Kitabı oku: «Der Tango des Todes», sayfa 2
2

Der Kleister spritzte in alle Richtungen, als Fredi Jaspers mit der triefenden Bürste über die Tapetenbahn jagte. Richard Borowka, der auf einer Trittleiter an der Wand stand und eine bereits aufgeklebte Bahn von oben nach unten und von der Mitte zu den Seiten hin vorsichtig glatt strich, regte sich nicht zum ersten Mal an diesem Tag auf. „Sag mal, Fredi geht’s noch? Jetzt hab ich schon wieder was im Auge gekriegt. Pass mal ein bisschen auf.“
Fredi winkte gut gelaunt ab. „Ja, ja, mach dir mal nicht im Hemd.“ Er legte die Bürste ab und faltete die vollgesogene Tapete vorsichtig zusammen. Dabei achtete er peinlichst genau darauf, dass die Längskanten exakt aufeinanderlagen. Auch faltete er die Endkanten nicht zusammen, sondern bildete kleine Schlaufen – wie ein Profi. Zufrieden mit seiner Arbeit legte er die vorbereitete Tapetenbahn auf einen Stuhl und breitete die nächste auf dem Tapeziertisch aus. Fredi wollte bei der Renovierung nichts dem Zufall überlassen. Wenn Sabrina, seine Freundin aus Berlin, schon zu ihm ins 650 Kilometer entfernte Saffelen zog, dann sollte auch alles perfekt sein. Wobei es sogar Sabrina gewesen war, die diesen Umzug vorangetrieben hatte. Fredi wäre auch in Berlin geblieben. Eigentlich hatte er sich schon fast an die Großstadt gewöhnt. Das Einzige, was ihn störte, war die allgegenwärtige Gewalt – jedenfalls in dem Bezirk, in dem er wohnte. Wenn es früher in seiner Stammdisko in Himmerich mal Streit gegeben hatte, dann hatte man diesen noch ehrlich und fair beigelegt, nämlich mit den Fäusten. In Berlin kam man mit dieser Politik nicht weit. Dort regierten Messer, Schlagringe und manchmal sogar Feuerwaffen. Nicht nur einmal waren er und seine Freundin in brenzlige Situationen geraten. Sabrina war sogar zweimal innerhalb eines Monats in der U-Bahn angepöbelt worden.
Als die beiden dann das letztjährige Weihnachtsfest in Saffelen bei Fredis Mutter verbracht hatten, hatte diese den beiden plötzlich eröffnet, dass sie zu ihrer ebenfalls verwitweten Schwester nach Uetterath ziehen und Fredi das Haus vermachen wolle. Und ihr größter Wunsch sei es, dass sie beide dort einziehen. Während Fredi der Gedanke zunächst überhaupt nicht behagte, in das Haus zurückzukehren, mit dem er nicht nur gute Erinnerungen verband, freundete Sabrina sich sehr schnell mit der Idee an, die schmutzige, graue Stadt gegen das ländliche und vor allem friedliche Idyll einzutauschen. Mittlerweile konnte sie es kaum mehr erwarten, nach Saffelen zu ziehen, aber Fredi hatte darauf bestanden, erst das Haus nach ihren gemeinsamen Plänen fertigzustellen. Ihre Ankunft war für den kommenden Mittwoch geplant. Und die Zeit drängte, denn seine Umbaupläne waren äußerst ambitioniert. In den letzten Wochen war Fredi durchgehend damit beschäftigt gewesen, Wände einzureißen, Durchbrüche zu schlagen, Böden zu entfernen, Fliesen zu legen und den Schutt anschließend im Uetterather Waldsee zu entsorgen. Neben einigen Freunden aus seinem alten Fußballverein war es vor allem sein bester Kumpel Richard Borowka, der ihn nahezu täglich bei den Sanierungsmaßnahmen unterstützte.
