Kitabı oku: «Die Siebte Sage», sayfa 4
Da war alles voller Fliegen.
Ich muss da rein, dachte sie. Jetzt! Wenn sie gegessen haben, werden viele kommen.
Sie fand einen Eingang. Da waren nur dreckige Balken und Löcher.
Januão, Silbão, holt mich hier raus! Sofort!
Da drehte sich ihr Magen um. Sie spuckte den Brei vor den Balken. Sie konnte nur noch rasch die Schale hochhalten, wo die Luft etwas sauberer war, aber alles war voller Fliegen.
Sie floh aus dem Gestank, rannte durch die Gassen, lehnte sich zitternd an eine Holzwand, fühlte sich verdreckt und erniedrigt. So lebte in Al-Cúrbona kein Mensch und kein Tier, so konnte, so wollte sie nicht leben, aber die Schale hatte sie noch immer in der Hand. Sie stand in der Sonne, und sie blieb dort, bis ihr schwindlig wurde von dem grellen Licht. Da taumelte sie in den Schatten einer Hauswand, ließ sich auf den Boden sinken, starrte in den Staub. Sie würde hier warten, nichts essen, nichts trinken, um nie wieder dahin gehen zu müssen, wo die Fliegen und der Gestank waren. Sie hatte keinen Hunger, obwohl sie das Einzige, das sie seit gestern früh gegessen hatte, wieder ausgespuckt hatte. Hunger war ein entsetzlicher Feind, gegen den sie kämpfen würde. Hunger zwang zum Essen, und Essen hatte entsetzliche Folgen.
Dann lieber sterben, dachte sie, das macht nicht solchen Dreck.
Und während sie mit zitternden Lippen in den Staub starrte, fiel ihr etwas ein.
«Juja», murmelte sie. «Juja …»
Ihre Hände umklammerten die Schale. Das war ihr kostbarster Besitz, denn ohne diese Schale bekam man nichts zu …
«Juja», flüsterte sie, «Juja …»
Ihre Hände würgten die Schale, sie war ihr größter Feind, denn aus der Schale hatte sie gegessen – sie hob den Kopf.
«Juja!», rief sie. «Juja!»
Die Gefangenen kamen jetzt in Scharen von dem kleinen Platz zurück. Die meisten gingen in dieselbe Richtung. Dahin, wo Dshirah nie wieder sein wollte?
«Juja!», schrie Dshirah ihnen entgegen.
Sie schaute in die Gesichter, suchte nach einer jungen Frau und rief: «Juja! Juja!»
Sie schrie und schrie, bis eine Frau vor ihr stehen blieb und zu ihr hinunterschaute. Sie lächelte. Und sie war nicht grau wie die anderen, sondern trug ein blassbuntes Kleid. In den Händen hielt sie ein kleines Bündel voller roter, blauer und gelber Flecken.
«Juja», flüsterte Dshirah.
Ist sie es?, dachte sie. Ist das Silbãos schöne Schwester? Kann das sein? Sie sieht aus wie – wie – wie eine – Ruine …
Sie musste an die alte Bardenburg denken. Jenseits der Hügelkette hinter dem Kalifenpalast standen noch immer die Reste der alten Bardenburg. Vor vierhundert Jahren hatten die Araminen die Burg zerstört. Übrig geblieben waren Teile der Kuppel, die viele Barden besuchten. Dshirah hatte oft mitten in dem weiten Gewölbe gestanden, und da hatte sie ahnen können, wie schön dieser Bau einmal gewesen war.
«Ruine», flüsterte sie.
Auf sie hinunter schaute lächelnd die Ruine von Jujas schönem Gesicht.
«Wer bist du?», fragte eine andere, ältere Frau. «Ich habe dich hier noch nie gesehen. Woher kennst du Juja?»
«Silbão schickt mich», sagte Dshirah.
Da geschah etwas mit der Ruine von Jujas schönem Gesicht. Es war wie in der alten Burg. Dshirahs Familie war immer im Sommer dahin gegangen und hatte mittags auf den Höchststand der Sonne gewartet. Wenn dann das Licht durch das Loch im Scheitel der Kuppel schien, erstrahlte der Raum, und wenige Herzschläge lang wirkten die zerstörten Wände wie die Spitzenschleier, hinter denen der Kalif seine Frauen verbarg. Juja, die sich neben Dshirah auf den Boden hockte, war plötzlich schöner als ihr Bruder.
«Wie geht es meinem kleinen Abdalameh?», fragte sie.
«Abdalameh?», flüsterte Dshirah.
