Kitabı oku: «Unerhörte Nachrichten», sayfa 2

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Franzi: Hi Pap.

Prähausner: Hallo Franzi. Na, wie geht’s deinem Näschen?

Franzi: Brennt ein bisschen. Aber das halt ich schon aus. Mam geht’s schlechter als mir. Sie hat kein Wort mit mir geredet, seit sie nach Hause gekommen ist.

Prähausner: Tja, du weißt ja, dass bei ihr immer alles genau an der richtigen Stelle sein muss. Sogar der Schmuck.

Franzi: Ich kann selbst entscheiden, ob ich mir Löcher in die Nase zwicken lasse oder nicht. Ich bin alt genug dafür.

Prähausner: Wegen ein paar Nasenringen geht die Welt nicht unter – außer für deine Mutter natürlich. Franzi, ich stehe gerade vor deinem Kleiderkasten, weil ich für jemanden einen Pullover brauche.

Franzi: Einen Pullover? Für wen?

Prähausner: Für eine Frau. Sie hat nichts zum Anziehen. Sie ist vor unserem Supermarkt gelegen. Sie spricht kein Wort und hat kein Gepäck. Vielleicht kommt sie ja vom Bahnhof. Frau Hirscher hat sie zum Pinkeln mit in ihre Wohnung genommen. Wir haben überlegt, ob wir sie nicht für heute Nacht in deinem Zimmer …

Franzi: Wow, das ist lässig von dir, Paps! Klar kann sie in meinem Zimmer schlafen. Sie soll sich einen Pullover aussuchen. Was hat sie für eine Figur? Passen ihr meine Pullover überhaupt?

Prähausner: Die größten vielleicht.

Franzi: Dann nimm den roten Wollpulli. Der ist schön weich und dehnt sich gut.

Prähausner: Frau Hirscher kocht gerade Gulasch für die Frau. Gehört in ein Gulasch eigentlich Schweinefleisch? Vielleicht ist sie ja Muslimin.

Franzi: Sie wird dir schon klarmachen, ob sie Fleisch isst oder nicht. Was machst du morgen mit ihr? Nimmst du sie mit in die Redaktion?

Prähausner: Da habe ich noch nicht darüber nachgedacht. Bestimmt geht es ihr morgen wieder besser. Vielleicht geht sie zurück zum Bahnhof.

Franzi: Glaube ich nicht. Die sind tagelang an irgendwelchen Gleisen entlanggewandert. Die müssen sich erst mal ausruhen. Vielleicht ist bei der Überfahrt ihr Kind aus dem Schlauchboot gefallen und ertrunken, und deswegen hat es ihr die Sprache verschlagen. Weißt du was, ich komme morgen Abend zu dir und bringe ihr Sachen von Mama.

Prähausner: Untersteh dich! Du bist unter der Woche bei deiner Mutter, so ist es ausgemacht.

Franzi: Beruhig dich, Paps! Ich bin fast erwachsen. Ich kann selber sagen, wohin ich will. Das hat sogar der Richter gesagt.

Prähausner: Schon. Aber wenn du einfach zu mir kommst, dann wird deine Mutter …

Prähausner: Gar nichts wird sie! Ich nehme einfach das Zeug, das Mama zu klein geworden ist. Seit sie mit dem Günther zusammen ist, ringelt sich das Fett um ihre Hüften. Aber mit dem Günther ist zum Glück eh aus.

Prähausner: Mit dem Günther ist es aus?

Franzi: Ja, seit vorgestern. Ich bin so was von froh, dass Mama sich endlich entschieden hat. Kaum ist Günther da, holt er schon die Yogamatte aus der Ecke. Er zündet eines von diesen stinkenden Räucherstäbchen an, hockt sich auf den Boden und sagt Namaste. Kann er nicht einfach Hallo sagen?

Prähausner: Lassen wir das mit Günther. Die Frau braucht auch Unterwäsche. Sie ist gerade bei Frau Hirscher im Bad.

Franzi: Gib ihr eines von meinen Schlafleibchen, die sind lang und weit. Hat sie einen dicken Hintern?

Prähausner: Nein. Aber ganz so schmal wie du ist sie auch nicht.

