von den sieben Geschichten. Wir hätten längst gehen sollen. Mutter sagt, vor zwanzig Jahren ist ein bardisches Kind mit sechs Zehen da untergetaucht, ein Junge. Der Kalif hat es nie erfahren.»

«Es hat schon mal ein Kind mit sechs Zehen gegeben?» Dshirah wunderte sich. Ihr Bruder nickte: «Das ist gar nicht so selten in unserem Volk. Komm!»

Zum ersten Mal, seit das Unglück begonnen hatte, musste Dshirah weinen. Januão legte ihr die Hände auf die Schultern. Auch in ihre weinenden Augen passte Blick in Blick, denn auch in seinen standen Tränen.

«Wir werden dort keine Not leiden», versuchte er zu trösten. «Es gibt da wundervolle kleine Pferde. Ganz sicher folgen die mir so gut wie unsere hier. Und ganz gewiss brauchen sie dort einen Pferdepfeifer.»

Aber Dshirah schüttelte den Kopf.

«Du darfst dort barfuß gehen», versprach Januão, «und die Hunde können wir mitnehmen, und, Dshirah, du darfst dort eine Freundin haben, hörst du! Eine Freundin! Das war doch immer dein größter Wunsch.»

Er schloss die Augen, als er das sagte, und von Silbão hörten sie einen leisen Schluchzer.

«Ja», hauchte Dshirah, «ja.»

Januão ließ sie los.

«Wir gehen jetzt», sagte er.

Er holte aus der Kleiderkiste ein paar weiche geschlossene Lederschuhe, sie zog die Sandalen aus. Januão erstarrte.

«Wo hast du die her?», fragte er.

«Gestohlen», behauptete sie, «in der Schustergasse.»

«Gib her!»

Er drehte die Sandalen in seinen breiten, klotzigen Händen, von denen kein Fremder erwartet hätte, dass er damit Flöte spielte.

«Das ist gut», murmelte er. «Das ist gut.»

Er blickte auf, schaute seine Schwester an.

«Geh in dein Versteck!», befahl er.

«Mein Versteck!», rief Dshirah leise. «Ich kann doch einfach in meinem Versteck bleiben!»

Aber Januão schüttelte den Kopf.

«Nein! Da bist du nur sicher, solange dich Polizisten suchen. Polizisten sind dumm. Sie haben nichts zu tun. Die können nichts mehr, als ihre Pferde ausbilden. Morgen werden sie Soldaten schicken. Die finden dich dort. Geh.»

Sie stiegen beide auf die Truhe und schoben ein Brett in der Decke beiseite. Dann half er ihr in den doppelten Boden zwischen Decke und Dach. Da konnte sie nur liegen und warten, nichts sehen, aber hören. Doch es blieb still. Wie lange? Sie hatte hier manchmal liegen müssen. Zum Üben für den Notfall. Und jedes Mal war ihr die Zeit entsetzlich lang geworden.

«Im Notfall», hatte ihr Vater immer gesagt, «wirst du froh sein über jeden Herzschlag, den du da in Sicherheit bist.»

Sie war aber nicht froh. Es war eng und fast dunkel, nur durch die Ritzen der Bretter kam ein wenig Licht.

Ja, dachte sie, morgen kommen Soldaten, und die sind nicht dumm.

Polizisten galten als dumm in Al-Cúrbona. Es gab keine Mörder und keine Diebe im Land, fast nicht. Das lange Nichts-Tun hatte die Polizisten dumm gemacht.

Und dann hörte sie einen Schrei, einen Freudenschrei.

«Ich hab sie! Ich hab sie gefunden!»

Januãos Stimme.

«Was hast du gefunden?»

Das musste einer der Polizisten sein.

«Dshirahs Sandalen! Sie lagen beim Misthaufen. Dshirah lässt eben immer alles herumliegen.»

Es war eine Weile still. Dann hörte Dshirah den Polizisten.

«Und warum zieht sie in der Stadt keine Sandalen an? Der kleine bardische Junge hat gesagt, sie trägt nie Sandalen.»

