Kitabı oku: «Der Tango des Todes», sayfa 3

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Attila warf seinen ganzen Körper gegen die Gitterstäbe und bellte aus Leibeskräften, als Will auf den Innenhof fuhr und aus seinem Wagen stieg. Normalerweise hatte er immer ein nettes Wort oder ein Leckerchen für seinen Hofhund zur Hand, aber diesmal war er noch zu sehr in Gedanken bei der peinlichen Situation mit dem Willkommensgeschenk, die er so gerade noch hatte retten können. Für Fredi Jaspers würde er sich jetzt natürlich etwas anderes ausdenken müssen, denn wenn er einen neuen Präsentkorb zusammenstellen würde, könnte seine Frau Verdacht schöpfen. Erfreut nahm Will zur Kenntnis, dass dem gekippt stehenden Küchenfenster wohltuende Gerüche entschwebten, was darauf hindeutete, dass Marlene bei der Zubereitung des Abendessens kurz vor der Vollendung stand. Deshalb nutzte Will die Gelegenheit, sich schnell noch mal auf die Rückseite des Hofes zu schleichen, wo er neben dem stillgelegten Hühnerstall bereits zum zweiten Mal an diesem Tag die geheimen Zuleitungen für Strom und Wasser kontrollierte. Sicherheitshalber legte er zusätzlich zum Stroh noch eine verwitterte Holztür über die Anschlüsse. Marlene würde es nämlich überhaupt nicht gutheißen, dass Will die Gaukler, wie seine Frau sie nannte, neben der Wiese auch noch kostenlos mit Wasser und Strom versorgte. Aber Will konnte nun mal nicht anders. Er schritt ein weiteres Mal die Schläuche und Leitungen ab, die zum Zelt und zum Wagenpark führten, und achtete darauf, dass alles gut mit Gras bedeckt war. Plötzlich endete sein Weg vor einem Sichtzaun, der am Morgen noch nicht an dieser Stelle gestanden hatte. Er wollte gerade wieder umkehren, als er hinter dem Zaun eine seltsam betörende Musik vernahm, die in ihm erneut diese Neugier auslöste, wie es nur der Zirkus vermochte. Er prüfte vorsichtig die PVC-Plane, aus der der Zaun bestand. Er hatte Glück. Nach ein paar Metern fand er etwa auf Kniehöhe ein Loch, gerade groß genug, um unbemerkt hindurchzusehen. Will blickte sich um. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass er ganz allein war, kniete er sich behutsam ins feuchte Gras und spähte durch das Loch. Was er zu sehen bekam, beschleunigte schlagartig seinen Puls. Unmittelbar vor seiner Nase tanzte eine wunderschöne Frau zu der exotischen Musik, die aus einem CD-Player kam, der etwas weiter entfernt auf dem Boden stand. Die Tänzerin hatte hüftlanges, pechschwarzes Haar, ein Gesicht wie in Marmor gemeißelt und einen wohlgeformten, durchtrainierten Körper. Sie war zwar bei Weitem keine zwanzig mehr, aber sie war von einer wilden, ungezähmten Schönheit, die alle Jahre überdauert. Ihr Kostüm, wenn man es denn so nennen konnte, raubte Will schier den Atem. Der Oberkörper wurde nur von einem goldenen Büstenhalter bedeckt, der wie auf ihre Brüste gemalt wirkte. Um einen ebenfalls goldenen Slip lag eine Art Hüftband, an dem ein transparenter Schleier befestigt war, der ihre makellosen, langen Beine wie ein luftig-leichter Windhauch umschwebte. Auf nackten Füßen tanzte sie durch einen kleinen, mit Sägemehl gefüllten Kreis. Mit geschlossenen Augen bewegte sie ihren Körper rhythmisch zur Musik. Der Tanz, den sie aufführte, war eine Mischung aus Tangoschritten, Ballett und Gymnastik. Sie drehte sich, sprang in die Luft, ging in die Knie, zeichnete mit den Füßen eine Acht auf den Boden. Währenddessen warf sie immer wieder bunte Tücher in die Höhe und fing sie im Einklang mit ihren fließenden Bewegungen schlafwandlerisch sicher auf. Sie tanzte so nah vor der Plane, dass Will sogar ihr Parfüm riechen konnte. Ein erotischer Duft, wie er ihn noch nie gerochen hatte. Bislang war ihm, abgesehen von Tosca, dem Lieblingswässerchen seiner Frau, ausgesprochen selten etwas derart Aphrodisierendes in die Nase gestiegen. Auf Wills Stirn bildeten sich dicke Schweißtropfen. Entrückt beobachtete er die Tänzerin, bis er plötzlich von einem Geräusch aufgeschreckt wurde. Ein männlicher Artist – jedenfalls deutete seine hautenge, Las-Vegasmäßige Kostümierung darauf hin – hatte den CD-Player ausgestellt. Die Tänzerin erschrak. Das gerade in der Luft befindliche Tuch segelte langsam zu Boden und verfing sich unmittelbar vor Wills Guckloch in dem Draht, mit dem die Plane befestigt war.