Franzi: Dann gib ihr einen String-Tanga, die dehnen sich. Es sind zwei oder drei in meiner Unterhosenlade. Mit lauter Snoopys drauf. Hast du die Lade?

Prähausner: Einen String-Tanga? Also ich weiß nicht. Das könnte sie als Anzüglichkeit auffassen.

Franzi: Mensch, was du immer alles denkst! Snoopy und anzüglich, das ist echt lächerlich. Nimm den String, auf dem Snoopy auf seiner Hütte schläft. Die Frau soll merken, dass sie sich ausruhen darf.

Prähausner: Na gut. Hier ist Snoopy auf der Hütte. Ich gebe die Sachen Frau Hirscher.

Franzi: Ich komme morgen Abend zu dir, und wenn sich Mam auf den Kopf stellt!

Prähausner: Franzi, bitte …

Franzi: Keine Chance, Papsi! Bis morgen.

Prähausner stellte das aufgeschnittene Weißbrot, das in einem Körbchen lag, auf den Esstisch im Wohnzimmer. Er faltete Servietten neben die Teller, dann legte er das Besteck darauf. Erwartungsvoll grummelte sein Magen dem Gulasch entgegen. Wann hatte er eigentlich das letzte Mal unverhofft Besuch bekommen? Es musste mehrere Monate her sein. Froh, seiner weißkäsigen Diät wenigstens für diesen Abend entkommen zu sein, beschloss er, den Mozzarella im Gefrierfach seines Kühlschranks verschwinden zu lassen. Kulinarische Erneuerung tat not, allein schon seiner Tochter wegen. Am kommenden Samstagvormittag werde ich um frisches Gemüse in den Biomarkt fahren, ich werde gegen 11 Uhr den Nudeltopf aufstellen und Zwiebeln, Karotten, Brokkoli für die Sauce schneiden, ich werde mich kopfschüttelnd an all die Jahre erinnern, in denen mein Kühlschrank nicht viel mehr enthalten hat als mein Bier, meine Kaffeemilch und Franzis weißes Joghurt; ich werde an die Wochenenden zurückdenken, an denen meine Tochter stundenlang joghurtlöffelnd vor ihrem Laptop gesessen ist, reinweißes Joghurt und eine Serie aus dem tiefschwarzen Mittelalter, wie passt das eigentlich zusammen; ich werde daran denken, wie ich sie vergeblich mit Pizza, Curryreis, Glasnudeln an den Esstisch zu locken versucht habe, wie ich appetitlos alleine vor den Kartonboxen mit all den Köstlichkeiten gehockt bin und mir der Geruch nach Tomatenmark, Kokosmilch und Glutamat das Gefühl gegeben hat, in irgendeiner zugigen Imbissbude zu sitzen, und, trostlos transitorisch für den Rest meiner Tage, eine Luft zu atmen, die vom Fett der unablässig zischenden Fritteuse ranzig geworden ist.

Ich werde meine Tochter nicht zu Tisch bitten müssen, sie wird um Punkt 12 Uhr mit gewaschenen Händen im Wohnzimmer erscheinen und sich artig für die Pasta bedanken, sie wird mit Messer und Gabel essen, statt ihren Kopf mit der linken Hand vor dem freien Fall auf den Teller zu bewahren und mit der rechten lustlos in den Nudeln herumzustochern, und nach der Mahlzeit wird sie das Geschirr in die Küche tragen, statt sofort wieder hinter ihrem Laptop zu verschwinden.

Der Redakteur ging in die Küche und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Erst als er die Flasche bereits geöffnet hatte, kam ihm der Gedanke, dass es einer Muslima möglicherweise missfallen könnte, wenn er sich, wie so oft nach einem anstrengenden Tag, zwei oder drei Flaschen gönnte. Aber nein, dies war seine Wohnung, dies war ein Land, in dem nicht Haschisch, sondern Alkohol dazu beitrug, Spannungen abzubauen, und überhaupt war es an der Zeit, an einen Artikel zu denken, in dem es um gegenseitigen Respekt ging und nicht um eine Toleranz, die von den Neuankömmlingen vielleicht falsch verstanden wurde.