Fredi legte die Tapezierbürste zur Seite. Er wischte sich die Hände an seinem weißen Maleroverall ab und rief: „Komm Borowka, Päuschen. Sonst wird das Bier schlecht.“
„Sekunde.“ Borowka schob sich sein aus einer Zeitung gefaltetes Schiffchen auf dem Kopf zurecht und entfernte mit einer Schere sehr akkurat den Tapetenüberstand, sodass der Abschluss bündig mit der Decke verlief. Zufrieden betrachtete er sein Werk und stieg von der Treppenleiter. Als er wieder Boden unter den Füßen spürte, streckte er sich. „So, danach noch ein Zimmer, dann ist dein Playboy Mansion fertig und du kannst dein Bunny einfliegen lassen.“
„Mein was?“ Fredi zog zwei Flaschen Bitburger aus einer Kühlbox, öffnete sie mit seinem Feuerzeug und reichte Borowka eine.
„Firma dankt“, sagte Borowka und leerte mit einem einzigen Schluck die halbe Flasche. Nach einem kurzen Aufstoßen sagte er: „‚Playboy Mansion‘ – so sagt man doch für die Villa von diesem Playboy-Erfinder, hier: Hutsch Hefner. Da, wo der wohnt mit seine ganzen Silikonhasen.“
Fredi lachte. „Von wegen Playboy. Mit die Sabrina ist es mir absolut ernst. Aber mal was anderes, Borowka. Tausend Dank, dass du mir jeden Tag geholfen hast. Ohne dich hätte ich das nie geschafft. Ich hoffe, du hast dafür nicht dein ganzer Jahresurlaub draufgehunzt?!“
„Bin ich bekloppt“, tönte Borowka und nahm auf einem Mäuerchen Platz. „Ich hab mich von der Doktor Hoppe krankschreiben lassen wegen Halsschmerzen. Du weißt doch selbst, dass man bei Oellers nur 14 Tage Urlaub im Jahr kriegt. Sei bloß froh, dass du da damals die Biege gemacht hast. Hast du eigentlich schon ein neuer Job?“
Fredi drehte einen leeren Bierkasten um und setzte sich ebenfalls. Nachdenklich knibbelte er am Bitburger-Etikett auf seiner Flasche herum und sagte: „Nee, leider nicht. Ich versteh das überhaupt nicht. Bloß Absagen bisher, dabei habe ich ein Top-Zeugnis. Ein Eisen habe ich aber noch im Feuer, und zwar bei ‚Auto Kohlmeier‘. Die suchen ein junger, cleverer, gut aussehender Mitarbeiter für an der Ersatzteilausgabe. Mit andere Worte: Die suchen mich! Und das sieht auch sehr gut aus. Das sind nämlich die einzigsten, die mir bisher noch keine Absage geschickt haben. Aber eins sag ich dir: Eher friert die Hölle zu, als dass ich nochmal bei Auto Oellers anfange. Na ja, noch habe ich ja ein bisschen Kohle. Meine Mutter hat mir was gegeben für der Umbau. Aber so Geld zerfließt einem ja zwischen die Finger wie ein Stück Sand.“
„Wem sagst du das?“, entfuhr es Borowka. Er biss sich auf die Lippen.
Aber Fredi hatte ein feines Gespür und registrierte die seltsame Schwingung sofort. „Wieso? Was ist los?“
Borowka druckste ein wenig herum, bevor er von seiner Misere erzählte. Wenn er es einem anvertrauen konnte, dann seinem besten Kumpel Fredi. „Na ja, du weißt ja, wie schlecht der alte Oellers bezahlt. Und Rita ist ziemlich – wie soll ich sagen? – ziemlich kaufwütig. Die hat unser Dispokredit schon hoffnungslos überzogen mit Möbelund Klamottenkäufe. Aber das eigentliche Problem ist, dass die ganzen Ersatzteile für mein Ford Capri richtig Geld kosten. Der war ja in den letzten Jahren ein paar Mal Totalschaden. Und jetzt steh ich bei Henk mit 5.000 Euro in der Kreide. 2.500 plus Zinsen ...“ Fredi schwante nichts Gutes. Henk Houwechrad aus Geleen genoss einen mehr als zweifelhaften Ruf. Er trug ständig eine Schusswaffe und war dafür bekannt, dass er Kredite auf Vertrauensbasis vergab. Dafür galten er und seine Handlanger aber als nicht gerade zimperlich, wenn es darum ging, die Schulden einzutreiben. Es ging sogar das Gerücht um, dass er einem Fußballkollegen von Fredi und Borowka mal den kleinen Finger abgeschnitten haben soll. Dieser behauptete zwar steif und fest, er hätte den Finger beim Zuschlagen der Autotür verloren, aber alle wussten, dass er bei Henk Schulden gehabt hatte.
