Kitabı oku: «Die Siebte Sage», sayfa 3
«Du erklärst ihr alles», sagte Januão zu seinem Freund, wendete sein Pferd nach Nordwesten und trabte davon, ohne Dshirah noch einmal anzusehen. Die wusste sofort, sie würde ihn so bald nicht wiedersehen. Nur hören. Sie schaute noch einmal auf ihr Haus, auf die Stallungen. Dann presste sie die Augen fest zu. Das Letzte, was sie von ihrem Zuhause wahrnahm, war Run, ein schwarz-gelber zitternder Fleck vor dem Stall.
Sie ritt mit Silbão nach Südwesten. Als sie sich ein einziges Mal umdrehte, war ihr Bruder nur noch ein kleiner Punkt in der Ferne. Silbão hielt sich mit einer Hand in der Mähne fest, führen musste Dshirah.
«Wir suchen die Herde?», rief sie ihm zu.
Er nickte.
Sie fand die Zuchtstuten schnell. Es ging auf den Abend zu, und die Herde war schon auf dem Heimweg. Es waren 24 Sorraia-Stuten, alles Falben. Sechs hatten schon ihre Fohlen geboren, dunklere, wollige Körperchen sprangen auf endlos langen Beinen um sie herum. Es führte sie Je-ledla, die alte Leitstute, es trieb sie von hinten ein weißer Vollbluthengst aus dem Stall des Kalifen. Dshirah ritt auf ihre alte Freundin Je-ledla zu. Auf ihr hatte sie reiten gelernt. Um den Hengst kümmerte sie sich nicht. Er würde folgen. Sie legte Je-ledla das Halfter an.
«Wohin?», fragte sie.
«Ich mache bestimmt alles falsch», sagte Silbão.
«En-Wlowa liegt ungefähr da», Dshirah zeigte nach Norden.
Silbão nickte: «Ja, aber wir müssen nach Westen.»
Dshirah ritt mit Je-ledla voraus. Die Herde folgte. Schon stand die Sonne am westlichen Himmel, aber noch hoch, sie zeigte keine rötliche Färbung. Es ging leicht abwärts, der Weg wurde steiniger, nah im Norden sahen sie den flachen Hügelzug, hinter dem En-Wlowa liegen musste. Plötzlich fiel Dshirah mit einem jähen Schrecken ein, dass sie sich freuen musste. Sie hatten bestimmt schon mehr als die Hälfte des Weges hinter sich, und sie hatte sich noch nicht ein kleines bisschen daran gefreut. Es war so wichtig, dass sie sich freute. Denn dies war ihr letzter Ritt auf einem Sorraia-Pferd.
In Afrika gibt es Pferde, hatte Januão gesagt.
Kleine, hatte Januão gesagt.
Sorraias gab es da offenbar nicht.
Ich muss mich freuen, dachte Dshirah, jetzt, schnell!
«Oh, wir müssen traben!», rief Silbão. «Wir müssen schneller sein als sonst. Ich muss dir ja noch alles erklären. Los!»
Er stieß seinem Pferd die Hacken in die Seite. Das machte einen Satz und hätte er nicht die Hand in der Mähne gehabt, wäre er hinuntergefallen.
Dshirah trabte an. Je-ledla lief ruhig neben ihr.
«Schneller!», rief Silbão. «Sonst fängt Januão an zu pfeifen und du weißt nicht wohin!»
Sie ritten der Sonne entgegen.
Freuen!, dachte Dshirah, ich muss mich freuen.
Sie schaute zurück. Hinter ihr wogten die Rücken der hellen Pferde wie ein gelber Fluss. Sie trabten, nur der Hengst – eine weiße Schaumkrone am Schluss – galoppierte. Er war ein ausgebildetes Reitpferd und beherrschte den langsamen Galopp. Dshirah beugte sich nach rechts und legte Je-ledla eine Hand auf die dunkle Mähne hinter den Ohren. Nie wieder würde sie dieses Pferd berühren. Nie wieder eines, das so ähnlich aussah.
«Da!», rief Silbão. «In die Senke.»