Mit der Flasche in der Hand setzte er sich an den gedeckten Tisch, dann stand er wieder auf, holte ein Glas aus dem Geschirrkästchen über dem Herd und schenkte sich sorgfältig ein.

Als das Schrillen der Türglocke seine Gäste ankündigte, als Frau Hirscher und die junge Fremde ein paar Sekunden später in der Wohnzimmertüre standen, hatte er es bereits geleert, hatte er sich so weit entspannt, dass das Erschrecken durch mich hindurchfährt, ohne dass es mein Gesicht verstört; dass ich ruhig sitzen bleibe, obwohl alles in mir aufspringt; dass ich einladend auf einen Sessel zeige, während ich sie hinausdrängen möchte aus meinem Wohnzimmer; dass ich wieder diesen Waldgeruch in der Nase habe, den kaltfeuchten Geruch nach moderndem Laub, nach Schimmel und sauer geschwitzten Kleidern. Für eine Sekunde verschwarzt mir ihr offenes Haar den Blick, ich schließe die Augen und öffne sie wieder, und jetzt ist alles anders, jetzt duftet sie nach Badewasser, nach Shampoo und Seife, jetzt schimmern ihre Augen groß und dunkel in einem seltsam zart wirkenden Gesicht, seltsam zart, weil ihre Nase sehr ausgeprägt ist, schmalrückig, aber ausgeprägt, und die Lippen haben etwas Mulattisches, mir fällt kein anderes Wort dafür ein, mulattisch, und nun sehe ich es: Es ist der ungewöhnlich ausgeprägte Amorbogen, der der Oberlippe etwas Geschürztes, etwas Hochgezogenes gibt, eine winzig kleine Ähnlichkeit, nichts sonst. Sie lächelt mir zu. Die Schneidezähne stehen irritierend schief in ihrem Mund.

„Ein schönes Mädchen, nicht wahr? Was so ein Badezimmer doch aus einer Frau machen kann!“, ließ sich Frau Hirscher vernehmen, die den Gulaschtopf vor dem Bauch trug. „Die Unterhose, die ihr Franzi geliehen hat, ist seltsam. So winzig. Trägt Ihre Tochter nur solche Unterhosen?“

Prähausner überhörte die fast schon besorgt vorgebrachte Frage. Mulatte, hatte dieser Begriff inzwischen nicht einen rassistischen Beiklang, war das nicht ein Wort, das von Mulo, von Maultier, herkam? Er atmete tief durch und deutete noch einmal einladend auf den Sessel, der ihm gegenüberstand. Es brauchte aber noch eine weitere Aufforderung von Frau Hirscher, bis die Fremde sich setzte.

Zwei Minuten später dampfte das Gulasch in den Tellern. Obwohl Prähausner seit dem Frühstück kaum etwas gegessen hatte, vergaß er in Beobachtung der jungen Frau, zuzugreifen. Mit Hunger in den Augen schaute sie kurz auf die Speise, in der nicht nur Kartoffeln und reichlich Fleisch, sondern auch Karotten und Petersilie schwammen, dann nahm sie den Löffel.