Borowka trank das Bier komplett aus und beendete seinen Satz: „Und nächste Woche Mittwoch ist der Stichtag. Dann will der die fünf Riesen haben. Ich hab aber nix.“
Fredi starrte seinen Freund entgeistert an. „Ja, sag mal, damit kommst du jetzt um die Ecke? Jetzt, wo das Geld von meine Mutter zu Ende geht. Ich hätte dir doch … Moment. Eine Sache habe ich ganz vergessen.“ Fredi stand ruckartig auf und verließ den Raum. Nach ein paar Minuten kehrte er zurück und hielt Borowka wortlos ein rosafarbenes Sparschwein hin, mit der Aufschrift: „Für unser gemeinsamer Traum.“
Borowka betrachtete das grinsende Schwein und sah Fredi dann mit großen Augen an. „Sag mal, bist du schwul geworden, oder was? Was soll das hier werden?“
„Jetzt nimm schon“, Fredi schüttelte das Sparschwein. „Da drin sind etwas mehr als 5.000 Euro. Das ist das ganze Geld, was ich in Berlin gespart habe. Das war eigentlich für eine Hochzeitsreise mit Sabrina gedacht, falls die mein Heiratsantrag annimmt. Das leih ich dir.“
Borowka erhob sich und trat empört einen Schritt zurück.
„Sag mal, tickst du noch sauber? Jetzt mal ganz abgesehen davon, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass jemals eine Frau dich heiraten würde, würde ich nie im Leben Geld von dir annehmen. Ich krieg das schon selber geregelt mit der Henk.“ Doch Fredi ließ nicht locker. „Du weißt selbst, dass Henk gefährlich ist und dass der …“
„He, ihr zwei Spacken, macht ihr schon wieder Pause?“ Unbemerkt von Fredi und Borowka war Tonne ins Haus gekommen. Tonne war der Torwart der Saffelener Fußballmannschaft und seine körperlichen Ausmaße machten seinem Spitznamen alle Ehre. Er trug eine abgeschnittene Bundeswehrhose, aus der weiße, tätowierte Unterschenkel herausragten und ein deutlich zu enges T-Shirt, das einen stark behaarten Bauchnabel freilegte. Sein Haar trug er wie Fredi und Borowka vorne kurz und hinten lang. „Kommt mal mit nach draußen“, fuhr er fort,
„Ich hab auf der Pritsche vier Sack Zement liegen. Hier, Ralf Richterich, der Bekloppte aus Porselen, arbeitet doch beim Bauhof. Und die vier Säcke sind da wohl heute Morgen vom Lkw gefallen. Und wie ich dem eben traf, meinte der, dass du die vielleicht noch gebrauchen könntest für dein Umbau.“
Fredi versteckte das Schwein hinter seinem Rücken und antwortete: „Das ist aber nett von dem. Zement kann ich immer gut gebrauchen. Außerdem wollte die Sabrina im Keller sowieso noch so ein Sockel haben, wo man Waschmaschine und Trockner draufstellen kann. Dass man sich beim Vollstopfen nicht so bücken muss.“
„Siehst du“, sagte Tonne und rieb sich die Hände, „dann mal rein mit der Scheiß. Ach übrigens, jetzt ratet mal, wer wieder zurückkommt nach Saffelen!“
„Keine Ahnung. Der Sommer?“, versuchte Borowka einen Scherz und zeigte grinsend auf Tonnes nackte Beine.
