Kitabı oku: «Unerhörte Nachrichten», sayfa 4
6
„Ein guter Artikel. Der Gebirgsjäger wird immer besser.“ Prähausner scrollte ein wenig zurück und las laut vor:
„Österreich ist ein schönes Land. Nur die Sonne zeigt sich so selten“, sagt Ahmed aus Kabul. „Hoffentlich ist es in Helsinki wärmer. Bald werden wir dort sein.“ Ich verabschiede mich und bringe es nicht übers Herz, Ahmed wissen zu lassen, dass es in Finnland weit weniger Sonne geben wird als hier in Österreich.
Ich bringe es nicht übers Herz, ihn wissen zu lassen“, wiederholte Prähausner. „Das ist fast schon literarisch ausgedrückt.“ Er strich sich ein paar Haarsträhnen, die sich aus seinem Pferdeschwanz gezaust hatten, hinter das rechte Ohr zurück.
„Ja. Das Thema liegt ihm. Er ist ein politischer Kopf.“ Annabel stand von ihrem Schreibtisch auf und räkelte ihre Arme in Richtung Decke. „Ah, das tut gut. Gestern Abend war wieder Yoga-Kurs. Du könntest dich eigentlich auch mal ein bisschen bewegen.“ Sie streckte ihre Arme V-förmig in Richtung Decke. Es sah aus, als hätte sie sich als menschliches Ausrufezeichen hinter ihren letzten Satz gesetzt. Das war eine Aufforderung wie ich sie nur allzu gut von Hertha kenne, hättest du, könntest du, würdest du. Höflich bis zur Selbstverleugnung, aber mit einem derart leidenden Unterton, dass sich das schlechte Gewissen sofort zur Hintertür hereinschleicht und ich das Erbetene sofort erledige. Nein, ich werde mich nicht bewegen, ich werde an meinem Schreibtisch sitzen, bis sich meine Finger über der Tastatur versteifen, bis ich nicht mehr aufstehen kann und du, liebe Annabel, mich in Richtung Friedhof schleppen musst. Jetzt beugt sich die Kollegin mit durchgestreckten Beinen nach vorne und nimmt eine seltsam baumelige Körperhaltung ein, Kopf und Arme hängen nach unten. Mit einer Stimme, die unter ihrem Schreibtisch gründelt, fordert sie mich noch einmal auf, etwas für meinen Körper zu tun. Danke, Annabel, mein Gehirn ist auch so ganz gut durchblutet, ich brauche meinen Kopf nicht hängen zu lassen.
Ach, was muss ich ständig an Frauen geraten, die sich nach fernöstlicher Spiritualität verrenken, die sich an mich heranmeditieren oder mich mit ihrer Safranglut verbrennen? Warum kann Annabel nicht einfach in die Kirche gehen und niederknien, warum liest Hertha in einem Achtsamkeitsratgeber, statt ein Vaterunser zu beten?
Zufrieden schnaufend richtet sich die Kollegin wieder auf. Das Blut, das in ihr Gesicht gelaufen ist, steht ihr ausgezeichnet, gleich sieht sie weniger büroblass aus als zuvor – und die Haltung erst! Ihr Busen strafft in meine Richtung, die Brustwarzen spitzen durch den Stoff. Wild zwirbelt ihr Haar in alle Richtungen. Wie sehr ich sie doch um dieses Haar beneide, um seine Widerspenstigkeit, um sein brünettes Quirlen, Strähnen und Strubbeln, in das mein Blick sich jetzt hineinverirrt; so dicht ist dieses Haar, dass ich noch niemals wirklich ihren Nacken gesehen habe, noch nie das sanft von den Wirbelfortsätzen durchhügelte Stückchen jungfräulich weißer Haut, wohlgeborgenes Hymen, das nur durch einen gezielten Biss zerrissen werden kann. Ich merke, dass ich starre, dass sich mein Blick peinlich versteift hat. Da hilft nur noch, ein möglichst finsteres Gesicht zu machen: Yoga kommt für geile Männer mittleren Alters, die sich vor sich selber grausen, einfach nicht in Frage.
Enttäuscht blickt sie zu mir herüber, jetzt setzt sie sich wieder vor den Bildschirm und ihr Rücken rundet sich. Schade. Ihr Busen verkriecht sich zwischen ihren Schultern.