„Mahlzeit. Lassen Sie sich’s schmecken!“, sagte Frau Hirscher und schob der Fremden den Korb mit dem Brot zu. Sie nahm ein Stück, dann führte sie ihren vollen Löffel zum Mund, ganz ohne zu spritzen oder auch nur zu tröpfeln. Was würde Hubert sagen, wenn er diese Oberlippe sehen könnte, die Art, wie sie sich über dem Löffel aufwirft? Seit er hier ist, hat er kein einziges Mal über unsere gemeinsame Vergangenheit gesprochen, er redet immer nur über technische Neuerungen, über die Zukunft. Seine Stimme ist über die Jahre stickig geworden, stickig und dumpf, sie kommt aus seinem Mund wie aus einer drückend niedrigen Kammer. Nur wenn er über seine Innovationen spricht, lüftet er vorher das innere Gelass, und dann hört sich alles, was er sagt, frisch und unverbraucht an. Er ist einer der ersten gewesen, die damals auf das Internet gesetzt haben, er hat all die Entwicklungen richtig vorhergesagt und behauptet auch jetzt, über alles Kommende Bescheid zu wissen. Nur dass die Zukunft heute eine andere ist als in den 1990er Jahren, dass man kein Visionär mehr sein muss, um sich eine Welt ohne gedruckte Zeitungen vorstellen zu können. Aber Hubert tut so, als wüsste er Bescheid, muss so tun, um sich selbst verheimlichen zu können, dass er nicht zurück nach Österreich gegangen ist, um einem alten Freund mit einer revolutionären App aus der Bredouille zu helfen; Hubert hockt doch längst nicht mehr vor dem Computer, er hockt nur noch tief in sich selber drinnen, und die Erinnerung an bessere Zeiten schimmert bildschirmhaft vor seinem inneren Auge. Damals dieses kantige, fast immer blond verstoppelte Kinn, heute ziehen sich Backentaschen voller Fett bis hinunter zum Hals, das kann selbst der modisch-graue Vollbart nicht vertuschen – aber wer weiß, was er über mich denkt, darüber, dass ich inzwischen fast vollständig ohne Muskeln auskomme, dass ich ohne mein Bier in einer Woche verhungert wäre und dass mein Hinterkopf nicht mehr in einen Pferdeschwanz ausläuft, sondern in eine Drachenschnur. Allein Huberts wegen ist es mir aufgefallen, Huberts wegen, der vor Kurzem angekündigt hat, doch nicht weiter nach Wien zu ziehen, sondern in dieser „schnuckelig-schönen Touristenstadt“ bleiben zu wollen, um gemeinsam mit mir den Zeitungsmarkt aufzumischen, warum gerade den Zeitungsmarkt, hat er vielleicht doch eine Zukunft?

Erst die Paprikaschärfe des Gulaschs belebte Prähausner wieder für die Gegenwart. Er blickte zu der Fremden hinüber, die ihren Löffel ausgesprochen manierlich führte. Ihr sattfeuchtes, nicht eben leises Schmatzen hingegen wirkte irritierend, besonders auf Frau Hirscher, deren Stirne sich in vorwurfsvoll-feine Falten legte. Die junge Frau aß drei gestrichen volle Teller und ließ fünf Scheiben Brot verschwinden; Prähausner spülte sich mit drei Bieren frei von Erinnerung. Es war gut, nicht allein an diesem Tisch zu sitzen, gut, jemandem beim Essen zuzusehen, und es war schön, dass Frau Hirscher nach fast zehn Jahren Nachbarschaft das erste Mal in seiner Wohnung war. Nicht zuletzt tat das Gulasch gut, viel besser jedenfalls als der Mozzarella, als dieser kühlschrankkalte, weißfleischige Mozzarella, der eigentlich nur dann richtig schmeckte, wenn es Sommer war.

Nachdem der Topf geleert war, machte sich wohlige Entspannung im Wohnzimmer breit. Frau Hirscher lobte den Appetit der jungen Frau, die sich zurückgelehnt hatte, das selige Lächeln einer wahrhaft Satten im Gesicht.