Das war ein Kalifenname. Selbst den vornehmsten Fürsten war es verboten, ihren Söhnen diesen Namen zu geben. Auch Zaiiras Bruder, hätte sie einen gehabt, wäre nicht Abdalameh genannt worden.
«Wer?», stammelte Dshirah. «Ich weiß nicht …»
Und genauso war das in der alten Bardenburg: Wenn das Mittagslicht über der Kuppel weiter wanderte, wurde die Burg wieder zur Ruine, ihre Schönheit war nur noch Erinnerung. Jujas Gesicht zerfiel in fremde, traurige Augen und zitternde Lippen.
«Komm mit», sagte die fremde Frau und reichte Dshirah eine Hand. Auch ihr Kleid war farbig, zwar nicht so voller bunter Flecken wie Jujas, aber blau, ein scheckiges Blau wie ein gefleckter Himmel mit ein paar grauen Wolken darin. Es tat Dshirah gut, an einer Hand zu gehen, dicht neben jemandem einfach mitzugehen. Sie kamen zu einem kleinen Verschlag.
«Hier leben wir», sagte die alte Frau. «Wenn man das leben nennen kann. Es gibt bessere Hütten, aber hier will außer uns keiner rein. Wir wollen allein sein. Weil Silbão manchmal kommt. Du kannst auf seinem Platz schlafen.»
Juja fasste Dshirahs Hand. Sie ließ das Bündel mit den bunten Flecken los. Es fiel auf den Boden und öffnete sich. Es war voller Blüten von der Blumenmauer. Juja achtete nicht darauf. Sie schaute Dshirah mit flehenden Augen an und sagte: «Wie geht es meinem kleinen Abdalameh?»
Dshirah wollte gern die Hand wegziehen und vor Jujas Augen weglaufen. Sie kannte keinen Abdalameh. Wie sollte sie so einen kennen? Und sie spürte, es war für Juja ein entsetzliches Unglück, wenn sie auf diese Frage keine Antwort bekam. Dshirah warf der alten Frau einen hilflosen Blick zu. Die sammelte die Blumen wieder in das Tuch, schob Juja sanft in eine Ecke, gab ihr die Blüten und ein graues Stück Stoff. Und Juja begann, den Blütensaft in den Stoff zu drücken, bis der Stoff und ihre Hände so bunt waren wie die Vögel, die zum Geburtstag des Kalifen in goldenen Käfigen auf der Plaza de las Poemas aufgehängt wurden. Da wandte sich die alte Frau wieder Dshirah zu.
«Du kannst mich Una nennen», sagte sie. «So heiße ich nicht, aber ich bin seit vielen Jahren hier, und ich hoffe noch immer, es wird mir eines Tages besser gehen, wenn ich mein früheres Leben und meinen Namen vergessen habe. Denn raus komme ich hier nicht mehr.»
«Warum bist du …», wollte Dshirah fragen. Aber Una unterbrach sie.
«Frag mich nicht, dann frage ich dich auch nicht.»
Dshirah nickte heftig. Das war ihr sehr recht.
«Aber warum Juja hier ist, muss ich dir erzählen», fuhr die Frau fort. «Woher hast du die Schale? Silbão hatte nie eine.»
Dshirah berichtete.
«Das ist gut», sagte Una. «Zieh das Hemd aus.»
Dshirah gehorchte. Una nahm das Hemd, stülpte es um und zog es Dshirah wieder an. Aus einer Ecke holte sie einen Fetzen Stoff, eine grobe Nadel und Faden. Sie biss und zerrte mit den Zähnen an dem Stoff herum, bis sie den Fetzen noch etwas kleiner genagt hatte.
«Messer haben wir nicht», erklärte sie, «Scheren auch nicht.»
Auf Dshirahs Brust nähte sie eine Tasche, steckte die Schale hinein, Dshirah musste das Hemd wieder ausziehen und wenden. Nun trug sie die Schale innen auf der Brust.
«Das ist hier Pflicht», erklärte Una. «Wer seine Schale verliert, ist tot.»
Juja hockte in einer Ecke. Sie sang leise vor sich hin. Dshirah erkannte die Melodie. Es war ein altes Kinderlied, aber Juja sang immer nur ein einziges Wort: «Abdalameh, Abdalameh …»
«Er ist ihr Sohn», flüsterte Una, und Dshirah erschrak. Das konnte nicht wahr sein.
«Juja war einmal sehr schön», erzählte Una.
«Ich weiß», Dshirah nickte.