Jetzt verstand Dshirah, warum ihnen die Pferde so willig gefolgt waren. Die Senke war voller Silbergras. So nannten sie die langen, dünnen Halme, weil sie von einer Seite silbrig schimmerten. Alle Pferde liebten Silbergras. Da würden sie bleiben, bis Januão sie rief, obwohl daheim am Stall ihre salzigen Lecksteine auf sie warteten. Dshirah zog Je-ledla das Halfter über die Ohren. Nun musste sie auch die Stute gehen lassen. Sofort hatten alle Pferde ihre Nasen im Gras, nur die Fohlen ließen sich von den dünnen Halmen die Nüstern kitzeln. Dshirah und Silbão aber ritten davon, jetzt auf die Hügelkette zu. Sie folgten einem kleinen Bach, der von den Bergen kam und der am Fuß des Hügels in einer Höhle verschwand. Dort nahm Dshirah Je-ledlas Halfter auseinander und fesselte damit ihren beiden Pferden die Vorderbeine. Sobald die Januãos Pfeife hörten, würden sie versuchen, dem Ton zu folgen. Silbão kletterte schon den Hügel hinauf. Dshirah folgte.
«Wart mal», rief sie ihm leise nach. «Du musst nachher mit den Pferden zu Januão. Kriegst du sie über den Bach?»
Silbão nickte: «Mach ich immer!»
Verborgen hinter Felsen und Sträuchern schauten sie hinüber auf die Blumenmauer von En-Wlowa, mitten darin drei Blumentore, darunter je zwei Wächter in roter Uniform, bewaffnet mit Speer und Pfeil und Bogen, stehend neben ihren gesattelten Pferden.
Silbãos Unterlippe zitterte.
«Nicht stottern jetzt», sagte Dshirah und griff nach seiner Hand. «Du musst mir nun erklären, was ich tun soll.»
Er nickte, presste die Lippen zusammen, aber als er sie wieder öffnete, zitterten beide, und alles, was er schließlich herausbrachte, war: «I-i-i-ich mache alles falsch.»
Dshirah versuchte zu fragen.
«Januão wird gleich die Pferde rufen?»
Er nickte.
«Die Wächter werden ihre Pferde halten müssen. Oder die werden ihnen durchgehen. Und dann soll ich da irgendwie rein?»
Er nickte.
«Man kann durch die Mauer?»
Er nickte.
«Wo?»
Er zeigte nach Westen.
«Also», flüsterte Dshirah, «also laufe ich los, wenn die Herde dort vorbei ist?»
«Ja.»
Dshirah hielt den Atem an, immerhin, ein Wort hatte er wieder herausgebracht. Sie wartete, dass er weitersprach.
«Du musst nur hinter die Blumen. Da. Die hängen da runter. Dann sehen sie dich nicht mehr. Dann musst du gucken und das Loch finden. Aber schnell! Sonst bringen sie dich um.»
«Warum rennen die da drin dann nicht alle weg?»
«Sie rennen. Aber sie kommen nicht weit. Wenn die wegrennen, dürfen die Wächter sie erschießen. Januão sagt, das soll so sein. Wenn sie nicht immer mal welche erschießen, wird es da drin zu voll. Ist schon voll.»
«Was soll ich machen da drin?»
Silbão zuckte die Achseln.
«Warten. Bis wir dich rausholen. Sie kriegen zu essen.»
Er kroch auf dem Boden herum, hielt sich verdeckt von dem niedrigen Strauch, er hob kleine Steine auf, ließ sie fallen, behielt einen spitzen mit scharfer Kante.
«Komm!»
Er zog sie zu sich heran, säbelte mit dem Stein an dem Hirtenzeichen auf ihrer Schulter herum, bis er eine Ecke gelöst hatte, da riss er es ab.
«Jetzt siehst du aus wie die anderen. Nur dicker.»
«Ich habe Angst.»
Er nickte.
«Du gehst zum letzten Haus nach Nordosten, da fi-fi-fi-»
«Silbão!»
Sie schrie zu laut, sie wusste es. Sie packte seine Schultern und schüttelte ihn. Manchmal, wenn die Worte in ihm stecken blieben, konnte man sie herausschütteln.
«Ma-ma-ma-ma-meine Schwester. Du erkennst sie, man erkennt sie immer noch.»
Jetzt zitterte Dshirahs Unterlippe. Silbãos Schwester war seit fast zwei Jahren verschwunden.
«Deine Schwester?», fragte sie. «Ist die da? Da ist sie?»
Aber Silbão konnte nicht mehr reden. Er öffnete den Mund. Sie sah, wie seine Zunge darum kämpfte, Laute zu formen, er fasste sich an den Hals, aber er stieß nur tonlose Luft heraus, würgend, als hätte er eine Fischgräte in der Kehle.