Der Artist rief: „Hey, Fatima, du sollst sofort zum Chef kommen.“

Fatima nickte und folgte ihm auf der Stelle. Will war beeindruckt. Hier im Zirkus herrschten wirklich noch Zucht und Ordnung. Er wollte sich gerade erheben, um zurück ins Haus zu gehen, als ihm erneut der Duft des Seidentuchs in die Nase stieg. Er fasste den Entschluss, es als Erinnerung an diesen einzigartigen Moment mitzunehmen, und steckte zwei Finger durch das Loch. Mit ein wenig Geschick gelang es ihm, das grellgrüne Tuch zu ergreifen und herauszuziehen. Er ließ es in seiner Tasche verschwinden. Doch zuvor roch er noch einmal intensiv daran. Will schloss genießerisch die Augen. Leider war dadurch seiner Aufmerksamkeit entgangen, dass sich in seinem Rücken eine Person angeschlichen hatte. Erst das Knirschen, das ein Stein unter einer Fußsohle verursachte, ließ ihn herumfahren. Doch er hatte keine Chance. Da er sich auf den Knien befand, konnte er nur hilflos mitansehen, wie eine Person über ihm mit der rechten Hand einen schweren Gegenstand auf ihn niederfahren ließ. Den ersten Schlag konnte Will noch mit seinem Unterarm abfedern, aber der zweite traf ihn hart am Hinterkopf. Er verdrehte die Augen und kippte zur Seite.

5


Richard Borowka genoss die herrliche Aussicht. Er saß zurückgelehnt in einem Plastikstuhl und hatte die Hände selbstzufrieden hinter dem Kopf verschränkt. Sein Blick wanderte von der verendeten Edeltanne über den Schotterplatz mit den seltenen Brennnesselund Distelsorten bis hin zu den überquellenden Mülltonnen und heftete sich an das Schönste, was er je gesehen hatte: die Liebe seines Lebens, nämlich sein gelber 86er Ford Capri mit den roten Rallyestreifen. Leider waren die letzten Monate nicht spurlos an dem einst so makellosen Sportwagen vorbeigegangen. Seit Borowka finanziell in Schieflage geraten war, hatte er viele kleinere Schönheitsreparaturen nicht mehr vornehmen können. Die letzten größeren Ausgaben, für die er den Kredit bei Henk Houwechrad aufgenommen hatte, waren für Nockenwelle und Zahnriemen draufgegangen, die für sein Modell nur noch sehr schwer zu besorgen waren. Zu allem Überfluss war vor wenigen Minuten auch noch eine Delle in der Motorhaube dazugekommen, als er vor „Rosis Grillcontainer“, zwar nur mit 30 km/h, aber dennoch ungebremst in die Mülltonnen gerauscht war. Seinem Beifahrer Fredi gegenüber hatte er das mit einem Fahrfehler infolge einer leichten Unkonzentriertheit erklärt. Die Wahrheit jedoch war, dass die Bremsklötze längst komplett verschlissen waren. Fredi hatte sich furchtbar aufgeregt, weil er fast mit voller Wucht mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe geknallt wäre, hätten die breiten Rennfahrergurte ihn nicht zurückgehalten. Auch Borowka hatte sich heftig erschreckt, denn ein Riss in der Scheibe hätte ihm zu allem Ärger noch gefehlt. Mit sinnlich verklärtem Blick genoss er nun dennoch von seinem Lieblingsplatz neben dem Merkur-Spielautomaten aus die fließende Form seines Coupés, als das meditative Erlebnis jäh von Fredi Jaspers beendet wurde, der, voll bepackt mit Tellern und Flaschen, laut stöhnend ihm gegenüber Platz nahm.