„Guck dich mal selber an“, konterte Tonne mit einem Nicken in Richtung des Malerschiffchens, das auf Borowkas blonder Dauerwelle thronte, bevor er fortfuhr: „Nee, Juppi Schrammen kommt Freitag wieder zurück. Zwar nur für eine Woche, aber am Samstag gibt es eine richtig fette Fete bei dem sein Bruder. Da sind wir vom Fußball alle eingeladen.“
„Wie geil ist das denn?“ sagte Fredi. Auch Borowka freute sich. Auf Juppi und die Fete. Da musste er sich am nächsten Montag wohl schon wieder krankschreiben lassen.
3

Das prächtige Zirkuszelt war bereits errichtet. Zwischen den beiden Masten, die aus dem Dach herausragten, war ein Stahlseil gespannt, an dem internationale Fähnchen den Namen
„Zirkus Baldini“ einrahmten. Das rot-gelb gestreifte Zeltdach wurde von Rondellstangen gestützt, an denen auch die Seitenwände befestigt waren. Von außen wurde die Dachplane mit Stahlseilen gesichert, die gerade von mehreren Arbeitern unter äußerster Kraftanstrengung mithilfe eines Flaschenzugs gespannt wurden. Noch standen die Wohnwagen, Anhänger und Zugmaschinen kreuz und quer auf der weitläufigen Wiese neben dem Hof der Hastenraths. Lediglich der historische Kassenwagen, der gleichzeitig den Eingang markierte, stand bereits an seinem Platz und wurde von einem weiteren Arbeiter mit der Wasserwaage ausgerichtet.
Hastenraths Will beobachtete das Treiben aus dem Augenwinkel, während er einen der beiden Präsentkörbe zu seinem Mercedes trug, der etwas unkonventionell am Straßenrand abgestellt war. Der rechte Vorderreifen quetschte sich zur Hälfte über die Bordsteinkante, während das rechte Hinterrad ungefähr 20 Zentimeter davon entfernt stand. Kopfschüttelnd betrachtete Will das verunglückte Parkexperiment seiner Frau. Nachdem er den sperrigen Korb, an dem ein Zettel mit der Aufschrift „Peter Kleinheinz“ hing, umständlich auf dem Rücksitz verstaut hatte, ging er zurück, um auch den zweiten aus der Küche zu holen. Auf halbem Wege jedoch konnte er seine Neugier nicht mehr zügeln und steuerte auf den Mann zu, der sich gerade leise fluchend daran abmühte, das Kassenhäuschen horizontal auszurichten. Schon als Kind hatte Will sich von nostalgischen Gerätschaften aller Art magisch angezogen gefühlt, aber dieses Häuschen weckte in ihm ganz besonders wehmütige Erinnerungen. Als kleiner Junge hatte es für ihn nichts Aufregenderes gegeben, als den Zirkus zu besuchen, der einmal im Jahr in die Region kam. Und sobald er seine Eintrittskarte gelöst und das Kassenhäuschen passiert hatte, war er eingetaucht in die fantasievolle und zauberhafte Welt der Magie, die ihn danach oft tagelang nicht mehr losließ. Wenn er an diese wunderbaren Momente zurückdachte, hatte er noch heute den leicht muffigen Mottengeruch der Kassenfrau in der Nase, die in der für ihre Körpermaße viel zu engen Kabine meist damit beschäftigt war, Kreuzworträtsel zu lösen oder Topflappen zu stricken und nicht einmal aufsah, wenn sie das Wechselgeld herausgab. Aber das war dem kleinen Will egal gewesen, er hatte zu diesem Zeitpunkt längst schon seine Fantasiewelt betreten.
Die Hände tief in den Taschen seiner grauen Arbeitshose vergraben, trat Will von hinten an den Arbeiter heran, der kniend versuchte, eine widerspenstige Schraube unter dem Radkasten anzuziehen. „Entschuldigen Sie, junger Mann. Ist das ein Originalkassenhäuschen aus den 20er-Jahren oder ein Nachbau?“ Der Mann sprang auf wie von der Tarantel gestochen. Ganz offensichtlich hatte er den Landwirt nicht kommen hören. Innerhalb von Sekunden stand er kerzengerade vor Will und funkelte ihn böse aus seinen wässrig-blauen Augen an. Zwischen Nase und Mund hatte er eine hässliche Narbe, die zwar wie eine Hasenscharte aussah, bei der es sich aber wohl eher um eine schlecht verheilte Verletzung handelte. Er trug einen ungepflegten Dreitagebart und sein Atem war eine Mischung aus Alkohol und Knoblauch. Er sagte kein Wort.