Da hörten sie aus der Ferne einen langen, leisen, klagenden Ton. Sie wandten die Gesichter nach Osten. Dshirah schloss die Augen. Alles, was ihr Bruder spielte, erkannte sie am ersten Ton. Dies war sein traurigstes Lied. Wie hätte es auch anders sein können. Januão spielte Flöte, seit er das Instrument halten konnte, aber er hatte bis jetzt nicht gelernt zu spielen, was andere von ihm forderten. In seine Flöte floss immer, was er im selben Atemzug spürte. Dieses Lied hatte Dshirah zum letzten Mal gehört, als ihr winziges Schwesterchen vor zwei Jahren starb. Silbão stieß sie an und drehte ihren Kopf zur Blumenmauer. Auch die Wächter schauten nach Osten, alle. Ihre Pferde fingen an zu tänzeln. Und nun hörten sie von der anderen Seite das Wiehern des Hengstes. Es klang nicht schrill wie sonst, wenn er seine Stuten trieb, es klang dunkel wie die Töne aus den langen Holzröhren, die in manchen Patios hingen. Noch niemals hatte Dshirah ein solches Wiehern gehört. Auch die Wächter wandten den Kopf. Nun blickten sie gerade in die untergehende Sonne. Dshirah erkannte den Plan ihres Bruders: Die Wächter hatten nicht nur mit ihren unruhigen Pferden zu kämpfen, sie schauten auch der Herde entgegen und würden von der Sonne geblendet sein.
Silbão hatte den Kopf auf die Knie gelegt und die Hände über die Ohren gepresst. Dshirah starrte entsetzt auf die schwarzen Locken, die durch seine Finger quollen. Er musste ihr noch so viel erklären, und er brachte kein Wort mehr heraus. Da schlug die Angst wie schwere Pauken in ihrem Kopf und übertönte die Flöte.
«Silbão!» Sie packte und schüttelte ihn. «Was soll ich tun da drin? Und wie, wie komme ich wieder raus?»
Er blickte auf. Sein Gesicht schien zerstört, schief hing sein Mund und die Augen wirkten blöde. Sie schüttelte ihn. Aber es hatte keinen Sinn. Es sah aus, als ob dieser Junge noch niemals hätte sprechen können.
«Wo finde ich deine Schwester?»
Er zeigte nach Nordosten. Auch sein Arm zitterte. Da kamen die Pferde.
Man hörte sie kaum. Der Boden war sandig. Ihre unbeschlagenen Hufe machten fast kein Geräusch. Und immer wenn Januão spielte, wurden ihre Körper leicht wie Federbälle. Nur zögernd lösten sich die gelben Leiber der Stuten wie große goldene Tropfen aus der Sonne und flossen weiter über die Ebene. Dshirah konnte Je-ledla nicht mehr erkennen, denn es gab keine einzelnen Pferde mehr. Sie waren eine schwebende Schar von Wesen, die vielleicht von einem anderen Stern auf die Erde gefallen waren. Eine alte Geschichte erzählte, so seien Pferde entstanden.
Die Paukenschläge! Die trommelnde Angst! Das Einzige, was Dshirah retten konnte, war die laut lärmende Panik in ihrem Kopf. Wenn sie hier weiter lauschte und schaute, kam sie niemals nach En-Wlowa. Aber die Pauke war nur noch ein sanftes, tiefes Beben im Bauch, über dem hoch in der Luft Januãos Flöte schwebte. Auch Silbão neben ihr hatte wieder sein schönes Gesicht, nicht jedoch seine Sprache gefunden. Vier der Wächter hielten ihre tobenden Pferde am Zügel. Zwei waren aufgesessen, hatten aber die Speere verloren, ihre Pferde mischten sich unter die Sorraia-Stuten, weiße Flecken im gelben Fluss und darüber das Rot der Uniform. Von der anderen Seite des Hügels schrien die beiden gefesselten Reitpferde, im Osten ein einzelner Reiter. Die Musik wurde lauter.
Da sagte, klar und deutlich, Silbão ein einziges Wort: «Jetzt!»
Das war ein Befehl.
Dshirah sprang hinter dem Strauch hervor und stürzte den Hügel hinunter. Niemand würde sie sehen. Nicht ein einziger Blick ging in ihre Richtung. Und auch sie sah nichts mehr. Und hörte die Flöte nicht mehr. Die Angstpauken waren wieder laut und lärmend, und alles, was sie spürte, war der Schmerz im rechten Fuß, mit dem sie zu lange barfuß gelaufen war. Sie jagte über die Ebene. Ein gesatteltes Pferd galoppierte an ihr vorbei. Es hatte seinen Reiter abgeworfen. Sie sah einen großen roten Fleck reglos auf dem von Hufen zertrampelten Boden liegen. Ein Bündel Lumpen rannte ihr entgegen. Als sie aneinander vorbeiliefen, traf sie ein verwunderter Blick aus einem knochigen, schmutzigen, jungen Gesicht. Sie erreichte die Blumenmauer und schlüpfte unter den Blütenvorhang. Sie lehnte sich an die Mauer und schloss die Augen. Sie sah und hörte nichts mehr. Da war nur noch der Duft der Blumen, schwer, betäubend, wie starkes Parfüm.