«Der Kalif», fuhr Una fort, «sah sie, als sie auf dem Markt Ziegenkäse verkaufte. Er lässt sich ja manchmal durch die Straßen tragen, schaut, verborgen hinter seinem Spitzenstoff, und nimmt alles mit, was ihm gefällt: Früchte, Blumen, Krüge, Stoffe, Pferde, Frauen, Windhunde …»
Juja sang noch immer ‹Abdalameh, Abdalameh›, aber die Melodie änderte sich. Die Töne wurden länger und tiefer. Aus dem Kinderlied wurde ein Klagegesang. Una wandte ihr den Kopf zu und sang mit. Sie machte die Töne erst lauter und voller, dann wieder rascher, heller, bis ihre raue Stimme hüpfte und Juja jubelte: «Abdalameh! Abdalameh!» – ein Lied für fröhliche Kinder beim Spielen. Una rückte etwas näher an Dshirah heran. Sie sprach sehr leise: «Der Kalif ließ sie holen. Als eine seiner Nebenfrauen. Sie sollte sein dreizehntes Kind gebären. Das dreizehnte Kind des Kalifen wird gut versorgt, aber es bekommt keine Macht. Doch Juja wurde zu früh schwanger.
Sie gebar das zwölfte Kalifenkind. Und es ist ein Junge. Vielleicht, wenn es ein Mädchen wäre – vielleicht säße Juja im Palast und hielte ihr Kind am Arm. Aber wenn das zwölfte Kind des Kalifen ein Sohn ist, erbt er die Länder in Afrika. Da haben sie Juja verurteilt. Erbbetrug werfen sie ihr vor. Sie sagen, sie hätte sich mit diesem Kind Reichtum und Macht ergaunern wollen.»
Jujas Lied war wieder von Dur nach Moll geglitten. Una sang mit, bis aus dem Trauergesang ein Tanzlied wurde.
«Silbão kommt alle paar Monate», flüsterte sie Dshirah zu, «und erzählt ihr, dass es Abdalameh gut geht. Ich glaube nicht, dass er ihn je gesehen hat, aber es ist trotzdem keine Lüge. Wenn Jujas Sohn krank würde, müssten alle trauern im Land. Ihr Kind erbt Afrika, das kann auch Kalif Hisham nicht mehr verhindern. Dass Abdalameh so schön wird wie seine Mutter, mag ihm recht sein, aber der Kleine wird gewiss auch genauso lieb.»
Und vielleicht nicht sehr klug, dachte Dshirah.
Als Jujas Stimme wieder dunkel wurde, zog Una an Dshirahs Arm.
«Schnell! Sag ihr, dass es ihm gut geht. Ich kann nicht den ganzen Tag mit ihr singen, und es ist entsetzlich, wenn sie noch trauriger wird, es ist furchtbar. Ich kann es nicht ertragen.»
«Juja», sagte Dshirah, «Abdalameh geht es gut. Er …»
Wie alt konnte das Kind jetzt sein? Seit fast zwei Jahren war Juja verschwunden. Was hatte sie selber gemacht, als sie zwei war? «… er hat ein weißes Maultier bekommen und winkt immer, wenn es durch die Straßen geführt wird.»
Vielleicht stimmte das sogar. Vor einem Monat hatte sich die Familie des Kalifen offen in der Stadt gezeigt, und auf einem weißen Maultier hatte ein kleiner Junge gesessen, der schöner war als die anderen Kalifenkinder. Juja jubelte einen kleinen Triller. Dann blieb sie still in der Ecke sitzen, lächelte vor sich hin, und ihre bunten Hände lagen zwischen den letzten heilen Blüten.
«Gut», sagte Una. «Nun zu dir. Hast du heute gegessen?»
Dshirah schauderte.
«Ja», nickte sie, «aber …»
Und sie erzählte, wo der Brei geblieben war.
«Silbão holt mich bald wieder hier raus», sagte sie. «So lange muss ich nichts essen. Wasser reicht mir.»
Una schüttelte den Kopf.
«Du musst Kraft haben, wenn du zum Hügel rennst. Willst du dich waschen?»
«Man kann sich waschen?» Dshirah hob den Kopf.
«Nicht alle tun es, aber man kann, wenn man jemanden hat, der das Hemd mit der Schale solange hält. Komm. Jetzt ist Frauen-Waschzeit.»
Sie gingen durch die Gassen. Die sahen für Dshirah jetzt schon ganz anders aus. Ja, sie würde essen. Sie würde Kraft haben und zurücklaufen. Sie würde ihren Bruder wiedersehen und den Vater und die Mutter – niemals Zaiira … Fast hätte sie angefangen, sich zu freuen – aber Zaiira …
Da griff Una nach ihrer Hand und drückte sie sanft.
«Das war sehr lieb, was du Juja gesagt hast», flüsterte sie. «Du hast es ja sicher gemerkt, sie ist vor Sehnsucht nach ihrem Kind ganz krank im Kopf geworden.»