Will startete einen neuen Versuch. „Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich interessiere mich nur für alte Sachen. Wissen Sie, ich habe hinten im Schuppen sogar noch eine Eggemaschine von mein Oppa. Die ist aus Holz. So was gibt es heute gar nicht mehr. Ich kann Sie die gerne mal zeigen, wenn Sie das …“
Doch das Interesse des Mannes schien sich in Grenzen zu halten, denn plötzlich riss er die rechte Hand hoch, in der er einen schweren Schraubenschlüssel hielt und stieß einen kurzen Grunzton aus.
Will zuckte heftig zusammen. Für einen Moment dachte er, dass der Mann auf ihn einschlagen werde. Möglicherweise wäre es sogar dazu gekommen, wenn nicht plötzlich eine kräftige Stimme die angespannte Stille durchbrochen hätte: „Bolek! O co chodzi?“
Der Arbeiter ließ den Maulschlüssel sinken und sah gemeinsam mit Will in die Richtung, aus der der Ruf kam.
Im Laufschritt näherte sich ein etwa 50-jähriger Mann und wedelte drohend mit der Hand. Er trug ein gebügeltes, weißes Hemd und eine dunkle Jeanshose. Als er sie erreicht hatte, brüllte er auf den Arbeiter ein und schickte ihn mit einem lauten „Spierdalaj!“ weg. Der Arbeiter antwortete nicht, doch bevor er mit hängenden Schultern davonschlich, warf er den beiden noch einen verächtlichen Blick aus zusammengekniffenen Augen zu. Will war die Situation äußerst unangenehm, da er nicht vorgehabt hatte, jemanden in Schwierigkeiten zu bringen. Erst als er sich gegenüber dem herbeigeeilten Mann, der offensichtlich eine Art Chef zu sein schien, erklären wollte, erkannte er ihn an seinem breiten Grinsen. Es handelte sich um Francesco Baldini, den Clown, dem gleichzeitig der Zirkus gehörte. „Ach, Herr Baldini“, sagte Will erleichtert. „Ich habe Sie erst gar nicht erkannt ohne Kostüm.“
Baldini lachte kurz, bevor er wieder ernst wurde. „Bitte verzeihen Sie den Vorfall. Manche Kollegen, also ich sag mal so, in erster Linie die einfachen Arbeiter, sind leider ein wenig misstrauisch und reagieren auch schon mal etwas aggressiv. Das liegt aber nur daran, dass wir meistens nicht sehr willkommen sind, wenn wir irgendwo unsere Zelte aufschlagen. Sie sind da wirklich eine rühmliche Ausnahme, Herr Hastenrath. Ich kann Ihnen gar nicht genug danken, dass Sie uns die Wiese kostenlos zur Verfügung stellen. Und Wasser und Strom auch noch. So viel freundliche Unterstützung sind wir normalerweise nicht gewöhnt.“
Will sah sich ängstlich um und antwortete mit gedämpfter Stimme: „Nee klar, das mache ich gerne. Ich finde das einfach toll, was Sie machen. Aber die Sache mit dem Strom und dem Wasser muss auf jeden Fall unter uns bleiben. Meine Frau darf da nix von wissen.“
„Oh, verstehe. Kein Problem.“
Baldini lächelte verschwörerisch und Will versuchte, schnell das Thema zu wechseln. „War das gerade eben italienisch, was Sie für der Mann gesagt haben?“
„Nein, nein. Das war polnisch. Wir sind zwar ein italienischer Familienzirkus, das heißt, die meisten Künstler sind gebürtige oder angeheiratete Baldinis. Aber unsere Racklos, also unsere Arbeiter, stammen überwiegend aus Osteuropa. Na ja, das Zirkusleben ist nicht ganz so romantisch, wie sich das manche so vorstellen. Hier gibt es traditionell eine große Kluft zwischen den Artisten auf der einen und den Arbeitern auf der anderen Seite. Ich versuche da zwar immer zu vermitteln, aber diese Hierarchie ist im Zirkus über Jahrhunderte gewachsen. Die Handwerker stehen in der Rangliste ganz unten, während die Artisten höher angesehen sind und deutlich besser bezahlt werden. Wobei gute Bezahlung sicher der falsche Begriff ist, wenn wir vom Zirkus sprechen. Ich finde das selbst schade, aber die Arbeiter schotten sich gerne ab und weigern sich, unsere Sprache zu lernen. Es ist nicht immer leicht mit denen.“