„Leck mich am Arsch. Ich glaube, ich habe mir bei deine Kamikaze-Aktion die Rippen gebrochen.“

Borowka zeigte ihm einen Vogel. „Ja, ist klar. Kann das sein, dass du in Berlin ein bisschen verweichlicht bist? Hey, wo ist mein Schewampschichi?!“

Fredi, der wegen der Hitze, die die defekte Dunstabzugshaube abgab, den Reißverschluss seines Blaumannes leicht geöffnet hatte, sodass einige spärliche Brusthärchen ans Licht drängten, schob seinem Kumpel einen dampfenden Teller mit einer großen Portion Fritten, einer Bratrolle Spezial und eine Flasche Bitburger rüber. Obwohl die Bratrolle zusätzlich zu den frischen Zwiebeln schon mit Ketchup und Mayonnaise bis zur Unkenntlichkeit zugeschüttet war, thronte auf den Fritten noch ein zusätzlicher Riesenspritzer Mayonnaise. Fredi rollte voller Vorfreude das Plastikbesteck aus der Papierserviette, um sich um seine Currywurst zu kümmern, und sagte: „Schewampschichi kommt gleich. Das muss die Rosi erst noch auftauen, weil das so selten bestellt wird.“

Während die beiden Freunde sich mit gieriger Leidenschaft ihrem Essen widmeten, öffnete sich in ihrem Rücken die Tür zur Frittenbude und ein fröhlicher Dreiklang hieß einen neuen Kunden willkommen. Rosi Schlömer-Okawango, die üppige Inhaberin des Grillcontainers, erkannte den Gast als Erste, und das, obwohl sie von einer dichten Fettwolke eingehüllt war.

„Juppi!“, rief sie hocherfreut und kam sofort hinter ihrer Theke hervorgelaufen, um dem Gast in die Arme zu fallen.

Der hatte viel Mühe, die gut hundert Kilo Lebendgewicht, die ihn gegen die vibrierende Eingangstür drückten, abzufedern. „Rosi“, hustete er mit erdrückter Stimme, „du hast dich überhaupt nicht verändert.“ Ob das als Kompliment gemeint war, ließ er offen.

Auch Fredi und Borowka waren aufgesprungen, um den alten Freund mit herzlichen Umarmungen zu begrüßen. Sie hatten zwar davon gehört, dass Juppi Schrammen heute ankommen sollte, aber getroffen hatten sie ihn bislang noch nicht.

„Wie geil ist das denn?“, entfuhr es Borowka. „Mensch, erzähl mal von deine Abenteuer. Stimmt das eigentlich, dass die Frauen in Afrika alle so große CDs in der Unterlippe eingebaut haben? Da standen letztens mehrere Fotos von in Rita ihre Cosmopolitan.“

„Jetzt lass der Juppi doch erst mal in Ruhe ankommen“, ging Fredi dazwischen. Mit sanfter Gewalt befreite er ihn aus Rosis Umklammerung und führte ihn zu ihrem Tisch. „Setz dich mal hin. Rosi, bring der Mann mal ein Bier. Der ist bestimmt halb am Verdursten.“ „Ja, und dreimal Fritten mit Bratrolle und Bami zum Mitnehmen“, komplettierte Juppi die Bestellung.

„Auf die Fritten was drauf?“, fragte Rosi routiniert nach.

„Was kostet das denn?“

„30 Cent!“

„Oh, nur 30 Cent? Ja dann tu mir eine Currywurst und ein halbes Hähnchen drauf“, gab Juppi breit grinsend zurück.

Fredi und Borowka brachen in lautes Gelächter aus und auch Rosi musste mit leichter Verzögerung lachen. Kopfschüttelnd ging sie zurück hinter die Theke.

Borowka schlug Juppi überschwänglich auf die Schulter. „Immer noch derselbe Spaßvogel wie damals.“

„Bei dir hat sich aber auch nicht viel geändert“, sagte Juppi, während er am Tisch Platz nahm, „du fährst ja immer noch die alte Gurke. Er zeigte amüsiert auf den Ford Capri.

„Logolektrisch“, antwortete Borowka voller Stolz. Übel nahm er Juppi diesen Spruch nicht, dafür freute er sich viel zu sehr, ihn zu sehen.

„Ach so, auch noch herzliches Beileid wegen deine Mutter“, lenkte Fredi das Thema auf den unerfreulichen Anlass der Rückkehr.

Juppis Miene verfinsterte sich ein wenig. Er fuhr sich mit der Hand durch sein dichtes, dunkles Haar, durch das sein sonnengegerbtes Gesicht noch besser zur Geltung kam. Die Jahre in der Fremde hatten ihn deutlich reifen lassen und einen gestandenen Mann aus ihm gemacht. Dennoch haftete seinen wehmütigen, tiefbraunen Augen noch immer etwas Jungenhaftes, Verschmitztes an. „Ja, das ist natürlich die andere Seite der Medaille“, sagte er nachdenklich. „Ich war gerade in Nepal, als ich davon erfahren habe. Es ging ja dann doch sehr schnell mit ihr zu Ende. Ich hab’s leider nicht mehr rechtzeitig zur Beerdigung geschafft. Na ja, so ist das Leben“, versuchte er, das Gespräch wieder in etwas seichteres Fahrwasser zu lenken.