«Warum sind hier gute Menschen?», fragte Dshirah. «So wie du?»
«Hier sind Mörder, Diebe und Betrüger», antwortete Una. «Und Betrüger sind in Al-Cúrbona alle, die etwas gesagt oder getan haben, das dem Kalifen oder seinen Ministern nicht passt.»
«Aber warum rennt ihr nicht weg? Wenn man in einer dunklen Nacht durch das Loch geht, können die Wächter doch nicht schießen.»
Una lachte kurz und hart. «Nachts ist das Loch bewacht. Sie geben es nur frei, wenn sie auch schießen können.»
«Und warum könnt ihr nicht über die Mauer?», schlug Dshirah vor. «Könnt ihr nicht Leitern bauen?»
Aber Una schüttelte den Kopf.
«Das haben schon welche versucht. Niemand kommt durch diese Blumen. Der Duft macht dich ganz wirr im Kopf, und die Fliegen bringen dich um.»
«Aber im Winter? Die können doch nicht das ganze Jahr blühen.»
«Es sind fast immer Blüten da. Nur zwei Monate sind sie kahl. Und dann haben sie Stacheln – du kannst es jetzt noch nicht gemerkt haben, das fängt erst im Sommer an – fingerlange Stacheln, lauter kleine Dolche. Es kommt niemand durch. Kalif Hisham hält uns gefangen in bunter Blumenpracht. In den Geschichtsbüchern wird stehen, dass er ein guter Herrscher war, der seine Gefangenen von Blumen bewachen ließ. Aber das hat sein Vater ja auch schon getan und der –»
Sie sprach nicht weiter. So gingen sie durch die Gassen, die erst sandig, dann immer steiniger wurden. Einmal kam ihnen ein Kind entgegen, Dshirah wusste nicht, ob es dasselbe war wie vorhin, es sah genauso aus, aber die anderen Menschen sahen auch alle gleich aus. Sie bogen um eine Ecke. Vor ihnen war ein Bach. Das Wasser sprudelte aus einer Felsengrotte, wahrscheinlich war es dasselbe, das draußen vor dem Hügel in unterirdischen Höhlen verschwand, da, wo sie gestern die beiden Pferde angebunden hatten. Es floss zur Blumenmauer und verschwand durch ein vergittertes Loch. Auch das Wasser des Brunnens kam sicher aus diesem Bach. Da waren viele Frauen. Sie wuschen sich, und andere hielten ihre Hemden mit den Schalen. Alle Frauen im Wasser waren nackt.
Und keine hatte Schuhe an.
Ein Aramine mit Herz zerbeißt seine Zunge
Januão, die Flöte spielend auf seiner falbgelben Stute, sah zwei kleine Punkte zwischen dem Hügel und der Blumenmauer rennen. Seine Augen folgten Dshirah, die in das Gefängnis hineinlief. Nur im Winkel, fast im toten Winkel seines Blicks nahm er den anderen Punkt wahr, der aus En-Wlowa floh. In einer fernen Ecke seines Gehirns wunderte er sich ein wenig, denn seine Gedanken waren bei der Schwester. Nur ein kleines Erstaunen war da. Bisher war noch nie jemand geflohen, wenn er die Pferde diesen Weg entlang lockte. Aber warum nicht? Sie konnten im Lager inzwischen gemerkt haben, wie leicht während des Flötenspiels die Flucht war. Und nicht die entlegenste Gehirnwindung gab Januão eine Warnung, dass dieser winzige fliehende Punkt gefährlich werden könnte. Er musste ja auch Flöte spielen, nicht denken, spielen. Und nicht weinen jetzt. Er kämpfte die Tränen zurück. Das konnte er gut, denn das war er gewohnt. Jungen, die älter als fünf Jahre waren, durften in Al-Cúrbona nicht weinen. Manchmal wünschte er sich, ein Mädchen zu sein. Vielleicht war er der einzige Junge im Reich des Kalifen, der diesen völlig abwegigen Wunsch hatte. Oder war es möglich, dass es noch mehr gab, die so leicht weinten wie er? Ob das in Afrika erlaubt war? Er fühlte eine kleine, sehr kleine Freude.
Er sah den Dshirah-Punkt hinter den Blumen verschwinden. Da konnte er etwas aufatmen, und in sein Trauer-Klage-Todeslied mischten sich ein paar helle Töne. Die spürte er in seinen Fingerspitzen.
«Januão kann Musik anfassen», sagte seine Mutter immer.