„Äh, warum ziehen sich Hindu-Frauen eigentlich oft das Sarituch über den Kopf?“, fragte Prähausner. „Hat das religiöse Gründe?“
„Keine Ahnung“, sagte Annabel. „Wieso?“
Der Journalist erzählte ihr vom gestrigen Wohnzimmer-Catwalk und von Maras gelungener Sari-Präsentation.
Mit kraus gezogener Stirne blickte ihn die Kollegin einen Moment lang skeptisch an, dann öffnete sie die Lade mit ihren Duftölen. „Tasmanisches Berg-Eukalyptus-Öl oder Tiroler Latschenkiefern-Extrakt?“ Leise klirrten die Glasfläschchen aneinander.
„Kiefer“, wählte Prähausner, der sich wieder seinem Bildschirm zugewandt hatte. „Wir könnten den Gebirgsjäger damit beauftragen, sich einen Sunniten, einen Alewiten, einen orientalischen Christen und so weiter zu suchen. Er könnte Artikel über die jeweiligen Lebens- und Fluchtgeschichten schreiben. Daneben könnten wir in einem Kästchen die dazugehörenden Religionen erklären.“
„Latschenkiefer!“, sagte Annabel mit Nachdruck. „Diese Mara beschäftigt dich ziemlich, was?“ Sie nahm eines der Fläschchen aus der Lade, schraubte es auf und gab einige Öltropfen in die Wasserschale, die neben ihrer Tastatur stand. Sofort verbreitete sich ein harzigherber Duft im Raum.
„Ja. Aber vielleicht auf … auf eine andere Weise, als du denkst“, antwortete Prähausner. „Wahrscheinlich ist sie wirklich aus Indien, so selbstverständlich, wie sie den Sari trägt.“
„So selbstverständlich wie ich meinen Kapuzenpullover?“ An Annabels mokantem Unterton merkte Prähausner, dass sie ihm nicht glaubte. Wenn sie wollte, konnte sich die Kollegin ausgesprochen sarkastisch geben. Besonders Hubert pikste sie nicht selten mit ihren spitzen Bemerkungen.
„Zuerst Hertha mit ihren Hosenanzügen, ihren Kostümen. Dann jahrelang nichts, und dann plötzlich so ein bunter Sari. Da muss Mann ja schwach werden“, höhnte Annabel. Sie saß plötzlich kerzengerade da und griff mit der rechten Hand nach hinten, an die Lehne ihres Bürosessels, anschließend drehte sie ihren Oberkörper. Ihr Kopf folgte dieser leicht spiraligen Bewegung, und so grünten auch ihre Augen nach hinten, an die Wand, wo Prähausner die Urkunde aufgehängt hatte. Der Medienpreis des Bundeslandes war vor nun schon sechs Jahren an die Neuesten Grätzelnachrichten gegangen, für die „außergewöhnliche Berichterstattung im lokalen Bereich“. Hertha und er waren damals als ein privat wie beruflich erfolgreiches Paar gefeiert worden, dabei war die Trennung bereits absehbar gewesen.
Prähausner seufzte auf. Er hatte längst niemanden mehr, der die Nachrichten nach außen repräsentierte, der effiziente Werbung für das Werbeblatt zu machen verstand. Daran würde auch Huberts App nichts ändern.
Die beängstigenden Zahlen vor dem inneren Auge, seufzte der Redakteur noch einmal auf, dann sagte er zu Annabel: „Weißt du was, ich mache die religionsspezifischen Interviews selbst. Ich muss mal wieder raus aus diesem Büro, sonst werde ich schier verrückt. Kommst du mit? Ich brauche jemanden, der fotografiert.“
7
Die Leute hockten auf dem Boden, auf Decken, Jacken oder ganz einfach im trockenen Gras, nein, sie hockten nicht, sie lagerten, sie hatten sich bequem ausgestreckt und machten ihre Rucksäcke, ihre Taschen zu Kopfkissen, sie hatten sich sämtlich scheinbar locker über die Wiese verstreut, und doch war so etwas wie ein Muster erkennbar: Die Familien bildeten immer einen Kern, ein geschlossenes Zentrum, um das sich junge Männer sammelten, zu dritt, zu viert saßen sie mit überkreuzten Beinen und blickten auf ihre Smartphones, rauchten und aßen die Semmerln, die das Bundesheer verteilte, oft aber nur das Brot, die Wurst landete im Gras.
„Ist da eigentlich Schweinefleisch drin?“ Prähausner zeigte mit der Schuhspitze auf eine zertretene Scheibe Extrawurst.