„Das glaube ich“, sagte Will. „Ich habe auch schon mal ein paar Spargelstecher aus Rumänien hier. Und obwohl die jedes Jahr für ein paar Wochen kommen, verstehen die mein Deutsch bis heute nicht.“ Er sah auf die Uhr und erschrak. „Tut mir leid, Herr Baldini, aber ich muss dringend los. Ich habe mich bei zwei frisch zugezogene Neubürger angekündigt. Die bekommen heute von mir feierlich Willkommens-Präsentkörbe überreicht – kostenlos!“
Baldini nickte anerkennend. „Das ist eine tolle Geste. Wenn ich das sagen darf: Sie sind ein guter Mensch, Herr Hastenrath.“
Will winkte verschämt ab und verschwand, nicht ohne einen Anflug von Stolz. Schnell lief er ins Haus, um auch noch den zweiten Geschenkekorb für Fredi Jaspers zu holen.
Mit leichter Verspätung bog Will in die Goethegasse ein. Diesen Namen hatte die bislang einzige Straße im noch jungen Saffelener Neubaugebiet von der Gemeinde zugewiesen bekommen. Und zwar gegen den erbitterten Protest von Ortsvorsteher Hastenraths Will, der dort lieber einen verdienten Dorfbewohner namentlich verewigt gesehen hätte. Jedenfalls eher als einen Schriftsteller, den in Saffelen sowieso niemand kannte. Doch in letzter Instanz war sein Antrag, den er sogar mit einer Unterschriftensammlung untermauert hatte, von der Kreisverwaltung abgelehnt worden. Mit einem Standardschreiben und dem lapidaren Hinweis, dass nur verstorbene Persönlichkeiten berücksichtigt würden und dass „Hastenraths Will“ lediglich eine Art Rufname sei. Will parkte vor dem gepflegten roten Klinkerhaus mit der Nummer 6, in das Hauptkommissar Peter Kleinheinz vor einer knappen Woche mithilfe von Will und dessen großem Anhänger seine Habseligkeiten gebracht hatte. Heute war es so weit, dass Will seinen Freund im Namen aller Saffelener offiziell willkommen heißen durfte. Er stieg aus und öffnete die hintere Autotür. Um ein Haar hätte er aus Versehen den Korb von Fredi Jaspers genommen, doch zum Glück hatte er ja die Namenszettelchen angehängt.
Der Landwirt wurde fast komplett von dem mit einer grünen Schleife dekorierten Präsentkorb verdeckt, als Kleinheinz die Haustür öffnete. Gut gelaunt sagte der Kommissar: „Wenn mich mein kriminalistischer Spürsinn nicht täuscht, dann müsste sich hinter dieser groß angekündigten Überraschung mein alter Freund Will verstecken. Komm rein. Betty hat uns einen Kaffee gemacht.“
Will trat ein und platzierte den Korb mit ausladender Geste auf dem Couchtisch. Das Wohnzimmer hatte einen offenen Übergang zur großzügigen Küche, wo Bettina Hebbel gerade den Tisch deckte. Sie stellte drei Teller mit jeweils einer Scheibe Marmorkuchen an die Plätze. Will erkannte mit einem Blick, dass es sich um Fertigkuchen handelte, weil auf der Anrichte noch die angebrochene Packung lag. So etwas kannte er von zu Hause nicht. Seine Frau bereitete immer alles frisch zu. Wenn es jetzt dazu noch Muckefuck gibt, dann bin ich aber bedient, dachte er.