Aber der Dshirah-Punkt kam zurück, kam wieder heraus aus den Blumen – oder war das ein anderer? Noch ein Flüchtling aus En-Wlowa? Aber warum lief der nicht weiter? Januão spielte, um den Punkt zurückzudrängen in die Blütenmauer, denn es war Dshirah, er sah es nicht, er spürte es. Aber trieb er sie wirklich mit seinem Spiel nach En-Wlowa hinein? War es nicht eher so, dass er sie zurückhielt? Er ließ die Flöte sinken. Da erreichten ihn auch schon die Pferde. Je-ledla lief voraus. Er beachtete sie nicht. Er sah den Punkt wieder in den Blumen verschwinden. Langsam wendete er sein Pferd.
Er führte die Herde nicht auf geradem Weg nach Haus, sondern ritt einen kleinen Bogen, Silbão entgegen. Der musste nun in die Stadt zurück laufen, denn Januão nahm seine beiden Pferde mit. Es wurde dunkel. Als er sein Elternhaus erreichte, hatte sich dort wenig geändert. Die elf Polizeipferde standen jetzt im Schatten. Sie hoben die Köpfe, als die Herde vorbeikam, eines schnaubte, eines wieherte, aber sie taten keinen Schritt.
Januão ließ die Stuten auf die Koppel. Je-ledla leckte an den salzigen Steinen, der Hengst begrüßte Dshalla. Januão ging von einem zum anderen, schaute, ob sie Wunden hatten und hob ihre Hufe. Da kam einer der Polizisten in die Koppel.
«Du hast die Pferde geholt?», fragte er.
«Das mache ich jeden Abend», nickte Januão.
«Deine Schwester hast du nicht gesehen?»
«Nein. Ist sie immer noch nicht da?»
«Nein. Was glaubst du, wo sie ist?»
«Das haben wir doch gesagt. Bei einer Freundin in der Stadt. Wahrscheinlich bleibt sie über Nacht. Sie ist so glücklich, dass sie zur Schule gehen darf. Wir leben hier ganz allein.»
Der Mann nickte.
«Du kommst in den Patio», bestimmte er.
«Darf ich erst die Pferde versorgen?»
«Ja.»
Januão beeilte sich. Es hatte keinen Sinn mehr, die Zeit zu verzögern. Dshirah war in Sicherheit. Als er in den Patio trat, zündete seine Mutter gerade die Öllampen an.
«Wann hast du deine Schwester zuletzt gesehen?», fragte der Polizeioffizier.
«Heute Morgen. Das habe ich doch schon alles erzählt.»
«Erzähl es noch einmal.»
«Wir sind zusammen mit der Herde bis zum Stadtrand geritten. Das machen wir meist so. Von da muss sie laufen. Ich bringe die Pferde auf die Weideplätze.»
«Warum bist du nicht zur Schule gegangen?»
«Ich bin ein guter Schüler. Ich gehe nicht jeden Tag zur Schule.»
«Was für Schuhe hatte deine Schwester an?»
Januão zögerte. Jetzt musste er aufpassen.
«Ihre leichten Lederschuhe, glaube ich. Ja, natürlich. Ihre Sandalen sind doch hier. Sie hat nur das eine Paar Sandalen.»
Er merkte, wie seine Mutter ihn von der Seite sehr aufmerksam beobachtete, aber er schaute sie nicht an.
«Warum trägt sie in der Stadt nie Sandalen», fragte der Offizier.
«Natürlich trägt sie in der Stadt Sandalen, aber …», sagte die Mutter sehr schnell.
Der Polizist unterbrach sie: «Ich habe den Jungen gefragt. Nun!»
«Natürlich trägt sie in der Stadt Sandalen», Januão sprach ruhig, er war jetzt nicht aufgeregt. Dshirah war in Sicherheit, und was er hier zu antworten hatte, wusste er, sie hatten das geübt, die Mutter hatte ihm das Stichwort gegeben.
«Wenn wir bis zur Stadt reiten und auch wieder zurück, zieht sie gern Sandalen an. Aber von der Schule zurück muss sie laufen, und dann will sie immer geschlossene Schuhe haben. Sonst kommen ihr Steine rein. Dshirah stellt sich ein bisschen an. Sie mag auch nur ganz feine Wolle auf der Haut.»
«Der kleine bardische Junge hat gesagt, dass sie nie Sandalen trägt.»
«Die kleine bardische Kröte hat gelogen», mischte sich einer der anderen Polizisten ein. «Der wollte sich nur wichtig machen. Und der Fußabdruck im Sand war doch ziemlich verwischt. Können wir nicht endlich gehen? Es gibt keinen Tee und keinen Kuchen mehr.»