„Aber umso mehr freue ich mich, dass ich mal wieder hier bin. Saffelen war ja immerhin die erste exotische Station meiner Weltreise.“ Juppi lachte und die Falten um seine Augen verliehen seinen markanten Gesichtszügen etwas sehr Weiches.

„Hastenraths Marlene hat beim Metzger erzählt, dass du bloß ein paar Tage bleibst. Stimmt das?“, fragte Fredi.

Juppi nickte. „Ja, leider. Ich muss blöderweise nächste Woche Donnerstag schon wieder los, weil ich eine Stelle als Wildhüter in British Columbia antrete. Da kann man Schwarzbären beobachten.“

„British Columbia“, Borowka pfiff durch die Zähne, „mein lieber Mann. Ich wusste gar nicht, dass es bei die Inselaffen Bären gibt.“

Fredi versetzte ihm einen Stoß mit dem Ellbogen. „Borowka. Wie doof bist du eigentlich? British Columbia ist doch nicht in England. Das ist in … hier in … ja woanders jedenfalls.“

„In Kanada“, sagte Juppi, während Rosi ihm mit verklärtem Blick eine Flasche Bitburger auf den Tisch stellte.

„Siehst du? Sag ich doch!“ Fredi hob triumphierend den Zeigefinger.

„Sag mal, Juppi“, begann Borowka plötzlich ungewohnt ernst, „ich find das ja spannend, dass du durch die ganze Welt ziehst und fremde Kulturen und Frauen kennenlernst. Aber fehlt dir nicht manchmal auch so ein bisschen Heimat? Was weiß ich? Freunde, Fußball, Festzelt, Schlägereien in Himmerich. Wie soll ich sagen? So eine Art Hafen, wo man immer hin zurücksegelt.“

Fredi musste bei diesen Worten unwillkürlich schlucken. Nicht nur, weil er seinen Kumpel noch nie so nachdenklich erlebt hatte, sondern, weil auf der Stelle Gedanken in seinem Innersten aufploppten, die er in Berlin oft gehabt hatte, wenn er sich einsam fühlte. Und auch wenn er es sich nicht gerne eingestand, weil man es ihm vielleicht als Scheitern auslegen könnte: Er war überglücklich, wieder in Saffelen zu sein. Hier war sein Herz zu Hause. Und ein Herz war nun mal schwer zu transplantieren. Das hatte er vor Kurzem im Fernsehen in einem Wissenschaftsmagazin gesehen, auf das er aus Versehen geschaltet hatte.

Auch Juppis Blick verriet eine gewisse Nachdenklichkeit. Er wiegte die Flasche Bier in der Hand und betrachtete lange das Etikett, bevor er antwortete: „Ach weißt du, Richard. Die Seefahrer sagen: Wer an der Küste bleibt, kann keine neuen Ozeane entdecken. Ich fühl mich einfach immer da zu Hause, wo ich bin. Jetzt im Moment freue ich mich wahnsinnig, hier in Saffelen zu sein und euch alle zu treffen. Aber ich freue mich auch genauso sehr auf Kanada und auf alles, was danach noch kommt.“

„Ja klar, das versteh ich“, ließ Borowka nicht locker, „aber was sind die schönsten Abenteuer, wenn man die mit kein Mensch teilen kann? Fehlt dir nicht zum Beispiel manchmal eine Frau? Also, ich meine jetzt nicht, wofür du denkst, dass die Frau sein soll. Das könnte quasi im Prinzip auch genauso gut ein Mann sein … Womit ich jetzt natürlich nicht sagen will, dass du eventuell vom anderen …“

Juppi musste grinsen. „Ich hab schon kapiert, was du sagen willst.“ Es folgte eine kurze Pause, in der seine Gedanken offenbar davonschwebten. „Es gab tatsächlich mal jemanden. Ich war einmal in meinem Leben richtig verliebt. In eine Frau, für die ich alles getan hätte. Aber es hat damals nicht sollen sein. Und keine Frau danach war jemals wieder so wie diese.“