«Sie geht doch erst seit zehn Tagen in die Schule.» Das war die Stimme ihres Vaters. «Sie wird schon noch mit Sandalen kommen.»

«Wir warten», bestimmte der Polizist. «Wir bleiben auf alle Fälle, bis sie nach Hause kommt.»

«Darf ich jetzt die Pferde reinholen?», fragte Januão.

Eine Antwort hörte Dshirah nicht, aber wenig später das leise Klopfen an dem losen Brett, das verabredete Zeichen. Sie schob das Brett beiseite.

«Diese Sandalen können uns retten», flüsterte Januão. «Jetzt schnell!»

Er drückte ihr die Lederschuhe in die Hand. Sie schlüpfte hinein, er verknotete die Bänder so fest wie die Mutter. Sie schaute zur Tür mit bittendem Blick.

«Nein!», er schüttelte den Kopf. «Du kannst dich nicht verabschieden. Du siehst sie erst in Afrika wieder.»

Sie kletterten aus dem Fenster. Silbão folgte, ohne zu fragen. Run stand sofort wieder neben Dshirah und leckte ihre Hand.

«Wo kommt das Pferd her?», fragte Januão.

«Ich habe es eingefangen», log Dshirah.

«Das ist ein Vollblut.»

«Ich weiß. Wahrscheinlich gehört es zum Haus Al-Antvari. Ich denke, der Reiter ist runtergefallen. Bring du es morgen zurück.» Januão nickte.

«Das hat dich gerettet», sagte er. «Am Steg über den Fluss steht ein Reiter und wartet auf dich.»

Er band die Stute los.

«Wir lassen sie bei unseren.»

Dshirah nahm ihm die Zügel aus der Hand. Sie legte Dshalla die Arme um den Hals, drückte ihr Gesicht in die dunkle Mähne, wühlte Stirn und Nase durch bis zu dem glatten gelben Fell, trocknete dabei ihre Tränen im feinen Mähnenhaar. Dabei legte sie der Stute eine Hand auf den Rücken. Morgen würde Zaiira wieder dort sitzen. Drei Herzschläge lang fühlte sie sich noch einmal, ein letztes Mal, der Freundin nah, so nah. Und Run stand hinter ihr und leckte ihre Kniekehlen, die ganze Zeit.

«Komm jetzt», flüsterte Januão und tippte leicht auf ihre Schulter.

«Ich muss ihr danken», sagte Dshirah. «Sie hat mich doch gerettet.»

Und sie ließ Januão nicht merken, dass sie nicht die Stute, sondern Zaiira meinte. Ihre Hände flatterten über Dshallas Brust und Hals, über Ohren, Stirn, Nüstern, sie konnte nicht aufhören zu streicheln, zu klopfen, überall da, wo Zaiiras Hände dieses Fell berührt hatten und wieder berühren würden. Und dann hätte sie eigentlich das Gesicht wieder in die Mähne drücken müssen, denn sie hatte sonst nichts, um die Tränen zu trocknen, aber Januão zog sie weiter. Er holte seine Flöte aus dem Schuppen, hängte sie sich um den Hals. Dshirah sah, dass er weinte. Er wählte drei Pferde und vier Halfter aus, gab Dshirah das vierte Halfter, er berührte dabei ihre Hand und hielt sie fest, das wäre nicht nötig gewesen. Dshirah verstand, dass dies ein Abschied war.

Run war ihnen nachgelaufen und wich nicht von Dshirahs Seite.

«Nieder!», befahl Januão leise, aber scharf, und er hob den Arm, als schwinge er eine Peitsche. «Nieder! Hart Leder sonst droht!»

Die Hündin zuckte zusammen und kauerte winselnd am Boden. Sie hatte diese schlimme Drohung aus Januãos Mund noch nie gehört. Dshirah wollte sich zu ihr setzen und sie trösten, aber sie hatte verstanden, was sie zu tun hatte.

Silbão saß als Erster auf dem Pferd. Er konnte am besten aufspringen, und das war gut so, denn er fiel am häufigsten hinunter. Dshirah und Januão führten ihre Pferde zu einem Stein und kletterten hinauf.

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