Hinter der Blumenmauer
Dshirah saß und rührte sich nicht. Sie tat nichts als atmen, das war mühsam genug. Die Luft fühlte sich an, als hätte der schwere Duft der Blumen sie in einen zähen, klebrigen Brei verwandelt. Die Augen hatte sie geschlossen, denn da war ein unangenehmes Kitzeln auf ihren Augenlidern. Sie öffnete den Mund, weil sie durch die Nase nicht genügend Luft bekam. Es krabbelte auf ihren Lippen, sie atmete etwas ein, musste husten, schlug die Augen auf, da krochen ihr Fliegen in die Augen, sie schlug die Hände aufs Gesicht, vertrieb und zerdrückte Fliegen. Fort, nur fort, hier konnte sie nicht bleiben. Und sie sprang aus der Blumenmauer zurück in die Ebene.
Niemand sah sie, denn noch immer spielte ihr Bruder. Sie entfernte sich ein paar Schritte von der Blumenmauer, bis sie die Luft wieder atmen konnte. Auch die Fliegen blieben zurück. Nun hörte sie wieder Januãos Flöte und sah die Pferde nach Osten laufen. Das machte sie so traurig, dass ihr Herz klein wurde wie eine getrocknete Weinbeere. Sie stand mit hängenden Armen und vergaß, dass sie fliehen musste.
«Wenn du traurig bist», sagte ihre Mutter immer, «wird dein Herz so klein wie eine getrocknete Weinbeere.»
Und dann nahm sie meist eine trockene Weinbeere aus dem weißen Leinensack, die legte sie in eine Schale mit Honigwasser, und Dshirah durfte vor der Schale sitzen und zuschauen, wie die Weinbeere wieder groß und rund und prall wurde. Wenn sie die süße Kugel dann essen durfte, war sie nicht mehr traurig, schon lange nicht mehr.
Gab es Honigwasser in En-Wlowa? In Tränen getaucht konnte ihr verschrumpeltes Weinbeerenherz nur ein bitterer Trost werden. Und sie sollte hier nicht stehen mit hängenden Armen und hängendem Kopf. Sie sollte fliehen! Fliehen! Aber Januão spielte noch immer.
Würde es in Afrika Weinbeeren geben? Sie wusste nicht viel von Afrika. Sie wusste von Afrika nicht viel mehr, als dass es weit weit fort war von Zaiira. Und da waren die letzten Töne von Januãos Lied. Sie öffnete den Mund, um die verklingende Melodie einzuatmen, mitzunehmen – die konnte sie doch nicht auch noch verlieren –, aber das Lied verklang, es ließ keinen Rest in der Luft, nicht einmal Spuren im Sand. Drüben auf dem Hügel sah sie die magere Lumpengestalt im Gestrüpp verschwinden und Silbão sah sie, der wild mit den Armen winkte. Sie musste zurück in den schrecklichen Duft der Blumen und zu den Fliegen, in wenigen Herzschlägen würde der Zauber von Januãos Musik zerfallen. Aus dem Staub erhob sich die rote Uniform des gestürzten Wächters. Er taumelte halb bewusstlos, schien aber nicht schwer verletzt. Dshirah lief ein paar Schritte an den Blumen entlang weiter nach Westen. Vielleicht war es dort besser. Vielleicht war sie da näher an dem Loch in der Mauer. Und sie stürzte sich, Augen und Mund geschlossen, in die bunten Blüten. Sie drückte sich gegen die Mauer, hielt die Hände über den Mund, atmete durch schmale Schlitze zwischen ihren Fingern. Ihr Kopf wurde schwer, ihre Hände und Füße auch. Mit jedem Atemzug wurde sie müder. Sie hörte auf zu atmen, aber das ging nicht, nicht so lange, bis sie das Loch in der Mauer gefunden hatte. Sie schnappte nach Luft, nach der duftschweren, breiigen Luft, sie fühlte sich wie ein Stein, ihre Hände tasteten an der Mauer entlang, aber sie spürte kaum noch einen Unterschied zwischen ihren Fingern und dem Stein. Und Fliegen, Fliegen überall. Sie konnte die Augen nicht öffnen, sie sah dann auch nicht mehr, nur Fliegen, Fliegen überall. Sie sah und fühlte nichts mehr, sie konnte auch nichts riechen, ihr Geruchssinn war erschlagen von dem Duft der Blumen. Da versuchte sie zu hören, versuchte die allerletzten Reste von Januãos Lied aus der Luft herauszulauschen, aber das war längst verklungen. Stattdessen hörte sie tief in ihrem Innern die Stimme ihrer Mutter. Die hatte ihr einmal erzählt, es gebe Blumen, die seien so bunt und so schön, dass sie jeden zum Tanzen fröhlich machten, aber sie dufteten jeden zu Tode, der zu lang aus ihnen atmete. Sie hatte Angst, sie fiel, sie stürzte in die Mauer und in einen anderen Geruch.
