Kitabı oku: «Theorien der Sozialen Arbeit», sayfa 10
Die „Emporhebung der niederen Menschheit aus ihren Tieffen ist die Pflicht der civilisierten Menschheit, wenn sie nicht alle ihre Lebensgenießungen verlieren will“ (Pestalozzi, zit. nach Liedtke 1989, 58).
Und Pestalozzi fordert:
„Man kann nicht genug sagen: man muss immer eher die Fundamente der Lebensgenießungen sicherstellen, als allerorten Ordnung machen. Und den Leuten in ihren Siechtagen helfen, ist ein armseliger Dienst, wann man den Siechtagen der Leute selber vorbiegen kann. Spitäler, Finderhäuser, Kammern, Zuchthäuser sind allenthalben Quacksalberhülfsmittel, wo man sie gegen Leute braucht, die, von unserer schönen Civilisation der einfachen Genießungen ihrer Naturbedürfnisse beraubt, Verbrecher werden, weil der Staat ihnen nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen und zur Befriedigung ihrer Naturbedürfnisse geholfen“ (a. a. O., 58).
Pestalozzi plädiert zudem für eine freiheitliche Wirtschaftsordnung, in der jeder zu seinem Brot kommen kann (vgl. Pestalozzi 1945, 95–141):
„Dass Freiheit Brot schafft, dass der Mensch um des Brotes willen Freiheit sucht, dass Hindernis in Gewinn und Gewerbssachen die Tyrannei ist, die den Wunsch der Freiheit in den meisten Völkern rege gemacht, das vergißt der stolze Großbürger des freien Staats, der den ausartenden Landessegen so oft ausschließend nutzt, nur gar zu gerne, und es ist doch so wahr“ (a. a. O., 107 f.).
5.6 Bedeutung für die Soziale Arbeit
Aus allen Teilen Europas kommen bereits um 1810 zahlreiche BesucherInnen nach Iferten, um Pestalozzis Unterrichtsmethoden kennenzulernen; und die preußische Schulreform wird auf seine Ideen aufgebaut. Fichte, Fröbel, Diesterweg und andere verbreiten seine Thesen zum erziehenden Unterricht und setzen sie in die Tat um. Dann lässt das Interesse allerdings wieder schnell nach, und Pestalozzis Methodik wird sogar als überholt angesehen. Bereits 1846 wird bei der Feier zum 100. Geburtstag Pestalozzis mehr von seiner positiven Wirkung auf die Volksbildung gesprochen als von seinen konkreten Reformideen (vgl. Liedtke 1979, 185). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird die sozialpädagogische Bedeutung Pestalozzis wiederentdeckt und hervorgehoben. So befassen sich Paul Natorp (vgl. 2.1) und Herman Nohl (vgl. 2.8) nicht nur ausführlich mit Pestalozzis Schriften, sondern setzen bei ihm mit ihren eigenen Theorien an. Zum 250. Geburtstag Pestalozzis wird für eine Pädagogik, die sich auf Pestalozzi bezieht, festgestellt:
„Statt wie die modernen Wissenschaften objektivierende Distanz zu erzeugen, baut sie fiktional zumindest auf bewundernde Unmittelbarkeit und erzieht. Statt eine öffentlich verfahrende moderne Wissenschaft ist die Pädagogik in der Tradition Pestalozzis ein von innen heraus verkündendes Zeugnis. Statt auf Erfahrung, Irrtum und Korrektur setzt sie auf gute Absicht, wiederholten Mißerfolg und Beharrlichkeit“ (Osterwalder 1996, 162).
Auf die Schriften Pestalozzis berufen sich heute viele (Sozial-)PädagogInnen; es dürfte kaum ein anderes pädagogisches Werk geben, das derart ideologisiert und kanonisiert, das heißt jedes historischen Bezuges enthoben worden ist (vgl. Osterwalder 1996). Und es können für kontroverse Auffassungen stützende Passagen in Pestalozzis Schriften gefunden werden. Das umfangreiche und unsystematische Werk Pestalozzis enthält ja selbst zahlreiche Widersprüche: Seine Erziehungsgrundsätze sind einmal patriarchalisch und autoritär, dann wieder partnerschaftlich und liebevoll; sein Denken ist einmal rational aufklärend und dann wieder kindlich gläubig; mitunter revoltiert er gegen den Staat und eine ungerechte Regierung, dann wieder fügt er sich gehorsam in das Machtgefüge ein. Die Begründung von Erziehung aus einer vorgegebenen, alles umfassenden abgeschlossenen Ordnung ist allerdings eine Konstante in Pestalozzis politischem, pädagogischem und religiösem Denken (vgl. a. a. O.). Das sozialreformerisch-sozialpädagogische Engagement Pestalozzis kann heute weiterhin herausfordernd und warnend zugleich wirken. Seine Aussagen über Gesetzgebung und Kindermord bergen auch heute noch politischen Sprengstoff in sich, werden aber – wie viele andere seiner gesellschaftskritischen Äußerungen – nicht zur Kenntnis genommen. Eine Herausforderung für sozial Tätige ist die von Pestalozzi gelebte Verknüpfung von privatem Leben, beruflicher Praxis und Theorie der Sozialen Arbeit. Und eine Warnung ist das Leben Pestalozzis für jeden, der strahlenden Triumph für sich in der Sozialen Arbeit gewinnen möchte, besteht doch Pestalozzis Wirkung vermutlich nicht zuletzt im „Triumph des Scheiterns“ (Albert von Schirnding).