Die Stimmung am Tisch schlug plötzlich um. Eine bedrückende Schwere legte sich über die drei Männer. Selbst Rosi, die hinter ihrem Tresen nur mit einem Ohr zugehört hatte, machte ein trauriges Gesicht. Doch den größten Kloß hatte Fredi Jaspers im Hals. Ohne es zu ahnen, hatte Juppi in ihm etwas angestoßen, das er nur zu gerne für immer verdrängt hätte. So sehr er sich freute, nach Saffelen zurückzukehren und so sehr er seine neue Freundin Sabrina liebte, so sehr war ihm auch bewusst, dass seine Rückkehr alte Wunden aufreißen würde. Er war nie wirklich hinweggekommen über die Trennung von seiner großen Liebe Martina Wimmers. Vor drei Jahren hatte sie ihn für jemand anderen verlassen, den sie dann sogar geheiratet hatte. Das war einer der Gründe gewesen, die ihn dazu bewegt hatten, Saffelen damals den Rücken zu kehren. Irgendwann hatte er sich mit dem Ende dieser Beziehung abgefunden, verwunden hatte er es jedoch nie. Und als wenn das Universum sich nicht schon genug Gehässigkeiten ausdenken würde, mit denen es die Menschen gängelt, musste Fredi während der Renovierungsarbeiten auch noch von Borowka erfahren, dass Martina von ihrem Mann Hendrik schon wieder in Scheidung lebte und zu allem Überfluss bei ihren Eltern eingezogen war – in Saffelen. Glücklicherweise war er ihr bisher noch nicht über den Weg gelaufen. Borowka hatte erzählt, dass Martina sich in letzter Zeit häufig bei ihm zu Hause ausheulen würde, da seine Frau Rita schließlich ihre beste Freundin war. Deshalb kamen ihm die Umbauarbeiten, die oft bis spät in die Nacht gingen, sehr gelegen.

Ein lauter Knall zerstob mit einem Mal alle Gedanken, die sich im Raum breitmachten. Juppi hatte mit der flachen Hand auf den Tisch geschlagen und rief: „Schluss mit dem Gejammer! Wir sollten das Leben genießen. Morgen Abend ist die große Willkommensparty, die Theo für mich schmeißt. Ihr kommt doch wohl hoffentlich? Alle Saffelener sind eingeladen. Sogar die aus dem Neubaugebiet“, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu.

„Das haben wir schon gehört“, sagte Borowka und hielt die Flasche Bitburger in die Höhe. „Da simmer dobei, dat ist priiiiima. Viva Colonia!“, sang er etwas schief, dafür aber voller Inbrunst. Die drei Freunde stießen lachend an, als auf einmal wieder der Dreiklang der Ladentür ertönte. Eine deutlich erschlankte, dezent geschminkte, aber auffallend elegant gekleidete Martina Wimmers betrat den Grillcontainer. Fredi war wie vom Blitz getroffen, als ihr Blick sich mit seinem kreuzte. Will das Universum mich jetzt total verarschen?, dachte er.

Nachdem Martina realisiert hatte, wer da am Tisch saß, wendete sie ihren Kopf unsicher ab und ging schnellen Schrittes zur Theke, wo sie bereits von Rosi und ihrer bekleckerten Schürze erwartet wurde. „Wat krisste, Martina? Wie immer? Mit doppelt Mayo für dein Vatter?“

Martina nickte, ohne sich noch einmal zum Tisch umzudrehen. Rosi schaufelte eine große Portion Tiefkühlfritten in das große Sieb, das sie dann mit einem geübten Handgriff in das spritzende Fett hinuntersausen ließ. Den daneben befindlichen Drahtbehälter riss sie fast zeitgleich mit der anderen Hand triefend in die Höhe und brüllte quer durch den Laden: „Schewampschichi ist fertig! Und deine Sachen auch, Juppi.“

Borowka sprang freudig erregt vom Tisch auf und lief zur Theke.

Juppi, der die Situation genau erfasst hatte, beugte sich zu Fredi vor, der mit leerem Blick vor sich hin stierte. „Genau das meinte ich eben, Fredi. Die Liebe ist wie die Reise in ein unbekanntes Land. Man muss den Mut haben, alles hinter sich zu lassen, ohne zu wissen, was vor einem liegt.“

Fredi hörte die Worte, aber er verstand sie nicht.

6


„Und du meinst wirklich, ich kann der hellblaue Hosenanzug schon wieder anziehen? Den hatte ich doch jetzt schon so oft an. Ach, es ist so schrecklich, ich brauch dringend neue Sachen.“ Marlene Hastenrath betrachtete sich voller Verzweiflung in dem Spiegel, der auf der Innenseite ihres Kleiderschranks angebracht war. Sie musterte sich von allen Seiten, während Will ungeduldig in der Schlafzimmertür stand und heimlich auf seine Armbanduhr schielte.