Prähausner räusperte sich, es war ihm danach, so etwas wie eine Konversation nach Tisch zu beginnen. Gab es unter Schwerhörigen, unter Gehörlosen vielleicht ein besonderes Zeichen für derartige Gelegenheiten, ein visuelles Räuspern sozusagen? Während der Journalist noch überlegte, kam von der jungen Frau ein langes Gähnen, ein so hingebungsvoll lautes Gähnen, dass ihr Frau Hirscher sofort mit dem Finger drohte: „Das ist keine Art! Halten Sie sich wenigstens die Hand vor den Mund!“ Gleich demonstrierte Prähausners Nachbarin das richtige Benehmen, ohne Reaktion von Seiten der Fremden allerdings. Ihr Körper verstummte gerade, ihre Hände liegen auf dem Tisch und machen kein Geräusch mehr. Das Gesicht wird still, nur ihre Zungenspitze streicht noch für einen Augenblick über die Oberlippe, über den Amorbogen. Dann legt sie den Kopf etwas zurück, ihre Augen schließen sich, und nun ist kein Laut mehr, es ist etwas Schalldichtes um sie, um mich, ich stecke meinen Kopf in einen Kubus mit schmutzigweißen Bordwänden, zerkratzt und zerschunden von zahllosen Lasten. Einige Zurrgurte am Boden, und in einer Ecke ein Haufen zerwühlter Herrenmäntel, einige davon mit Krägen aus Kunststoffpelz. Direkt neben mir steht Hubert, er öffnet den Mund, ohne etwas zu sagen, er meint später, dass ich minutenlang in den Lastwagen gestarrt habe, ohne mich zu rühren, dass ich durch seine Fuchtelhand hindurchgesehen, dass ich erst reagiert habe, als er heftig an meinem Pferdeschwanz gezogen hat, und ich erinnere mich tatsächlich an eine Art von Klingelschmerz in der Kopfhaut, an ein heftiges haptisches Schrillen, das mich alarmiert herumfahren lässt, ich erinnere mich, wie ich hineinlaufe in den Wald, ohne auf Hubert zu hören, der hinter mir ist. Ich renne in immer größer werdenden Kreisen um die Lastwägen herum durch den schmutzig getretenen Schnee, da sind die Fichten rund um die morastige Senke und da ist der Wind, der kalt den Hang herunterzieht.

„Sie muss ins Bett.“ Frau Hirschers Stimme kam aus weiter Ferne, aus dem weiß gestrichenen Technikerraum eines Aufnahmestudios, vor dessen Mikrofonen sich Prähausner sitzen sah, sitzen, ohne zu wissen, wie er es sagen, wie er beginnen sollte.

Er merkte, dass ihm der Schweiß auf der Stirne stand. Das pfefferscharfe Gulasch hatte seine Zunge in einen brennenden Lappen verwandelt. Dieser Lappen schmerzte, als er sagte: „Wäre es nicht besser, wenn die Frau doch oben in Ihrer Garçonnière schlafen würde? Ich weiß nicht, ob sie sich wirklich wohlfühlt, wenn sie hier ganz alleine mit mir …“

„Das ist ihr durchaus zuzumuten“, bestimmte Frau Hirscher. „Meine Wohnung ist klein und hier hat sie ein eigenes Zimmer.“ Sie stand entschlossen auf. „Sie können mich ja anrufen, wenn es Probleme geben sollte. Gute Nacht!“

4

„Morgen. Hast du’s schon gehört?“ Annabel stand mit dem Redaktionstelefon in der Hand vor ihrem Schreibtisch. „Ich habe gerade mit unserem Gebirgsjäger geredet. Ich wollte ihn hinschicken, aber er hat einen Termin auf der Uni. Bald ist Semesteranfang.“

„Was? Wen? Wen wolltest du schicken?“ Prähausner, der eine Stunde später dran war als gewöhnlich, stellte den Rucksack neben seinen Schreibtisch und zog die Jacke aus.

„Na, wen wohl. Johannes.“ Sie steckte das Telefon zurück in die Ladestation und strich sich ihr lockiges Brünett mehrmals mit der Hand zurück, wie immer, wenn sie aufgeregt war.

„Ach so, den Gebirgsjäger. Was ist passiert? Ist jemand abgestürzt oder so?“ Prähausner setzte sich und schaltete seinen Computer ein. Das gewohnte Summen erst gab ihm das Gefühl, im Büro angekommen zu sein.

„Sag bloß, du hast es noch nicht mitgekriegt? Vor zwei Stunden ist es das erste Mal gemeldet worden. Überall!“ Annabel lachte ungläubig. Sie setzte sich in gewohnt rundrückiger Haltung wieder an ihren Schreibtisch, der so nahe an Prähausners Arbeitsplatz herangeschoben worden war, dass sich die Längsseiten der Tischplatten berührt hätten, wenn nicht die Bildschirmkabel dazwischen hindurchgeführt worden wären.

„Nein, habe ich nicht. Ich habe noch keine Zeit gehabt, die Nachrichten zu scrollen.“

„Mal wieder Hertha“, stellte Annabel trocken fest. „Vier, fünf Jahre noch, dann hast du sie endlich los. Dann ist Franzi erwachsen.“

„Ja“, sagte Prähausner, der von den Ereignissen der Nacht noch halb benommen war. Selbst die wichtigste Mahlzeit des Tages, sein Frühstück, hatte er ausfallen lassen.