Verfaultes und Faulendes stank und mischte sich mit dem Blumenparfüm. Sie blinzelte durch halb geöffnete Augen. Sie saß mitten in der Mauer. Die war so breit wie die Kruppe von zwei Arbeitspferden. Auf Händen und Knien kroch sie nach En-Wlowa. Die harten Steine schürften ihr die Haut auf. Das machte sie wach genug, durch den lähmenden Duft in den Dreck des Lagers zu krabbeln. Sie war in Sicherheit, in einer stinkenden, dreckigen, engen Sicherheit. Sie kroch weiter fort von den Blumen, von den Fliegen. Sie setzte sich auf den Boden, öffnete die Augen und den Mund. Sie konnte wieder atmen. Das hier war nur Gestank.
Über ihr schwankten schmutzige magere Gesichter mit lächelndem Mund und glücklichen Augen, aus denen ganz langsam wie zäh fließender Honig das Glück hinausfloss. Solche Blicke kannte Dshirah. Verzweifelte Menschen, die Januãos Musik gehört hatten, behielten noch viele Herzschläge lang die Freude in den Augen. Auch die Gefangenen hatten sein Spiel gehört, und so traurig seine Melodie heute gewesen war, so schön war sie doch. Dshirah streckte eine Hand aus.
«Bitte», sagte sie, «bitte …»
Vielleicht konnte sie noch ganz schnell, bevor der Zauber der Musik vollends verging, von diesen Leuten erfahren, wo Silbãos Schwester war. Sie wusste ja nicht, wie diese Leute waren, wenn sie nicht mehr unter dem Eindruck von Januãos Lied standen. Die sahen alle so eckig und kantig und spitz aus, und sie waren so grau, wie auch zehn Regentage die Berge nicht machen konnten. Und sie waren ja Verbrecher, alle miteinander, sonst wären sie doch nicht hier.
«Bitte», sagte sie, «wo …»
Aber sie hatte vergessen, wie Silbãos Schwester hieß. Da fiel ihr ein, dass es in wenigen Augenblicken dunkel sein würde, und im selben Atemzug merkte sie, wie hungrig sie war – sie hatte seit dem Morgen nichts mehr gegessen. Mit hastigen Augen schaute sie sich um. Zwischen den mageren Körpern der grauen Gestalten sah sie verfallende Hütten aus Holz. Sie erhob sich auf die Knie, aber dann blieb sie lieber sitzen. Eigentlich wollte sie sich verkriechen, wollte fort von diesen Leuten, die doch alle Mörder waren oder mindestens Diebe, fort – nur nicht zurück in die Blumen. Sie schaute sich um. Die Blumen wuchsen oben auf der Mauer, und auch hier innen hingen sie hinunter bis in den Dreck. Die Dämmerung begann den großen Blüten die Farben zu nehmen. Sie machte sie den Gesichtern und den Kleidern der Menschen ähnlich, nur nicht deren Geruch. Ein Mann trat auf Dshirah zu.
«Was kommst du hier rein?», fragte er. «Wir kennen nur welche, die rausgehen.»
Was sage ich ihm?, dachte Dshirah. Oh, wir haben nicht überlegt – ich kann ihm doch nicht sagen –
Da drängte sich eine Frau durch die Reihe.
«Hast du einen Jungen gesehen?», fragte sie. «Der rausrannte?»
Dshirah nickte.
«Ist er durchgekommen? Bis zum Hügel?»
Dshirah nickte: «Ja, ich habe ihn am Hügel gesehen.»
Die Frau schloss die Augen, taumelte, lehnte sich an einen anderen, fand nur wenig Halt, schwankte, flüsterte: «Danke. Danke.»