„Ich glaube schon.“ Annabel nahm die Kamera vom Auge und verzog angewidert das Gesicht. „Können die keine Käsesemmerln verteilen? Dann wüssten die Leute, woran sie wären und es würde nichts verschwendet. Klohäuschen sollten sie aufstellen. Und Mistkübel“, sagte die Kollegin, während der Verschluss ihrer Kamera bereits wieder klickte.
Sie hatte recht. Dem Geruch nach zu schließen, wurde nicht nur die Flussböschung als Toilette benutzt. Zwischen den lagernden Gruppen ließ der warme Wind Plastikabfälle vagabundieren, überall lagen Flaschen, weggeworfene Decken und Kleidung. Toilettenhäuschen statt waschkörbeweise Extrawurst-Semmerln war allerdings kein guter Vorschlag, jedenfalls nicht, wenn es nach dem Polizeisprecher ging, den Prähausner vor etwa zwei Stunden telefonisch erreicht hatte. Man wolle die Leute in der leergeräumten Autobahnmeisterei unterbringen, die nur wenige Kilometer entfernt und inzwischen mit allem Notwendigen ausgestattet sei. Ein wildes Camp an der Grenze werde man nicht dulden. Noch sah es nicht nach einem Camp aus, eher nach einem Massenpicknick.
„Stell dir vor, das wären Österreicher. Die würde alle auf den Bordsteinen sitzen oder auf den Steinen am Flussufer und nicht auf dem Boden.“ Annabel verstaute die Kamera in ihrer Tasche. „Oder sie würden gleich Bierbänke und Biertische aufstellen.“
Prähausner lachte. Tatsächlich hatte das Bundesheer damit begonnen, am Straßenrand Biertische aufzuklappen. Kollegen vom deutschen Fernsehen filmten einen Soldaten, der gerade ein Ofenrohr auf einen klobigen tarnfarbenen Anhänger steckte. Eine Feldküche! Wann hatte er das letzte Mal so etwas zu Gesicht bekommen? Vielleicht als Bub, bei einer der jährlichen Leistungsschauen des Bundesheers?
„Die Brücke. Die habe ich noch nicht!“ Annabel packte die Kamera wieder aus, dann suchte sie sich einen Weg zurück auf die Straße.
Der Grenzfluss war hier nicht sonderlich breit, grün und klar zog das Wasser unter der Brücke, die nicht mehr als siebzig, achtzig Meter überspannte, hindurch. Hundert, hundertfünfzig Flüchtlinge hatten auf den Geh- und Radwegen beiderseits der Brückenfahrbahn Platz gefunden. Die Allermeisten standen an das Geländer gelehnt, viele aber saßen auch am Boden, so wie Ibrahim, ein Schiit aus dem Irak. Prähausner hatte ihn vorhin interviewt, und jetzt waren er und seine beiden Cousins bereit, sich vor Annabels Kamera zu stellen. Keinen Schritt würden sie von der Grenze wegmachen, hatte Ibrahim erzählt, sie seien unter den ersten gewesen, die sich bis hierher durchgefragt hätten, und nun blieben sie, bis die Deutschen den Schlagbaum öffneten. Nach wochenlanger Flucht sahen die drei überhaupt nicht aus, eher so, als hätten sie sich gerade aus einem gut gefüllten Kleiderschrank bedient. Selbst Ibrahims weißes Hemd war fleckenlos sauber; Aftershave-Geruch zog in Prähausners Nase.
„Wir haben uns heute Morgen am Fluss gewaschen und rasiert“, hatte der jüngere der beiden Cousins, dessen schwarze Brauen fast schon schnurrbartartig über seinen Augen stachelten, erklärt. „Wir wollen einen guten Eindruck bei den Deutschen machen.“
Nach einer baldigen Öffnung der Grenze sah es allerdings nicht aus, auch handelte es sich nicht eigentlich um einen Schlagbaum, sondern um eine Art Gitter, das sich genau in der Mitte der Brücke über Fahrbahn und Gehwege spannte und mit zwei Toren für den Verkehr versehen war. Kein eilig herangeschaffter Bauzaun, sondern eine massive, mindestens drei Meter hohe Sperre, die gut vor das Eingangstor einer Kaserne gepasst hätte. Dahinter hatte die deutsche Polizei Stellung bezogen, Beamte in ihrer Alltagsuniform, die den zäh dahinfließenden Autoverkehr kontrollierten, und außerdem ein paar dutzend durchtrainierte Männer, die ihre Helme an ihre Koppeln gehängt hatten. Durchsichtige Schilder lehnten in Reihe am Brückengeländer.