Der Offizier nickte. «Morgen, wenn die Schulen schließen, sind wir wieder hier. Da wird das Kind ja wohl nach Hause kommen. Und wenn es nicht kommt – ja dann, dann stimmt es doch. Dann werden wir es suchen. Ein Kind mit sechs Zehen ist im gesamten Kalifenreich nicht zu verstecken.»
Endlich brachen sie auf und erlösten ihre Pferde.
Es blieben zurück: Januão, sein Vater Tazihlo, seine Mutter Chomina.
«Du weißt, wo sie ist?», fragte die.
Januão nickte. Und er erzählte von Silbãos Schwester und dessen heimlichen Besuchen in En-Wlowa.
«Dshirah in En-Wlowa», flüsterte Chomina. «Wie schlimm ist es dort?»
«Sie wird es überleben», sagte Januão.
«Was machen wir, wenn sie morgen wiederkommen?», überlegte Tazihlo. «Die Polizisten kommen nicht wieder, die nicht. Morgen weiß es der Minister, und der schickt Soldaten. Was können wir tun?»
«Fliehen?», fragte Januão. «Sofort. Nach Afrika. Wir haben alles vorbereitet. Und nach einem Monat, wenn sie die Suche nach Dshirah aufgegeben haben, komme ich zurück und hole sie.»
Aber sein Vater schüttelte den Kopf.
«Wir können jetzt nicht mehr heimlich fliehen. Sie merken ja gleich morgen, dass wir fort sind. Und wir sind nicht mehr irgendwelche Hirten. Sie suchen das Kind mit den sechs Zehen. Und seine Eltern. Und seinen Bruder. Sie haben Brieftauben. Mit denen schicken sie die Nachricht voraus. Wir kommen nicht mehr bis zum Meer und schon gar nicht auf ein Schiff.»
«Und wie willst du zurückkehren?», fragte die Mutter. «Und dann die Pferde an En-Wlowa vorbeipfeifen? Und Silbão brauchst du auch.»
Sie schwiegen so lange, bis die Stille Januão wehtat. Dann fragte Chomina: «Diese Sandalen. Wo hast du die Sandalen? Gib sie mir!»
Januão holte die Sandalen wieder aus der Kiste. Chomina hielt sie unter eine der Öllampen, drehte sie in den Händen, sagte:
«Und wie ist Dshirah hierher gekommen? Am Steg war ein Wächter.»
«Sie ist geritten», erklärte Januão. «sie hat ein frei laufendes Pferd eingefangen und ist durch die Furt geritten.»
«Am Stadtrand laufen keine Pferde herum», zweifelte sein Vater.
«Doch. Wahrscheinlich ist einer der Pferdejungen von Antvaris runtergefallen. Es ist ein Vollblut.»
«Bring es in den Patio», verlangte Tazihlo.
Auch für Januão war es nicht leicht, das fremde Pferd bei dem schwachen Mondlicht in der Herde zu finden. Der Mond war nicht mehr als ein dünner Haken am Himmel, und wenn man die Augen voller Tränen hatte, konnte man nicht viel sehen. Januão wusste nicht mehr weiter. Der Vater hatte recht, sie konnten nicht mehr fliehen. Sie waren verloren. Seine Füße waren schwer. Er stolperte über jeden Stein, und das Einzige, was ihn noch auf den Beinen hielt, war der Auftrag des Vaters. Noch hatte er etwas zu tun. Wenn das auch keinen Sinn mehr hatte, keinen Sinn … Er wischte sich die Tränen aus den Augen und erkannte den Hengst. Der schimmerte heller, auch in dem schwachen Licht. Er ging zu ihm. Wahrscheinlich hielt der Hengst die fremde Stute neben sich. Januão erkannte das Vollblut, es hatte einen helleren Kopf. Er legte der Stute ein Halfter an und führte sie in den Patio, ins Licht. Seine Eltern schauten das Pferd an, tauschten einen Blick.
«Sie ist es», sagte Chomina.
«Wer?», Januão verstand nichts mehr.
«Dshallalalama», erklärte Tazihlo. «Die hat Dshirah nicht herumstreunend gefunden. Niemand außer Zaiira reitet dieses Pferd, und wenn sie wirklich einmal runterfällt, dann bleibt die Stute neben ihr stehen.»
«Glaubst du, Dshirah hat sie gestohlen?», fragte Januão. «Sie hat sie ja dann nur ausgeliehen. Sie war in Not …»
«Niemals», sagte der Vater, «würde sie sich mit nur einem Schuh am Fuß in das Haus eines araminischen Fürsten wagen, wenn nicht …»
Er zögerte.