«Doch – es kommen welche rein», sagte eine andere Frau. «Dieser Junge. Er war schon dreimal hier.»
Dshirah horchte auf.
«Er besucht seine Schwester», sagte sie rasch. «Das will ich auch. Wisst ihr, wo seine Schwester …?»
Kopfschütteln. Achselzucken.
«Der ist ein ganz Schneller», sagte einer. «Der flitzt hier so durch. Der hat Kraft und keinen Hunger.»
Dshirah stand auf.
«Ich muss sie suchen», sagte sie, «seine Schwester. Sie wohnt da.»
Sie ging nach Nordosten. Noch konnte sie sehen, wo die Sonne untergegangen war. Niemand stellte Fragen, keiner hielt sie auf. Nur die Frau, die nach dem geflohenen Jungen gefragt hatte, griff nach ihrer Hand und drückte sie. Dshirah schaute in Augen, die aus der Dunkelheit leuchteten. Da hatte sie etwas weniger Angst.
Sie irrte durch die Gassen zwischen verfallenen Holzhäusern. En-Wlowa musste vor sehr langer Zeit einmal ein Dorf gewesen sein, als es hier noch Wälder gegeben und man mit Holz gebaut hatte. Sie fand keinen geraden Weg nach Nordosten, musste nach rechts, nach links und wusste schon bald nicht mehr, wo die Sonne untergegangen war. Es wurde kalt. Sie hatte nur Kleidung für die Zeit der Sonne am Himmel, und es war in diesem Land bei Tag so heiß, wie es nachts kalt war. Sie schloss das Hirtenhemd fest um den Hals, aber wenn sie sich den Hals damit wärmte, zog sie es von den Knien weg, und ihre Beine wurden kalt. In ihrem Bauch war die Blase so voll, wie der Magen leer war. Gab es hier Abtritte? Plötzlich war es ihr dringlichster Wunsch, einen Abtritt zu finden. Sie spürte keine Kälte mehr, keinen Hunger, keinen Durst. Aber sie fand einen Brunnen. Und sofort hatte sie wieder Durst. Doch trinken? Noch mehr in die Blase füllen? Und war das Wasser denn sauber? War es gut? Es glänzte dunkel im Mondlicht. Dshirah starrte auf den hellen Strahl, der aus dem Holzrohr in das steinerne Becken rann. Sie presste die Beine fest zusammen und drückte die Hände unter den Bauch. Sie durfte den Wasserstrahl nicht mehr anschauen, sie musste den Kopf abwenden und konnte es nicht – da rann es warm in ihre Schenkel. Sie hockte sich schnell auf den Boden und raffte das Hemd. Schaute ihr jemand zu? Bestimmt war es verboten, neben den Brunnen zu pinkeln, bestimmt. Eine dürre Gestalt beugte sich von der anderen Seite über den Brunnen, schnappte nach dem Wasserstrahl, ließ sich das Wasser in den Mund laufen, ging davon. Und im selben Herzschlag bedauerte Dshirah, dass die Wärme da aus ihr herauslief, es war ihre einzige Wärme, sie hatte sonst keine für diese Nacht. Sie sah diese Wärme als Rinnsal aus dem Brunnenschatten ins Mondlicht laufen. Sie erhob sich und trank aus dem Brunnen. Das Wasser war frisch. Und kalt.
Sie ging weiter. Sie dachte an die Frau, die sich so gefreut hatte, dass der Junge geflohen war. War er ihr Sohn? Hatten die Leute hier Kinder? Oder hatte sie ihn nur gern? Gab es hier Leute, die jemanden gern haben konnten? Würden die auch sie gern haben? Sie dachte an ihre Mutter und weinte. Nicht weit vom Brunnen, sie konnte ihn sehen, kauerte sie sich in einen Spalt zwischen zwei Häusern. Das Holz hatte noch etwas Wärme vom Tag. Sie zog ihr Hemd über die Knie, konnte aber die Füße nicht bedecken. Sie schlüpfte mit beiden Armen in das Hemd hinein. Aber da packte sie die Angst. Auf der anderen Seite der Gasse sah sie einen Mann an die Holzwand gelehnt sitzen. Wenn der jetzt käme oder ein Hund oder eine Ratte – sie hatte keinen Arm frei, um das abzuwehren, nicht einmal eine Hand, um ihr Gesicht zu bedecken. Der Mann bewegte sich nicht, vielleicht schlief er schon. Da dachte sie ganz fest an ihre Mutter. Sie stellte sich vor, dass die Mutter mit einer warmen Hand durch ihr Hemd, durch ihre Haut in ihre Brust griff. Es tat nicht weh. Die Mutter nahm ihr das getrocknete Weinbeerenherz aus der Brust und legte es in Honigwasser. Und während Dshirah zuschaute, wie es aufging, wie es groß und weich und dick wurde, weinte sie sich die allerletzte Wärme aus dem Körper, bis ihre Tränen schon kalt waren, als sie ihr aus den Augen flossen.