Hinter den Kulissen, hieß es, wurde hektisch verhandelt. Österreichische Spitzendiplomaten waren nach Berlin geflogen, um sich für ein Kontingent von sechshundert bis tausend Flüchtlingen pro Tag einzusetzen. Unverhofft den Rücken gestärkt hatte ihnen die ungarische Präsidentin mit einem offenen Brief an die deutsche Regierung: Auch in ihrem Land seien die Vertriebenen kaum noch unterzubringen; Bahnhöfe, Turnhallen, Militärzelte seien übervoll. Abhilfe könne nur geschaffen werden, wenn das wirtschaftlich stärkste Land Europas sich für die Hilfesuchenden öffne.
„Danke, das reicht. Ich habe euch und den Zaun drauf. Das Foto kommt in unsere Zeitung“, sagte Annabel auf Englisch zu Ibrahim. „Wollt ihr wirklich hier übernachten?“ Sie steckte die Kamera endgültig zurück in die Tasche.
„Ja, eine Nacht ist kein Problem für uns. Morgen werden sie uns hineinlassen.“ Ibrahim war voller Optimismus. In Deutschland, hatte er während des Interviews gesagt, wolle er als Zahnarzt arbeiten, so wie in Basra auch, und nach ein, zwei Jahren seine Familie nachholen.
„Na, dann viel Glück!“
Als Prähausner und seine Kollegin in Richtung Auto gingen, fiepte Annabels Smartphone. „Unser Gebirgsjäger“, sagte sie mit Blick auf den Bildschirm. Sie wurde langsamer, dann blieb sie stehen. „Er ist auf der deutschen Seite der Grenze unterwegs. Schau mal.“ Sie hielt Prähausner ihr Gerät vor die Nase. Auf einem Foto war ein Bautrupp zu sehen, der Nato-Draht auf dem Waldboden ausrollte. „Sieht aus, als wäre es gar nicht weit von hier. Das ist im Auwald.“
„Was? Ein Zaun? Das kann doch … davon war doch nie die Rede!“ Prähausner starrte auf das Foto, ohne einen weiteren Gedanken fassen zu können. Die Sonne im wolkenlosen Himmel, das Rauschen des Flusses. Das friedliche Picknick mit der Extrawurst. Ich will etwas sagen, aber es geht nicht, meine Kehle ist dürr und trocken geworden. Schnell hole ich die Wasserflasche aus meinem Rucksack, nehme einen Schluck, dann noch einen. Annabel scheint nicht zu begreifen, sie blickt mich nur ein wenig verwundert an, weil ich nicht reagiere, nicht reagieren kann. Es ist nicht möglich, nicht hier, an der Grenze zu Deutschland. Das Foto muss Johannes aus einer anderen Gegend bekommen haben, aus Mazedonien, Serbien, aus Griechenland.
„Ruf Johannes an, sofort. Er soll vor Ort bleiben und weitere Fotos machen. Fotos vom Zaun. Vielleicht gibt es Truppenbewegungen. Auch davon brauchen wir Fotos, möglichst schnell.“
„Okay.“ Annabel tippte schon auf ihrem Telefon herum.
„Und dann wechselst du rüber. Du gehst ins Rathaus von Freileichtheim und überrumpelst den Bürgermeister. Du fragst ihn auf den Kopf zu, ob er etwas weiß, und wenn er es leugnet, zeigst du ihm das …“
Wieder fiepte Annabels Handy. Der Gebirgsjäger hatte drei weitere Bilder geschickt. Eines zeigte einen Lastwagen der Deutschen Bundeswehr, der Drahtrollen geladen hatte, die beiden anderen Soldaten, die Zaunpfähle in den Waldboden schlugen. Verblüffenderweise waren beide Aufnahmen gestochen scharf. Sie mussten aus unmittelbarer Nähe gemacht worden sein.
„Wie hat er denn das zustande gebracht?“ Prähausners Kehle war noch immer so trocken, dass er den Satz nur mit Mühe zu Ende bringen kann. Da bin ich seit beinahe fünfzehn Jahren Redakteur bei den Neuesten Grätzelnachrichten, da bilde ich mir ein, dass ich alles, aber auch wirklich alles, was in dieser Stadt passiert, schon Tage vorher erahnen kann, und nun schickt mir ausgerechnet ein jobbender Bummelstudent ein paar Fotos, die möglicherweise mehr verändern werden als alles, was ich bisher erfragt, geschrieben, gedruckt habe. Wasser. Es gluckst aus der Flasche in meinem Mund, schwemmt kühl meine Kehle hinab. Das ist meine Chance. Jetzt heißt es handeln.