„Hellblau steht dir ganz fantastisch. Aber ich sag mal so: Du kannst doch im Prinzip alles tragen … vorausgesetzt natürlich, es passt noch“, versuchte sich der Landwirt an einem Kompliment, um den Entscheidungsprozess zu beschleunigen. Sie waren ohnehin schon viel zu spät dran. Die Willkommensparty zu Ehren von Juppi Schrammen war bestimmt schon in vollem Gange.

Marlene drehte sich um und stemmte die Hände in die Hüften. Sie warf ihrem Mann einen bösen Blick zu und züngelte: „Hör bloß auf, so rumzuschleimen. Und glaub ja nicht, dass wegen deine Spannerei schon das letzte Wort gesprochen ist.“

Will musste schlucken. Unwillkürlich schoss seine Hand hoch und befühlte die riesige Beule an seinem Hinterkopf. Selbst der leichte Druck, den er damit ausübte, verursachte ihm schon wieder Schmerzen. Zweimal hatte seine Frau mit der Handtasche zugeschlagen, nur weil er durch ein kleines Loch in einer Plane geschaut hatte. „Wie oft soll ich es dir noch sagen? Da war keine Frau hinter der Zaun. Der Clown hat mit sein Hund Tricks geübt, die ich mir für der Knuffi abgucken wollte.“

Marlene schüttelte den Kopf und seufzte theatralisch. „Hör doch auf, Will. Dreimal habe ich dich gerufen, dass du essen kommen sollst. So oft wie noch nie, seit wir verheiratet sind. Du kannst mir doch nicht erzählen, dass du nix mehr mitkriegst, bloß weil da ein kleiner Hund Männchen macht. Wo du kleine Hunde ja noch nicht mal leiden kannst. Du kannst mich nicht verarschen. Du hattest doch sogar noch ein ganz verklärtes Lächeln im Gesicht, wie du da ohnmächtig auf dem Boden gelegen hast.“

„Nicht nur Männchen“, verteidigte sich Will, „der hat sogar Kopfstand gemacht. Ist ja auch egal. Auf jeden Fall ist das kein Grund, jemand aus der Hinterhalt heraus auf der Kopf zu hauen. Und schon mal gar nicht mit so eine schwere Handtasche. Was war da überhaupt alles drin?!“

Marlene wandte sich wieder ihrem Spiegelbild zu und sagte: „Da war das drin, was ich da immer drin habe: Taschentücher, Portemonnaie, Regenhaube. Und … ach ja, und natürlich der Edelstahltoaster, den ich morgens bei Lidl gekauft hatte. Der war im Angebot gewesen. Jetzt weiß ich auch, warum. Der ist ja direkt in tausend Teile zersprungen.“

Als Will und Marlene endlich am Haus von Theo Schrammen eintrafen, näherte sich die Party selbst zu dieser frühen Stunde schon dem Siedepunkt. Es schien, als wäre das ganze Dorf zusammengekommen, um Juppis Heimkehr zu feiern. Quer über der Doppelgarage hing eine bunte Girlande mit der Aufschrift „Willkommen zu Hause“. Ursprünglich war nur die ausgeräumte und mit einem Bundeswehrtarnnetz dekorierte Garage zum Feiern eingeplant gewesen, doch die Feier hatte sich aufgrund des großen Andrangs längst auf das ganze Haus ausgebreitet. In der Garage standen auf langen Bierzelttischen endlos viele Salate in altmodischen Glasschalen. Daneben Tuben mit Ketchup und Remouladensoße, Pappteller, Stangenbrot und bergeweise Tabletts mit abenteuerlich aufgetürmten Frikadellen und kalten Schnitzeln. Richard Borowka und Schlömer Karl-Heinz waren gerade damit beschäftigt, ein neues 50-Liter-Fass auf den Zapfbock zu heben, um den Nachschub zu sichern.

Will und Marlene wurden mit begeisterten Rufen aus dem Pulk empfangen. Heribert Oellers, der Inhaber der Firma Auto Oellers, schob seinen imposanten Körper aus der Menge heraus und schüttelte Will staatsmännisch die Hand. Nach einem kurzen Austausch der üblichen Begrüßungsfloskeln kam er direkt zur Sache und führte Will zum Getränkestand, wo Borowka gerade unter lautem Jubel das Fass angeschlagen hatte. Saffelens bester Schwarzarbeiter drehte den Hahn auf und füllte mit beeindruckender Routine mehrere Kränze voller Biergläser, die er aus dem Handgelenk heraus unter dem Strahl rotieren ließ. Dazu sang er aus Leibeskräften den Schlager: „Es gibt kein Bier auf Hawaii. Es gibt kein Bier.