Sie erwachte am frühen Morgen und wusste, dass sie etwas geträumt hatte, aber sie wusste nicht mehr, was. Es war zu kalt, um sich an Träume zu erinnern. Träume hielten sich unter warmen Decken. Hier klemmte sie so steif gefroren zwischen Holzwänden wie vor zwei Jahren Je-ledlas verunglücktes Fohlen in den Felsen. Das war schon tot gewesen, als sie es gefunden hatten, aber es war wärmer als Dshirah, denn die Stute hatte über ihm gestanden und es geleckt mit ihrer warmen Zunge. Dshirah fühlte sich kälter als tot. Der Mann auf der anderen Seite der Gasse schlief noch. Er kauerte noch genauso wie am Abend zuvor.
Am Himmel erschien das erste Licht. Menschen kamen zum Brunnen, hielten Schalen unter den Wasserstrahl, tranken. Dshirah sehnte sich nach ihrem heißen Morgentee. Eine der grauen Gestalten trat auf sie zu und hockte sich neben sie.
«Ich habe dir Bruns Schale gebracht», sagte sie. «Er braucht sie ja jetzt nicht mehr. Ohne Schale bekommst du hier nichts zu essen.»
Dshirah erkannte die Frau, die gestern nach dem geflohenen Jungen gefragt hatte. Sie reichte ihr eine kleine hölzerne Schale. Dshirah wollte danach greifen, konnte aber den Arm nicht bewegen. Die Frau nahm ihre Hand, hielt ihre kleinen, dünnen Eiszapfenfinger, und in ihren Augen waren so ein Schreck und so ein weiches Mitleid, dass Dshirah tief in sich einen warmen Klumpen spürte, der immer größer wurde, als sei in ihrem Bauch die Sonne aufgegangen. Die Frau löste sie aus dem Holzspalt, hüllte sie in ihre weiten Lumpen und umfing sie mit den Armen, bis die richtige Sonne so weit in das Lager schien, dass ihre Strahlen zu wärmen begannen. Dshirah sah die Frau an, wie sie gern ihre Mutter angeschaut hätte. Dann reckte sie sich langsam in der Sonne. Allmählich konnte sie Arme und Beine wieder bewegen.
Am Brunnen war es voll geworden. Alle standen ruhig in einer Reihe, als aus einer Gasse sieben oder acht weitere Gestalten kamen, genauso grau wie die anderen, aber sie gingen schneller und kraftvoller. Sie stellten sich nicht hinten an, sondern liefen gleich nach vorn. Dort machte man ihnen Platz. Nur einer stellte sich ihnen entgegen. Den packten sie an der Kehle, warfen ihn zu Boden, traten ihm in den Bauch, auf den Hals, ins Gesicht. Er blieb liegen und krümmte sich im Dreck. Er blutete auch. Dshirah starrte ihn an, als die Frau an ihrem Arm zog. Die schaute woandershin und zerrte sie ans Ende der Schlange.
«Wenn wir noch länger warten, kriegst du nichts Warmes mehr zu essen», sagte sie. «Wir müssen immer mit Wasser in der Schale kommen. Wer mit leerer Schale kommt, kriegt keinen Brei.»
Sie kamen ziemlich schnell voran. Schon hatte sich hinter ihnen eine sehr viel längere Schlange gebildet. Sie näherten sich dem blutenden Mann am Boden.
«Da!», sagte Dshirah.
Aber die Frau fragte: «Weißt du, wann der Pferdepfeifer wieder kommt?»
Dshirah schüttelte den Kopf. Sie erreichten den Brunnen.
«Erst trinken», riet die Frau, «und dann mit halb voller Schale weitergehen.»
Sie gingen alle in dieselbe Richtung und trugen die Schalen mit Wasser vor sich her.
«Bevor sie dir Brei geben, musst du das Wasser ausgießen. Wir glauben, sie machen das so, damit die Kämpfe am Brunnen stattfinden und nicht da, wo sie das Essen austeilen. Mit halb vollen Wasserschalen kann man nicht kämpfen.»
Während sie durch die Gassen gingen, fiel Dshirah plötzlich ein, dass sie vergessen hatte, sich zu merken, wo die Sonne aufgegangen war.