„Sieht arg aus, der Zaun.“ Annabel, die langsam zu begreifen schien, fragte nach genaueren Anweisungen.
„Du fährst mit dem Wagen nach Freileichtheim ins Rathaus. Ich fahre mit dem Bus ins Büro. Wir müssen schnell sein. Du hast dreißig Minuten! In höchstens einer Stunde sind wir online!“
Gleichzeitig rannten sie los, Annabel zum Auto, das ganz in der Nähe der Brücke geparkt war, Prähausner in Richtung Busstation, die etwa einen Kilometer von der Grenze entfernt war, er rannte an der Fahrzeugkolonne, die sich von der Brücke aus zurückstaute, entlang, hetzte über eine rote Ampel und steigerte trotz des plötzlichen Stechens in seiner Seite die Geschwindigkeit, während sich in seinem Kopf schon die erste Schlagzeile zu bilden begann:
SCHOTTET DEUTSCHLAND SICH AB?
Bundeswehr baut Zaun an der Grenze. Nato-Draht wird angeliefert. Erste Fotos, exklusiv in den Neuesten Grätzelnachrichten.
Noch im Laufen holte er sein Telefon aus der Hosentasche. Jetzt musste Hubert zeigen, was er draufhatte, jetzt würde sich beweisen, was seine App wirklich konnte, ob das digitale Copyright tatsächlich funktionierte. Bis die großen Agenturen herausgefunden hatten, wo der Zaun gespannt wurde, konnte es zwei, drei Stunden dauern, und bis dahin gehörten die Schlagzeilen ganz allein den Neuesten Grätzelnachrichten.
8
„Hallo Papsi! Wo warst du so lange?“ Franzi rutschte von der Couch, als Prähausner das Wohnzimmer betrat. Im Schlafanzug tappte sie auf den Journalisten zu. Er drückte sie an sich, küsste ihr traumverwirrtes Gesicht und sog ihren Geruch ein, ihren Nachtgeruch, den sie schon als kleines Kind gehabt hatte, einen Geruch nach Bettwärme, Schlaf und der süß schmeckenden Kinderzahnpasta mit dem Mammut auf der Tube, die sie noch immer benutzte. Es war 3 Uhr nachts.
„Tut mir leid, Franzi, es war die Hölle los. Es ist etwas Unglaubliches passiert. An der Grenze.“
„Ist das wegen dem Zaun, den sie bauen?“
Prähausner ließ seine Tochter los. „Woher weißt du davon?“
„Von deiner App. Ich habe zusammen mit Mara geschaut. Ich habe den Beitrag sofort geteilt.“
„Danke, Franzi. Die App … sie funktioniert wirklich gut.“ Prähausner war plötzlich schwankig zumute. Er hielt sich an der nächstbesten Sessellehne fest und kam zu dem Schluss, dass er seit vierzehn Stunden weder gegessen noch getrunken hatte und dass er zumindest die Flüssigkeitsaufnahme schleunigst nachholen sollte, wenn er morgen wirklich noch vor acht wieder in der Arbeit sein wollte, nein musste, denn Hubert, der am Abend ins Büro gekommen war, um Annabel abzulösen, konnte unmöglich bis in den Vormittag hinein durchhalten; aufgekratzt, wie er seit Stunden war, brach er immer wieder in unkontrolliertes Gelächter aus, und das selbst dann, wenn er mit einer großen Agentur telefonierte, so wie vorhin, als die BBC angerufen hatte. Woher die Infos, die Bilder, die Mitschnitte denn kämen? Ob es glaubhaftere Quellen gäbe als das Gestotter dieses Provinzbürgermeisters?
Das deutsche Verteidigungsministerium wiegelte ab; Truppenbewegungen an der Südgrenze gebe es nicht, die Fotos und Filmchen seien wohl bei einer Übung der Gebirgspioniere aufgenommen worden und der kurze Gesprächsmitschnitt der beiden Offiziere wahrscheinlich eine Fälschung.
„Paps? Geht’s dir nicht gut?“
„Doch, gut. Sehr gut. Ausgezeichnet sogar“, sagte Prähausner, bevor er auf den Sessel kippte, den ihm seine Tochter unter den Hintern schob.