Drum fahr ich nicht nach Hawaii, drum bleib ich hier.“ Als er seinen Chef, Heribert Oellers, auf sich zukommen sah, hustete er theatralisch, schließlich war er ja noch wegen Halsschmerzen krankgeschrieben. Oellers registrierte das mit zusammengekniffenen Augen, sagte aber nichts, um die Heiligkeit des Moments nicht zu stören.

Marlene war gleich am Eingang von einer bereits leicht angeschwipsten Billa Jackels in Empfang genommen und mit einem Glas Sekt versorgt worden. „Marlene. Wie schön, dass du da bist. Oh, schick. Ich finde auch, so ein hautenger, hellblauer Hosenanzug, dem kann man nicht oft genug tragen.“

Marlene sah beschämt zu Boden und versuchte schnell, das Thema zu wechseln. „Wie geht es denn der Josef? Hat der sich mal gemeldet?“

Billa leerte ihr Sektglas und nahm sich gleich ein neues von einem Tablett, das ein kleiner Junge, der die beiden Kellner Dirk und Dose unterstützte, unsicher vor sich her balancierte.

„Ja, du weißt ja, wie der Josef ist. Erst hatte der furchtbar Angst vor der zweiwöchige Feuerwehrlehrgang, aber mittlerweile gefällt es ihm ganz gut in Boppard. Der hat wohl auch schon der erste Test knapp bestanden. Kann aber auch sein, dass der durchgefallen ist. Ich hab nicht so genau zugehört am Telefon. Komm Marlene, wir gehen rein. Die Annemie hat in der Küche so moderne Trendgetränke für Frauen stehen. Hugo Spritz oder wie das heißt.“

Als Billa Marlenes Arm ergriff und sich mit ihr umdrehte, verlor sie fast das Gleichgewicht und rempelte dabei Fredi Jaspers an, der aus dem Haus gestolpert kam und ein Handy fest an sein Ohr presste. „Oh, Tschulligung Fredi. Wow, du siehst aber gut aus heute“, entfuhr es ihr, bevor Marlene sie sicherheitshalber wegzog.

Fredi winkte geistesabwesend ab und versuchte so schnell wie möglich, dem lauten Getöse in der Garage zu entkommen. Als er das Mäuerchen am Ende des Vorgartens erreichte hatte, konnte er die Stimme am anderen Ende des Telefons wieder halbwegs verstehen. „So, Sabrina-Schatz, jetzt kann ich dich besser hören. Was sagtest du eben?“

„Ich habe gefragt, wo du da bist. Das hört sich ja an, als wenn eine Feuerwerksfabrik in die Luft fliegt.“

Fredi musste lachen. Das liebte er so an ihr. Sie fand immer für alles lustige Vergleiche. „Nee, nee“, antwortete er beschwingt, „ich hatte dir doch von der Juppi Schrammen erzählt. Heute ist dem seine Willkommensparty. Hier ist der Teufel los. Mit so viele Leute hatten die gar nicht gerechnet.“

„Oh, das freut mich für dich. Ich hoffe, du hast Spaß?“ Fredi seufzte. „Ja schon. Aber du fehlst mir. Ich bin so froh, wenn das Haus endlich fertig ist und du nachkommst.“

„Du fehlst mir auch, Fredi. Ich kann es kaum abwarten, bis es endlich losgeht. Weißt du was? Ich liebe dich!“