«Es sind Zaiiras Sandalen», sagte Chomina. «Ich kenne sie. Dieses helle Leder – und es ist hier auf eine Weise geflochten, wie man es selten sieht. Wenn die Polizisten nicht so dumm wären, hätten sie gemerkt, dass dies nicht die Schuhe eines Hirtenkindes sind. Zaiira hat ihr die Schuhe gegeben.»
«Und das Pferd», nickte Tazihlo. «Zaiira und Dshirah sind Freundinnen. Sie treffen sich heimlich. Wir haben es gemerkt und geduldet. Aber wir wissen nicht, wie Zaiiras Eltern dazu stehen.»
«Doch, wir wissen es», widersprach Chomina. «Zaiira kann sich nicht heimlich aus ihrem Haus entfernen wie irgendein Hirtenkind. Ich bin sicher, ihre Eltern dulden diese Freundschaft auch. Wenn uns jemand helfen kann, dann sind es Antvaris.»
«Wie?», fragte Januão.
Sein Vater zuckte die Achseln.
«Ich reite hinüber. Du kommst mit.»
«Wenn ihr mich hier allein zurücklasst, werde ich wahnsinnig», sagte Chomina.
«Du musst bleiben. Wir haben die Herde noch nie allein gelassen. Wir tun es auch jetzt nicht. Du hast die Hunde hier. Und du packst alles für unsere Flucht. Denn gehen müssen wir. Wie auch immer.»
Januão hatte die Sandalen zusammengeschnallt und trug sie am Gürtel. Sie ritten zwei Arbeitspferde und führten Dshallalalama am Halfter. Sie kannten den Weg, und die Pferde liefen sicher, sogar in der Nacht. Im Haus der Antvaris brannten die Öllampen. Auch in den Ställen war Licht. Man öffnete den späten Besuchern sofort. Mitten im Hof stand Zaiira. Sie sah schlimm aus.
«Da ist sie!», rief Sidi Antvari. «Zaiira! Tazihlo hat sie gefunden.»
Aber Zaiira rührte sich nicht. Sie blieb starr und steif und ging keinen Schritt auf ihr Pferd zu. Ihr Vater nahm sie in die Arme, hob sie hoch, trug sie zu ihrer Stute, dabei redete er: «Danke, Tazihlo, du bist unsere Rettung. Zaiira, siehst du, da ist sie wieder. Und wenn du sie noch so gut erzogen hast, eine Stute läuft zu der Herde, wenn da ein Hengst ist. Vielleicht ist sie wirklich noch nicht gedeckt. Und danke, Tazihlo, dass du sie sofort gebracht hast …»
Aber Zaiira starrte nur auf die Sandalen an Januãos Gürtel. Dann verkroch sie sich in den Armen ihres Vaters, weinte und schluchzte, dass ihr ganzer Körper geschüttelt wurde. Ihr Vater hob den Kopf, schaute hilflos, ratlos um sich und sagte: «Was geht hier vor? Was ist hier los?»
Tazihlo fasste seinen Sohn an der Schulter, zog ihn mit sich, als er dicht an Sidi Antvari herantrat und ihm, gerade so laut, dass Januão es hören konnte, zuflüsterte: «Sidi, lass uns von hier fortgehen, bevor die Pferdeburschen merken, dass deine kleine Tochter nicht um ihr Pferd gezittert hat.»
Antvari stellte Zaiira wieder auf ihre Füße, und Januão sagte laut: «Nun hör auf zu weinen, Zaiira. Dshalla ist nichts geschehen. Ich habe sie gründlich untersucht. Sie ist nicht verletzt, überhaupt nicht. Und sei nicht mehr traurig, dass sie dir davongelaufen ist. Das ist doch nicht so schlimm.»
Er schob sie sachte zu ihrem Pferd und leise flüsterte er ihr zu: «Dshirah ist in Sicherheit.»
«Nein», Zaiira musste husten, erst dann konnte man sie verstehen, und sie sprach jetzt laut genug, dass alle sie hören konnten. «Nein, das ist nicht so schlimm. Sie ist ja wieder da. Bringt sie in den Stall.»
«Tazihlo», sagte Antvari, «wir sind dir zu größtem Dank verpflichtet, weil du das Pferd gleich heute Abend gebracht hast. Dies wäre eine schlimme Nacht geworden. Kommt und trinkt noch einen Tee mit uns. Wir brauchen keine Bedienung. Die Siada wird den Tee selber bereiten.»