„Mam hat recht. Du bist immer viel zu lange in der Arbeit. Warte, ich hol dir ein Bier.“ Die Besorgnis schien Franzi wieder munter gemacht zu haben. Sie lief in die Küche, und Prähausner hing auf seinem Sessel und starrte auf die Couch, wo der Schlafhase meiner Tochter verstört neben dem Kopfpolster sitzt. Ich habe das Tier mit den übergroßen Augen und den zerfransten Ohren noch nie wirklich leiden können, ich weiß nicht warum, und jetzt erinnert es mich absurderweise an Hubert und sein hysterisches Lachen. Da ruft einmal im Leben die BBC bei den Neuesten Grätzelnachrichten an, und dann geht ausgerechnet Hubert, dessen Englisch in den letzten Jahrzehnten regelrecht erodiert ist, an den Apparat, major, Bürgermeister, spricht er aus wie einen militärischen Titel, und wenn er etwas nicht verstanden hat, sagt er nicht can you repeat it, sondern can you say it again. Schon auf der Fahrt nach Bosnien hat er nicht wenige seiner Gesprächspartner mit diesem Englisch verstört, und Marina hat sich oft darüber lustig gemacht, Marina, die sich damals gerade eine Fremdsprache nach der anderen angeeignet hat, Kassette in den Walkman, Kopfhörer aufgesetzt, ganz gleich, ob sie in der Stadt unterwegs gewesen oder am Herd gestanden ist, Marina, die nie Vokabeln gelernt hat, die sich scheinbar niemals hat anstrengen müssen: Marina wird bereits mitbekommen haben, was hier unten los ist.
„Hier, trink.“ Franzi stellte nicht nur eine, sondern zwei Flaschen auf den Tisch, dann verschwand sie wieder in der Küche. Das Bier war wunderbar kalt; mit gierigen Schlucken kühlte Prähausner sein überhitztes Inneres herunter, bis die erste Halbe leer war und er sich fragte, was es mit Hubert und dem Hasen auf sich hatte, und die BBC wollte sich morgen Vormittag noch einmal melden, schon allein deshalb, weil der Gebirgsjäger ständig neue Fotos schickte, zuletzt von Militärlastwägen, die im schwindenden Abendlicht an einem Fluss entlangfuhren. Es konnte irgendein Fluss sein, Johannes konnte sich das alles ausgedacht und zusammenkopiert haben, aber das war nicht wahrscheinlich, wahrscheinlich war, dass ausgerechnet die Neuesten Grätzelnachrichten Bilder und Schlagzeilen lieferten, die nicht nur die großzügig aufgerundeten 450 lokalen Stammleser der neuen App, sondern spätestens morgen früh Millionen und Abermillionen von Menschen auf den Bildschirmen haben würden, von Hammerfest bis Hurghada und von Kabul bis Casablanca.
Prähausners erneut einsetzender Schwindel verging, als ihm Franzi Käsebrote servierte, eine aufgeschnittene Karotte und eine offene Dose mit Gemüsemais. Obwohl er nicht den geringsten Hunger verspürte, aß er fügsam, und als seine Tochter sich zu ihm setzte, sah er Ibrahim und seine Cousins, die an der Grenze warten, Tag um Tag auf den Augenblick warten, in dem die Deutschen das Brückentor öffnen; zwischen die Bäume des Auwalds gedrückt, warten sie unter kaltem Regen; sie warten unter rasch zusammengeklopften Brettern, unter Plastikplanen, Dachpappe, Schalungstafeln. Ibrahims weißes Hemd hängt ihm tagelang, wochenlang am Leib, es dunkelt nach, wird stockfleckig und feucht; das Warten zermürbt die Baumwolle, immer liegt sie klamm und kalt auf der Haut, und irgendwann reißt das Gewebe ein, es löst sich unter den Achselhöhlen auf, die Knöpfe springen ab, und nun ertragen es er und seine Cousins nicht länger. In einer mondlosen Nacht schwimmen sie durch den Fluss, nass und zitternd kriechen sie die Böschung hinauf und versuchen, sich unter dem Rasiermesser-Zaun hindurchzuwinden. Ibrahims Hemd geht dabei in Fetzen, der Stoff saugt sich voll mit Blut, aber er kriecht weiter, hinein nach Deutschland, wo er sich immer noch willkommen glaubt, am Ziel.
„Schmeckt’s dir nicht?“ Die angewinkelten Beine vor die Brust gezogen, saß ihm Franzi gegenüber.