Fredi musste schlucken. Er war mit einem Mal ganz gerührt. So sehr, dass sogar seine Augen feucht wurden. Hektisch blickte er sich um und wischte sich mit der Hand durchs Gesicht, bevor es noch jemand sehen konnte. Sabrina hatte so etwas schon öfter gesagt, und jedes Mal so unvermittelt, dass es ihn umhaute. Er kannte derartige Gefühlsäußerungen nicht von früher. In seinem Elternhaus war es ganz und gar unüblich gewesen, sich gegenseitig solcher Dinge zu versichern. Und selbst in der langjährigen Beziehung zu seiner großen Liebe Martina war dieser Satz nicht ein einziges Mal gefallen. Was ja nicht bedeuten musste, dass man sich nicht liebte. Manche Dinge sind nun mal so selbstverständlich, dass man sie nicht ständig betonen muss. Aber Sabrina war ganz anders, genauso wie alles in Berlin ganz anders gewesen war. Sie war so unverblümt, so geradeheraus, dass es Fredi oft überforderte. Am Anfang hatte er immer versucht, auszuweichen oder abzulenken, aber mit der Zeit hatte er festgestellt, wie gut es ihm tat, bestimmte Dinge auch einfach mal zuzulassen. Es hatte eine Weile gedauert, bis Fredi diesen Punkt erreicht hatte, aber selbst in dieser Phase hatte Sabrina ihn zu nichts gedrängt und ihn nie unter Druck gesetzt. Sie hatte ihn seinen eigenen Weg finden lassen. Fredi war sich bewusst, dass er durch Sabrina zu einem neuen Menschen geworden war und dass er ihr viel zu verdanken hatte. Allein das würde rechtfertigen, dass er sie ebenso liebte wie sie ihn. Und bis gestern war er auch der festen Überzeugung gewesen, dass es genauso war. Bis gestern, als er in Rosis Grillcontainer auf Martina getroffen war. Warum nur gelang es dieser Frau auch nach Jahren noch, in ihm Emotionen zu wecken, die andere bei ihm nicht annähernd auszulösen in der Lage waren? Und das nach allem, was sich zwischen ihnen abgespielt hatte.

„Schatz? Bist du noch dran?“, berlinerte es fröhlich durch den Hörer.

„Was? Ach so, ja natürlich“, antwortete Fredi schnell. „Und weißt du was? Ich liebe dich auch.“ Er spürte förmlich durch den Hörer, wie sie strahlte.

„Du bist so lieb, Schatz. Aber ick muss jetzt Schluss machen, Mama zur S-Bahn bringen. Kuss, Kuss, Kuss.“

„Ja, Kuss.“ Fredi legte auf. Er schob sein Handy in die Hosentasche und legte seinen Kopf in seine Handflächen. So erbärmlich hatte er sich lange nicht gefühlt. Zum ersten Mal bereute er seine Rückkehr nach Saffelen. In Berlin war doch alles so perfekt gewesen. Die Probleme waren alle weit weg gewesen. 650 Kilometer weit weg. Und jetzt? Jetzt wusste er plötzlich gar nicht mehr, was er denken sollte.

„Ach, hier bist du, Fredi“, brüllte plötzlich ein aufgedrehter Borowka durch die Nacht. Zwei Sekunden später saß er neben ihm auf dem Mäuerchen und streckte ihm mit beiden Händen äußerst vorsichtig ein Tablett mit randvoll gefüllten Schnapsgläsern entgegen. „Hier, Fredi, trink mal diesen selbst aufgesetzten Rhabarberschnaps. Den hat der Schlömer Karl-Heinz in sein Gartenhäuschen gebrannt. Der nennt sich ‚Saffelener Höllentropfen‘. Der gibt richtig Tinte auf der Füller, wenn du weißt, was ich damit andeuten will.“ Borowka lachte dreckig und hielt ihm das Tablett unter die Nase. Der aufsteigende Geruch war so scharf, dass Fredi für einen kurzen Moment befürchtete, blind zu werden.

„Baah, nee, hau ab mit das Zeugs“, schob Fredi das Tablett angewidert zur Seite, „da habe ich bei Spargel einen von getrunken, als der sein bestandener Idiotentest gefeiert hat. Danach war ich zwei Tage krank.“

„Mann oder Memme?“, polterte Borowka und kippte wie zur Bestätigung seiner eigenen Männlichkeit ein Glas auf ex runter. „Meine Fresse“, stieß er anschließend heiser hustend hervor, „das ist echt ein edles Tröpfchen.“

„Wo ist Rita überhaupt? Die habe ich noch gar nicht gesehen“, fragte Fredi.

„Hör mich bloß auf. Der ganze Nachmittag hängt Martina schon bei uns rum und ist sich am aus am heulen. Wenn die sich beruhigt hat, wollen die nachkommen.“

Fredi sah entsetzt auf. „Wer jetzt? Martina will hier hinkommen? Aber die fand der Juppi doch immer doof.“

Borowka schien an dem Höllentropfen Gefallen gefunden zu haben. Jedenfalls trank er noch einen zweiten, bevor er antwortete: „Was weiß ich denn? Rita meint, die bringt die mit, für dass die mal auf andere Gedanken kommt. Ist doch scheißegal. Wen interessiert denn schon Martina? Das Wichtigste ist, dass wir es heute richtig krachen lassen.“

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Yaş sınırı:
18+
Litres'teki yayın tarihi:
26 mayıs 2021
Hacim:
282 s. 54 illüstrasyon
ISBN:
9783981489750
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