„Verkehrskollaps an der Grenze!“, rief Annabel. „Die Flüchtlinge belagern den Grenzübergang bei Freileichtheim. Es sollen schon mehr als vierhundert dort sein! Sie weigern sich, weiter in der Tiefgarage zu übernachten. Alle wollen vom Bahnhof zur Grenze. Die Polizei holt immer wieder welche von den Gleisen. Sie sind kaum zu stoppen.“

„Oje. Auch das noch“, stöhnte Prähausner. Er stützte seinen Kopf mit der rechten Hand und massierte sich mit dem Daumen kurz die Schläfe.

„Sag mal, was ist denn los mit dir?“ Annabel stand wieder auf, umrundete ihren Schreibtisch und beugte sich, echte Besorgnis im Gesicht, zu mir herunter. Ach, ich habe großes Glück mit meiner Kollegin. Sie beträufelt beinahe täglich die Zimmerpflanzen, die vor dem einzigen Fenster dschungeln, mit Wasser, sie gibt mir das schöne Gefühl, nicht in einem viel zu kleinen Büro, sondern im Urwald zu arbeiten, einem Urwald voller exotischer Gerüche, denn sie hat auch eine Schale für Duftöle aufgestellt, Bromelienauszug, Epiphytenöl, Papayaessenz, jeden Tag fragt sie mich danach, welches Aroma ich mir heute wünsche, und immer überlasse ich am Ende die Auswahl ihr. Ich nicke höflich, wenn sie sich eines ihrer Fläschchen vor die Augen hält und mir vorliest, welche Wirkung der Duft haben soll, entspannend, belebend, ausgleichend, euphorisierend; mir ist es gleich, aber ich schaue ihr immer zu, wenn sie ihre Schale beträufelt, und dann rieche ich den ganzen Tag doch nichts anderes als die Arbeit, nichts als das viele Papier, das sich hinter mir in den billigen Stellagen stapelt, Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, und, in schlecht verschlossenen Kartons, die Neuesten Grätzelnachrichten der letzten drei Jahre. Alle anderen Ausgaben, die ich verantwortet habe, setzen bei mir zu Hause im Keller Schimmel an, der Schimmel hüllt all die ehemaligen Neuigkeiten in seinen weißen Flaum, er flauscht sich zwischen die Seiten, streut seine Sporen auf die Fotos, auf die Köpfe der Politiker, Sportler, Künstler.

Jetzt erzähle ich Annabel von der Fremden, ich erzähle ihr nichts von ihrem Amorbogen und schon gar nichts von ihrem sauren Waldgeruch, sondern davon, wie die schläfrige Stille aus ihren Gliedern weicht, als ihr klar wird, dass Frau Hirscher die Wohnung verlassen hat, ich erzähle Annabel, dass die junge Frau von ihrem Sessel hochfährt und mir mit ihren Händen, ihren Armen ein einziges lautes Nein! entgegenschreit. Ich verstehe sie, ich verstehe alles, und doch kann ich ihr keine Antwort geben, vollkommene Sprachlosigkeit im Gesicht, in den Gliedern, stehe ich da und sehe sie aus dem Zimmer, aus der Wohnung rennen, und ich verschweige Annabel, dass ich mich für fünf, für zehn Minuten nicht vom Fleck bewege, dass ich der Fremden nur in Gedanken nachrenne zum Bahnhof, wo sie ihre Familie wiedertrifft oder Leute aus ihrer Stadt, Gehörlose, denen sie endlich alles mitteilen kann. Ich berichte meiner Kollegin nicht, dass ich mich erst danach dazu zwinge, hinaufzugehen in den dritten Stock und bei Frau Hirscher anzuläuten, ich berichte, dass das offene Haar der Nachbarin spinnwebgrau um ihren Kopf steht, als sie öffnet, dass sie sich aber trotzdem, noch im Bademantel, sofort auf die Suche nach der Fremden macht. Dass sie sie nur wenige Minuten später findet, weil sie nicht zum Bahnhof oder in den Park gelaufen ist, sondern schluchzend auf dem Rasen vor dem Wohnblock sitzt, die Hände verzweifelt auf das Gesicht geschlagen. Ich berichte, wie es Frau Hirscher nach längerem freundlichem Zureden gelingt, die junge Frau wieder zurück ins Haus zu führen, zurück in meine Wohnung, wo sie sich nach und nach beruhigt, als die Nachbarin Bettzeug aus ihrer Garçonnière holt, auf der Couch im Wohnzimmer ausbreitet und sich dort niederlegt.