„Was darf ich zu Trinken anbieten?“, fragte Bettina Hebbel wie aufs Stichwort, nachdem sie neben eine große futuristische Maschine getreten war. „Cappuccino? Latte macchiato? Espresso?“
Will hatte sich an den Platz gesetzt, den Kleinheinz ihm zugewiesen hatte, und sah irritiert auf. Heute wurde er aber auch mit Fremdsprachen bombardiert. „Ich hätte am liebsten ein Kaffee“, antwortete er knapp, „mit sechs Stück Zucker.“
Dann wandte er sich an Kleinheinz, der ebenfalls am Tisch Platz genommen hatte. „Und Peter? Hast du dich denn schon ein bisschen eingelebt hier in Saffelen? Das ist ja ein schönes Haus, das die Frau Hebbel hier hat. Auch wenn es kein Eigentum ist.“
Bettina Hebbel verstand zwar nur Versatzstücke, weil der Kaffeevollautomat geräuschvoll vor sich hin zischte, sah sich aber dennoch genötigt, mit der Antwort ihrem Lebensgefährten zuvorzukommen. „Herr Hastenrath, wäre es nicht an der Zeit, dass wir uns langsam auch mal duzen? Ich meine, wir kennen uns jetzt schon ein halbes Jahr und haben uns in der Zeit so oft getroffen. Und der Peter und Sie duzen sich doch auch.“ Sie brachte ihm seinen Kaffee an den Tisch und stellte eine Schale mit Zuckerstücken daneben.
Will warf langsam eines nach dem anderen hinein und dachte nach. Er war verdutzt ob der vorlauten Art der jungen Dame. In seinem Weltbild war es nämlich, wenn überhaupt, immer noch der Ältere, der das „Du“ anzubieten hatte. Er ließ sich seine Pikiertheit aber nicht anmerken und antwortete mit gewohnter Diplomatie: „Normalerweise gerne, gute Frau. Aber in diesem Fall, ich weiß nicht. Sie sind ja nicht nur die Gespielin von der Peter, sondern auch die Lehrerin von mein Enkelkind, der Justin-Dustin. Und solange der noch zur Grundschule geht, möchte ich eine Vermengung von Dienstund Privatleben gerne vermeiden. Sie wissen, ich bin ehrenamtlicher Politiker und damit eine Person von öffentlichem Interesse und da muss ich ein bisschen aufpassen, dass man mich nicht mit Klüngelei in Verbindung bringt.“
Kleinheinz musste lachen, denn wenn er eines in Saffelen gelernt hatte, dann, dass Klüngeln hier zum guten Ton gehörte und Hastenraths Will einer der Großmeister dieser Disziplin war. Er bemühte sich aber, der umschlagenden Stimmung ein wenig die Schärfe zu nehmen, und sagte: „Ja, ist schon klar, Will. Aber so schlimm wäre es auch nicht mit dem Duzen. Guck mal, ich bekomme als Neubürger sogar einen Geschenkkorb von dir. Daran sieht man doch, wie herzlich und familiär es hier in Saffelen zugeht. Da passt so etwas Distanziertes wie ein ‚Sie‘ überhaupt nicht ins Bild.“
Will nahm bedächtig einen Schluck Kaffee, um Kleinheinz das Gefühl zu geben, er würde ernsthaft über diesen Einwand nachdenken. Mit einem leicht spöttischen Blick, den er sich im Fernsehen von Helmut Schmidt abgeguckt hatte, wollte er zur Erwiderung ansetzen.
Doch noch bevor er etwas sagen konnte, fuhr Bettina Hebbel ihm schon wieder in die Parade. In ihrer Stimme schwang diesmal sogar leichte Empörung mit. „Moment mal. Wo du das gerade sagst, Schatz. Jetzt fällt mir plötzlich auf, dass ich damals überhaupt keinen Willkommenskorb bekommen habe, als ich hierhingezogen bin.“
Will sah sie verwirrt an. Unvermittelt schoss ihm die Röte ins Gesicht. Erschrocken musste er feststellen, dass sie ausnahmsweise recht hatte. Seine Frau Marlene hatte ihn seinerzeit zwar mehrfach eindringlich daran erinnert, aber irgendein innerer Widerstand hatte wohl dafür gesorgt, dass er es immer wieder auf die lange Bank geschoben und am Ende schlicht vergessen hatte.