Erst jetzt entdeckte Januão Zaiiras Mutter. Sie stand abseits, reglos. Ihr Gesicht konnte man nicht sehen. Sie hatte den Schleier bis tief über die Augen gezogen. Sidi Antvari ging voran. Er führte sie in seine Arbeitsräume. Die Siada huschte lautlos neben ihnen durch die Flure und Korridore. Sie war in diesem Flügel des Hauses fremder als Tazihlo, denn hier gingen nur Männer ein und aus. Und Zaiira. Sie war das einzige Kind der Familie, und ihr Vater ließ sie aufwachsen wie einen Sohn. Im Arbeitszimmer setzte sich die Siada abseits auf ein Kissen. Sie nahm den Schleier vom Gesicht, sagte nichts, bereitete auch keinen Tee, saß nur da mit großen, dunklen, erschrockenen Augen. So schaute sie aus einem dunkelroten Gewand heraus, das ihr über die Füße und halb über das noch dunklere Sitzkissen fiel. Obwohl niemand sprach, schien sie noch stiller als die anderen. Zaiira hielt sich dicht neben ihrem Vater. Keiner verlangte Tee.
Sidi Antvari setzte sich. Langsam schob er sich die Kissen zurecht, breitete seinen hellroten Mantel darüber – er machte es sich behaglich, wie man es bei den Araminen gewohnt war. Aber dass er nicht nach Tee verlangte, störte die Gemütlichkeit. Und dass eine Frau im Zimmer war, passte noch weniger zu einem Gespräch in den Arbeitsräumen eines araminischen Fürsten. Und wie diese Frau – dunkelrot mit schwarzen Augen – saß und schaute, das passte zu gar nichts im ganzen Kalifenreich. Araminische Fürstinnen hatten keine Angst.
«Tazihlo», begann Sidi Antvari, «meinen Dank habe ich ausgesprochen. Nun schuldest du mir eine Erklärung.»
Tazihlo nickte, aber er antwortete nicht. Da schnallte Januão die Sandalen vom Gürtel, gab sie Zaiira zurück und fragte: «Was weißt du?»
«Ich habe am Fenster gestanden», sagte Zaiira, «den ganzen Abend. Und ich habe Polizisten gesehen. Zwölf. Sie kamen von euch. Da wohnt doch niemand sonst.»
«Sie kamen von uns», nickte Januão, «aber ich sage dir nicht, was sie wollten. Du sollst sagen, ob du es weißt.»
«Ich weiß es», flüsterte Zaiira.
Und da berichteten sie, Tazihlo, Januão und Zaiira, sie erzählten alles. Danach saßen sie noch genauso im Raum: Zaiira kauerte auf ihrem Kissen und zitterte wie zuvor im Patio, ihr Vater sah noch immer gelassen aus, lehnte scheinbar entspannt an einem kleinen Teetisch, auf dem jedoch der Tee fehlte, und auch die Siada hatte sich nicht verändert, denn noch verschreckter konnte sie nicht aus ihren schwarzen Augen schauen.
«Ihr dürft nicht zu eurem Haus zurück», sagte der Sidi. «Wenn morgen die Soldaten kommen, müsst ihr fort sein. Ich überlege, wo ich euch einige Wochen verbergen könnte, bis es für euch möglich wäre, nach Afrika zu fliehen. Ich habe einige Landgüter in der Ebene und Jagdhäuser im Gebirge.»
«Das darfst du nicht, Herr», sagte Tazihlo. «Sie werden auch die Jagdhäuser in der Sierra untersuchen. Es wäre gefährlich für deine Familie. Sehr!»
Antvari nickte. «Dshirah ist die Einzige, die in Sicherheit ist. Du bist wirklich klug, Januão.»
«Aber sie kommt nie wieder raus!», rief Januão. «Nie!»
«Könnt ihr nicht morgen, gleich früh, alle nach En-Wlowa?», überlegte Antvari.
«Ich nicht», Januão schüttelte den Kopf. «Ich muss die Pferde vorbeipfeifen.»
«Dich könnte ich am ehesten als Pferdeburschen auf einem meiner Gestüte verstecken. Du, Tazihlo, bist am meisten gefährdet. Alle, die mit Halbblutpferden zu tun haben, kennen dein Gesicht.»
«Ihr denkt falsch.»
Das war die leise Stimme der Siada.
Januão schaute sich erst suchend im Zimmer um. Er hatte vergessen, dass da noch jemand war. Und keiner hatte von dieser Frau ein Wort erwartet.
Die Siada sprach leise weiter, ruhig und ohne Zittern in der Stimme: «Wenn ihr jetzt flieht, seid ihr verloren. Sie finden euch. Sie werden suchen, bis sie euch finden. Was wir brauchen, ist ein bardisches Mädchen, das sie für eure Tochter halten und das nur fünf Zehen hat. Davon gibt es schließlich genug.»