„Warum hat der Gebirgsjäger keine Zeit?“, fragte Prähausner plötzlich. Er merkte, dass er auf den Bildschirm starrte, ohne etwas zu sehen. Kurz rieb er sich mit der Hand über die geschlossenen Augen und blickte dann noch einmal hin. Auf einem Foto konnte er die Brücke bei Freileichtheim, vor der sich zahllose Menschen drängten, erkennen. Flüchtlinge belagern Grenze stand unter dem Bild. Noch einmal rieb sich der Redakteur die Augen. Es brauchte sofort eine größere Meldung auf Grätzel-News, am besten inclusive Fotostrecke. Warum nochmal hatte der Gebirgsjäger gerade keine Zeit? Seine kleine Kolumne Aus Wald und Fels machte er wirklich gut.

„Krass!“ Annabel staunte ihn kopfschüttelnd an.

Manchmal, wenn sie solche Wörter benutzte, hatte Prähausner das Gefühl, mit Franzi im Büro zu sein. Dabei war seine Kollegin schon Mitte dreißig. „Wieso heißt die Gebirgsjägerkolumne eigentlich Aus Wald und Fels? Wer hat sich so einen Blödsinn ausgedacht?“

„Die Kolumne? Wie kommst du denn gerade jetzt da drauf? Johannes wollte das so. Er findet, dass die Leute progressive Texte eher lesen, wenn sie konservative Überschriften haben.“

„Ah ja, ich erinnere mich. Du hast die Überschrift durchgesetzt, nachdem du mit Johannes wandern warst.“

Annabel kehrte schnell hinter ihren Schreibtisch zurück. An ihrem irritierten Gesichtsausdruck merkte Prähausner, dass er sich im Ton vergriffen hatte. „Bitte entschuldige. Das alles hat mich ziemlich … ich habe kaum ein Auge zugekriegt. Außerdem brummt mir der Kopf.“

„Schon gut. Soll ich nach Freileichtheim? Die Besprechung für die nächste Print-Ausgabe fällt ja wohl aus.“

„Gute Idee. Fahr gleich hinaus. Ich rufe Hubert und Johannes an, damit wir wissen, wer was übernimmt. Vielleicht machen wir zwei Interviews an der Grenze. Eines mit einem Flüchtling und eines mit einem Caritas-Mitarbeiter. Sind die Hilfsorganisationen schon vor Ort?“

„Nein.“ Annabel hatte bereits ihre Jeansjacke vom Kleiderständer genommen. „Freiwillige schenken Tee aus und schmieren Butterbrote. Das ist bis jetzt alles.“