Will geriet ins Stottern, als er versuchte, Bettinas bohrendem Blick standzuhalten. „Das ist nicht ganz falsch, was Sie da sagen. Aber die Sache ist die … diese Präsentkörbe sind eine relativ neue Sitte hier bei uns. Und da wird immer viel drüber diskutiert … wegen die Kosten und so. Aber umso mehr freut es mich, Sie mitzuteilen, dass ich beim Ortsvorstand gegen einige Widerstände durchsetzen konnte, dass Sie im Nachhinein doch noch Ihr ganz persönlicher Korb bekommen, quasi posthum. Ich wollte die Katze zwar gleich erst aus der Sack lassen, aber komm … ist egal. Dann sag ich’s jetzt. Ich habe Ihren lang herbeigesehnten Korb draußen im Auto. Ich geh den mal schnell holen.“
Als Will den Korb vom Rücksitz auf den Bürgersteig gewuchtet hatte, wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Gerade noch mal gut gegangen, dachte er, während er den Zettel mit der Aufschrift ‚Fredi Jaspers‘ abriss und zerknüllt in seiner Parkatasche verschwinden ließ. Mit gespielter Freude trug er den Präsentkorb zum Haus und überreichte ihn feierlich Bettina Hebbel, die ihn schon an der Tür in Empfang nahm.
„Danke“, sagte sie, immer noch sichtlich überrascht.
„Aber nicht doch. Das ist doch eine Selbstverständlichkeit“, wiegelte Will ab. Da ihm die ganze Situation ein wenig unangenehm war und er weiteren Nachfragen aus dem Weg gehen wollte, sah er auf seine Uhr und rief mit gespieltem Entsetzen aus: „Ach Gott, schon so spät! Ich muss wieder zurück. Die von dem Wanderzirkus brauchen meine Hilfe. Ich wünsche Sie noch einen wunderschönen Tag hier in Saffelen, Frau Hebbel.“ Bettina sah dem Landwirt hinterher, wie dieser schnell in seinen Mercedes sprang und davonfuhr. Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Als sie voll bepackt in die Küche zurückkehrte, sagte sie: „Das ist vielleicht ein komischer Kauz, dieser Hastenraths Will.“
Kleinheinz, der gerade dabei war, seinen Korb auszupacken, lächelte sie gütig an. „Ach, so schlimm ist der gar nicht. Du wirst dich schon noch an seine Art gewöhnen. Hart, aber herzlich. Hey, schau mal hier.“ Er zielte lachend mit einer Spielzeugpistole auf sie und legte sie wieder auf den Tisch. „Oder hier.“ In der einen Hand hielt er einen Satz Plastikhandschellen und in der anderen eine Tube Haargel. „Da siehst du mal, was der Will sich für eine Mühe gegeben hat. Hier sind jede Menge Sachen mit persönlichem Bezug drin. Der hat sich sogar meine Lieblingsmarke gemerkt.“
„Das ist aber jetzt wirklich mal toll“, musste Bettina erstaunt zugeben und machte sich neugierig daran, auch ihren Korb auszupacken. Mit zunehmendem Erstaunen förderte sie einen persönlichen Gegenstand nach dem anderen zutage und legte diese nebeneinander auf den Tisch. Am Ende lagen dort: das Kicker-Sonderheft, eine Flasche Doppelkorn, ein Playboy-Jahreskalender mit daran festgetackerten Tempotaschentüchern sowie eine Turnierpackung Kondome. Sprachlos vor Entsetzen sah sie ihren Freund an.
Kleinheinz zuckte nur verlegen mit den Schultern und sagte: „Na ja, er kennt dich ja auch noch nicht so gut.“