«Weißt du, wo Nordosten ist?», fragte sie erschrocken.
Die Frau nickte.
Mitten auf einem kleinen Platz war eine steinerne Statue von Armei dan Hasud. Sie war schmutzig, wurde offenbar nicht gereinigt und sah aus, als hätte man sie mit Dreck beworfen. Zwei Männer, die genauso grau, aber weniger zerlumpt waren als die anderen, standen daneben. Sie waren deutlich dicker und kräftiger. Um sie herum wimmelte es von Fliegen. Vor ihnen war schon eine Wasserpfütze, weil alle dort ihre Schalen leer gossen. Jeder bekam eine Kelle Brei. Auch Dshirah erhielt einen Klecks. Sie verscheuchte die Fliegen und griff mit den Fingern in die gelbe Masse. Die schmeckte nach nichts, höchstens ein wenig bitter, wahrscheinlich war es Hirse, aber der Brei war warm. Sie aß sehr langsam, während sie weiterging, kaute, obwohl es nichts zu kauen gab, und dachte ans Essen und nur an das Essen, denn sie hatte die Stimme des Vaters im Ohr: «Denke beim Essen an nichts als an essen. Mit jedem Gedanken an Wetter, Arbeit, Sorge fütterst du Wetter, Arbeit, Sorge und nicht dich.»
So bald, das wusste sie, würde sie nicht wieder etwas zu essen bekommen, denn die Gefangenen sahen halb verhungert aus. Dieser Brei musste wahrscheinlich für den ganzen Tag reichen, aber sie versuchte, auch daran nicht zu denken, und als ihre Schale leer war, hatte sie die freundliche Frau verloren.
Sie stand und schaute, suchte das Gesicht der Frau, suchte ein anderes, das Silbão ähnlich war. Aber Silbão war schön, und die hier waren hässlich, alle. Solche Menschen hatte sie noch nie gesehen.
Die Sonne! Sie musste die Sonne beachten! Es war gewiss noch früh am Morgen. Noch konnte sie ungefähr erschließen, wo Nordosten war. Sollte sie sofort dahin gehen? Aber da war jetzt niemand. Alle drängten sich auf dem Platz zusammen. Wenn die Sonne jedoch erst einmal hoch am Himmel stand, würde sie sich nicht mehr zurechtfinden.
Dshirah brach auf. Die Hütten standen eng, aber sie waren niedrig, sie konnte immer die Sonne sehen. Sie schaute in alle Holzverschläge, ob vielleicht darin ein Abtritt war. Schon fühlte sie ein Drängen im Darm.
Was mache ich mit der Schale, wenn ich hocken muss?, dachte sie. Sie konnte nicht hoffen, dass sie hier einen Abtritt finden würde, in dem sie ihre Schale auf den Boden legen mochte. Daheim im Haus ihrer Eltern und in Al-Cúrbona war alles sauber. Sie kannte keinen Dreck.
Was machen die anderen mit den Schalen?, dachte sie.
Ihr war klar, dass sie die Schale auf keinen Fall verlieren durfte.
Hat jeder sein eigenes heimliches Versteck? Oder muss man sie abgeben und bekommt sie am Morgen ausgeteilt? Nein, die Frau hat gesagt, dies ist die Schale von –
Den Namen des geflohenen Jungen hatte sie vergessen.
Sie ging weiter nach Nordosten, scheuchte die Fliegen von der Schale und leckte sie sauber, bis es für die Fliegen da nichts mehr zu suchen gab. Sie schnüffelte. Aus der Richtung, in die sie ging, kam üblerer Gestank. Auch waren die Menschen, die ihr mit leeren, trockenen Schalen entgegenkamen, die elendsten von allen. Sie trugen Kittel wie sie. Bei einigen sah sie noch die hellere Stelle, wo das Klassenzeichen von der linken oder der rechten Schulter gerissen war. Einmal sah sie ein Kind. Ob es ein Junge oder ein Mädchen war, konnte sie nicht erkennen, es war bloß dünn und grau. Sie schauten sich kurz an, blieben aber nicht stehen.
Die Fliegen wurden nicht weniger, obwohl Dshirah nicht mehr den kleinsten Rest Brei in ihrer Schale hatte. Sie liefen auf ihren Händen herum, saßen in ihren Mundwinkeln, sie schlug um sich, die Schale fest in der Hand, da stand sie vor einem Bretterzaun. Von dort kam der Gestank. Und mit Würgen in der Kehle begriff sie, dass sie gefunden hatte, was sie suchte.