Prähausner merkte, dass er zwar kaute, aber auf das Schlucken vergessen hatte. Hastig holte er es nach. Als sein Mund wieder frei war, sagte er: „Schmeckt gut, vielen Dank, Franzi. Was ist mit Mara? Wie hat sie auf die Bilder von der Grenze reagiert?“
„Sie ist gleich ganz ernst geworden und hat auf sich selbst gedeutet und dann auf den Bildschirm. Sie hat das Handy genommen und die Fotos, auf denen Menschen gewesen sind, größer gezogen. Ganz konzentriert ist sie gewesen.“ Franzi erzählte, dass die Fremde das Smartphone nach ein paar Minuten zur Seite gelegt habe und aufgestanden sei. Sie habe eine Figur neben sich in die Luft gezeichnet, zweifellos einen Mann, denn Mara habe sich einen Schnauzer ins Gesicht gemalt, und nicht nur einen Schnauzer, sondern auch eine ziemlich große Nase. Der Mann sei ganz bestimmt nicht dick, sondern eher dünn und ein wenig kleiner als Mara und habe vielleicht deswegen eine Vorliebe für Schuhe mit eher hohen Absätzen, die sich Mara mehrmals unter die Fersen gekeilt habe. So habe sie, Franzi, binnen einer halben Minute ein ziemlich deutliches Bild von ihm erhalten. Nur ob der Mann ein Transpirationsproblem oder eine Vorliebe für Deos habe, oder ob ihn Mara dazu habe erziehen wollen, Deos zu benutzen, sei nicht richtig rübergekommen. Zu schnell hintereinander habe sich Mara ihre Nase unter die Achsel gesteckt, das Gesicht verzogen und anschließend einen Sprühstoß aus Luft in ihre Achselhöhle gegeben.
„Das hat sie dir alles erzählt?“, fragte Prähausner verblüfft.
Franzi antwortete stolz, dass sie noch mehr zu berichten habe. Dass Mara, als der Mann fertig dagestanden sei, ihre beiden Zeigefinger kurz aneinander gerieben, und sich, da sie nicht gleich verstanden worden sei, einen Ring aus Luft an den Finger gesteckt habe. „Sie ist verheiratet, Paps!“, triumphierte Franzi. „Und sie haben gestritten!“ Mara nämlich habe ängstlich auf den gezeichneten Mann geschaut und ihre Fäuste mehrmals gegeneinandergestoßen, habe sich geduckt und sich ihre Hände schützend vor ihr Gesicht gehalten. Der Luftmann habe heftig nach ihr getreten, aber sie habe sich verteidigt. Mit Wutgekeuche sei Mara auf ihn losgegangen, habe ihm ihr Knie in den Unterleib gestoßen, habe dann aber ihr Gesicht in plötzlichem Schmerz verzogen. Sie sei gekrümmt vor ihm auf dem Boden gesessen und habe sich Tränen auf die Wangen gezeichnet, aber nur für einen Augenblick, denn dann habe sie mit einem Mal wirklich zu weinen angefangen, sie habe geschnieft und sich in das Taschentuch geschnäuzt, das sie, Franzi, ihr gegeben habe.
„Unglaublich! Vielleicht ist sie wirklich geschlagen worden. Dann hätte Frau Hirscher recht gehabt“, rief Prähausner kopfschüttelnd aus. „Was hat sie noch erzählt?“
„Nichts mehr. Das alles hat sie ziemlich mitgenommen. Sie hat mir noch den Bluterguss auf ihrem Bein gezeigt. Dann ist sie ins Bett gegangen – ohne Zähneputzen. Sie putzt sich nie die Zähne. Ist dir das schon aufgefallen?“, fragte Franzi mit missbilligend kraus gezogener Stirn. Als Prähausner verneint hatte, wechselte seine Tochter das Thema: „Bauen die Deutschen echt einen Zaun?“
„Gut möglich. In Deutschland gibt es seit ein paar Monaten diese sogenannten Deutschkonservativen. Noch sind sie ein Teil der Partei, der der deutsche Bundeskanzler angehört. Sie haben ihn in den letzten Monaten ziemlich unter Druck gesetzt. Aber eigentlich weiß ich nur, dass ich um acht wieder im Büro sein muss. Die Fotos sind nämlich von uns. Alle.“
„Echt? Von den Nachrichten?“ Franzi stellte ihre Füße auf den Boden. „Wer hat die Fotos gemacht? Du?“
„Nein. Es war ein Kollege, ein …“ Prähausners Smartphone, das neben seinem Teller lag, piepste. Der Gebirgsjäger hatte eine SMS geschickt: arbeiten wurden endgültig eingestellt. begebe mich zur ruhe. melde mich wie besprochen um 8.