„Gut. Ruf mich an, wenn du dort bist.“ Er schaute ihr nach, als sie, das Täschchen mit Aufnahmegerät und Kamera in der Hand, aus dem Redaktionszimmer lief und dachte daran wie sie vor fast vier Jahren bei den Grätzelnachrichten angefangen hat, eine schlanke junge Frau, die ich sofort um ihre Neugier beneidet habe, um ihren ehrlichen Willen, alles gut zu machen, und um ihre Angewohnheit, nach zwei, drei Stunden eifriger Arbeit zu einem groben Holzkamm zu greifen, um vergeblich Ordnung in ihr Haar zu bringen, in diese Anarchie aus Locken und Löckchen, Kringeln und Krauseln, Zotteln und Zwirbeln. Wo sie den Kamm voll energischer Ungeduld durch ihre Mähne zieht, fahre ich vorsichtig damit in den Nacken, um nicht allzu viele Haare zu verlieren, um am Hinterkopf nicht noch lichter zu werden, als ich es ohnehin schon bin. Wenn ich mich um dieses Blatt bemühe, dann nur wegen Annabel, wegen ihrer Haare, die sie weiterhin kämmen soll, sie kämmt sich ihre Haare, während ich mir die meinen raufe, es ist lächerlich, ganz einfach lächerlich, was zurzeit an Anzeigen hereinkommt, jetzt geht es um unsere Existenz, um eine Zeitung, die längst keiner mehr braucht, am allerwenigsten ich selbst. Finanziell wäre es viel vernünftiger, die Nachrichten einzustellen und irgendwo anzuheuern, vielleicht, um Online-Content zu produzieren, aber nein, dazu bin ich zu alt, zu langsam und zu technikfeindlich, es wäre also am besten, das Arbeitsmarktservice aufzusuchen, ach Unsinn, das Arbeitsmarktservice wäre dann für Annabel zuständig, Hubert und mir bliebe als Selbständigen nur noch die Mindestsicherung. Ich müsste Franzi eingestehen, dass ich gescheitert bin, Franzi, die die Neuigkeit brühwarm zu Hertha tragen wird, eine wunderbare Gelegenheit für meine Ex, unserer Tochter zu beweisen, dass sie es schon immer gewusst und sich völlig zurecht von mir getrennt hat, aber Franzi ist zum Glück nicht auf den Mund gefallen. Franzi wird fragen, warum sich ihre Mam, wenn sie es schon immer gewusst hat, ein Kind hat machen lassen, es gibt doch eine Menge Möglichkeiten, Spaß zu haben und gleichzeitig Nachkommenschaft zu verhindern, die Pille, die Spirale, Kondome und natürlich die Abtreibung, die den niedlichen kleinen Embryo-Franzis absolut zuverlässig den Garaus macht, und Hilde wird sich über ihr Kind entsetzen und gleichzeitig losheulen aus schlechtem Gewissen, oh, wie ich es gehasst habe, wenn sie plötzlich zu heulen angefangen hat, sie ist wochenlang kalt beherrscht, ein Eisberg schwimmt durch die Wohnung, und dann zerfließt dieser Eisberg mit einem Mal zu Tränen und legt sich nass um deine Füße, im Nu steht dir das Wasser bis zu den Knöcheln, den Knien, es umschließt deine Hüften und läuft dir in die Hosentaschen, saugt sich in dein Hemd und füllt dir den Kragen. Du kannst froh sein, wenn du es schaffst, ein paar Schwimmzüge zu machen, wenn du oben bleibst, weil sich Hertha an dich klammert und versucht, dich hinunterzuziehen in ihr Elend, bis du darin ersäufst.

Ach Hertha, ich war ein Schiffbrüchiger im Nordpolarmeer des Lebens, ausgezehrt von der weißen Wüste der Einsamkeit bin ich auf dich zugetrieben, das Herz eine Frostbeule, und so warst du mir, südwärts ziehender Eisberg, wundervolle Rettung vor der drohenden Polarnacht der Depression. Und jetzt haben wir dieses Kind, das schon bei Minusgraden auf die Welt gekommen ist und immer noch keine Anstalten macht, zu erfrieren, im Gegenteil, es kennt nichts anderes als das Eis, es hat sich nach und nach eine so dicke Speckschicht rund um seine Seele angefressen, dass es nicht einmal dann zu frösteln scheint, wenn zwischen seinen Eltern wieder einmal der arktische Winter aufzieht.

Für Annabel mache ich dieses idiotische Anzeigenblatt, für Annabel und für Franzi und deswegen, weil ich mich ja irgendwie ablenken muss, vielleicht von mir selber, davon, dass ich mein Talent an eine Bürgerinitiative, die einen Fußgängerüberweg um dreihundert Meter versetzt haben will, verschwende, daran, dass ich mich jetzt am liebsten mit einem Bier beruhigen würde oder vielleicht sogar mit zwei. Erst ein gelungen eingeschenktes Glas durchschäumt die drückend gewordenen Tage mit Leichtigkeit, erst die Bitterkeit des Hopfens lässt mich vergessen, wie bitter das Leben doch ist.