Gleich darauf kam das erste Infrarot-Foto. Annabel hatte die Kamera kurz vor Geschäftsschluss gekauft und gegen 10 Uhr am Abend unweit der Grenze unter einer Bank deponiert. Das Gerät hatte Prähausner eine Stange Geld gekostet, und nun waren nur Baumschemen zu sehen und ein Busch, unter dem ein großer Laubhaufen lag.
„Was ist denn das?“, fragte Franzi, die nun neben Prähausner stand. „Das sieht aber nicht sehr besonders aus.“
„Hm, ich weiß nicht recht.“ Prähausner wischte die Aufnahme beiseite, dann suchte er nach der Weckerfunktion. „Unser Informant legt sich schlafen. Das werde ich jetzt auch machen. Danke für das Essen.“
„Bitte.“ Sie küsste ihn auf die Wange. „Und vergiss auf das Zähneputzen nicht!“
Prähausner versprach es ihr. Zähneputzen, ja, sie hatte recht, sie war bisweilen verblüffend vernünftig, das hat sie von Hertha, die Inkonsequenz nicht leiden kann. Die Zähne hatten am Morgen und am Abend sorgfältig gesäubert zu werden, Munddusche, Zahnseide, Interdentalbürsten, Zahnbürste, Zahnspülung: Immer in dieser Reihenfolge. Gegen Ende der Beziehung habe ich mir vor dem Mittagessen Zahnseide durch den Mund gezogen, ich habe mir nach der Suppe ein Stamperl Zahnspülung gegönnt und gleich nach dem Dessert die Bürste eingesetzt, obwohl man nach der Mahlzeit mindestens eine halbe Stunde mit dem Putzen warten soll, besonders, wenn man etwas Saures gegessen hat. Ich habe mir am Nachmittag stundenlang mit den Interdentalbürsten zwischen den Zähnen herumgestochert und die Munddusche mitten in der Nacht angeschaltet. Das war meine Art, Hertha Kontra zu geben, mich für all ihre Demütigungen zu rächen. Franzis Sinn für die richtige Reihenfolge ist dadurch nicht in Mitleidenschaft gezogen worden. Ich muss sie nie dazu ermahnen, sich vor dem Schlafengehen die Zähne zu putzen, eher ist es umgekehrt. Vielleicht kommt ihr zwanghafter Zugang zur Zahnhygiene ja wirklich von meiner anarchischen Art, vielleicht habe ich Franzi tatsächlich verstört? Hertha zumindest sieht es so. Sie hat versucht, dem Kind einen Alltag anzutrimmen, in dem Schlamperei und Nachlässigkeit nicht vorkommen. Aber Franzi wehrt sich, Franzi lässt sich die Nasenflügel durchstechen und nicht die Ohrläppchen, oh, ihr Näschen ist noch immer rot entzündet, es sieht aus, als sei sie stark verschnupft.
Ob Ibrahim und seine Cousins Zahnbürsten in ihren Rucksäcken haben? Sitzen sie abends unten am Fluß, tauchen sie die Bürsten in das Wasser und putzen sich dann, hinüber zum Land ihrer Träume blickend, die Zähne, oder reinigen sie sich die Zahnzwischenräume eher mit Holzstückchen, so, wie der Prophet Mohammed das vorgelebt hat? Sind Flüchtlinge, die Munddusche, Zahnseide, Interdentaldusche, Bürste, Zahnspülung benutzen, besser als jene, die islamische Mundhygiene machen?
Prähausner merkte, dass er aufgestanden, dass er ganz in Gedanken zur Türe gegangen war. „Gute Nacht. Schlaf gut, Franzi“, murmelte er und schaltete das Licht aus. Was fehlte als erstes, wenn das gesellschaftliche Ordnungssystem ins Kippen geriet? Zahnpasta? Würde dann noch jemand seinen Köter an die Leine legen? Den Hundedreck in ein Plastiksackerl packen? Unfähig, einen vernünftigen Gedanken zu fassen, ging er ins Bad. Das Zähneputzen würde ihn nicht nur hygienisch, sondern auch mental auf die dringend benötigte Ruhe vorbereiten. Fraglich nur, ob er danach tatsächlich würde einschlafen können.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.