5.7 Literaturempfehlungen
Die kritische Ausgabe von Pestalozzis Werken (Pestalozzi 1927–1996) umfasst 28 Bände; die mehr als 6000 Briefe liegen in 13 Bänden vor. Die Literatur über Pestalozzi und sein Werk füllt ihrerseits viele Bücherwände. Die Biografie von Max Liedtke (Liedtke 1995) führt anschaulich in Pestalozzis Leben und Werk ein; Liedtkes umfassende Bibliografie der Primär- und Sekundärliteratur bietet viele Ansatzmöglichkeiten für ein vertiefendes Studium. Von den Werken Pestalozzis, die allerdings heutigen LeserInnen einiges an Geduld und Toleranz abverlangen, bieten sich die „Abendstunde eines Einsiedlers“ (Pestalozzi 1945, 143–164), „Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts“ (Pestalozzi 1946a, 377–564), „Über Gesetzgebung und Kindermord“ (Pestalozzi 1945, 353–558) und „Über die Erziehung der armen Landjugend“ (Pestalozzi 1945, 39–76) an, um sich ein eigenes Bild von Pestalozzi und seiner Theorie zu machen. Pestalozzis „Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans“ ist in Auszügen bei Thole/Galuske/Gängler (1998, 43–63) abgedruckt.
6 Das Entstehen von Armut verhindern
Thomas Robert Malthus (1766 – 1834)
„Alles, was ich weiß, ist, dass man keinen schlichteren, tugendhafteren, mehr von häuslichen Neigungen erfüllten Mann in ganz England finden konnte als Malthus und dass sein Herzenswunsch und Arbeitsziel war, häusliche Tugend und Glück in der Reichweite aller zu sehen“ (Harriet Martineau, zit. nach Barth 1977, 197).
6.1 Historischer Kontext
Die Bevölkerung in Europa wächst im 18. Jahrhundert rasant (vgl. Schnerb 1983, 19). Der größte Teil der Europäer ist unterernährt und in einem schlechten Gesundheitszustand. Schon eine Missernte reicht aus, dass Tausende von Armen einer Region verhungern müssen. Die verheerenden Wirkungen von Typhus, Pest und Cholera werden durch die unzureichenden hygienischen Verhältnisse in den proletarischen Elendsvierteln sowie durch die Unterernährung und die Kriege gefördert; viele Hunderttausend Menschen werden auch noch im 18. Jahrhundert Opfer dieser Seuchen. Hinzu kommen die Folgen der „industriellen Revolution“, die große Massen von ArbeiterInnen insbesondere in den industriellen Zentren hervorbringen. Diese müssen unter unvorstellbaren Bedingungen ihr Leben fristen.
Als Thomas Robert Malthus geboren wird, hat die lange Regentschaft von König Georg III. (1760–1820) in Großbritannien gerade erst begonnen. Adam Smith ist zu der Zeit Berater des britischen Schatzkanzlers in London; sein Buch über den Wohlstand der Nationen ist noch nicht erschienen. Demokratisierung, Industrialisierung, Agrarrevolution und der Kampf um die Weltmacht mit Frankreich sind die vier großen Herausforderungen, mit denen Großbritannien konfrontiert ist. Die Entwicklung der Naturwissenschaften und der Technik beschleunigt sich und findet einen ersten Höhepunkt. In England ist dieser Prozess am weitesten fortgeschritten. Die alten, arbeitsintensiven Produktionsmethoden (Handwerk, Verlagssystem, Manufaktur usw.) werden durch neue ersetzt (Mechanisierung, maschinelle Massenproduktion usw.). Durch den Einfluss der calvinistischen Ethik wird die Arbeit neu bewertet. Fleiß, Sparsamkeit und nüchternes Gewinnstreben über den Eigenbedarf hinaus gelten als tugendhaft und schaffen die religiös-ethische Basis für eine kapitalistische, an Profitmaximierung orientierte Gesellschaft. Die Gesellschaft spaltet sich in neue Klassen: in Unternehmer (Kapitalisten) und in ungelernte ArbeiterInnen (ProletarierInnen). Ein Überangebot an freigesetzten ArbeiterInnen ermöglicht es den Unternehmern, die Arbeitslöhne und -bedingungen niedrig zu halten. Geringes Einkommen, geschundene Gesundheit, Arbeitslosigkeit und anderes mehr haben erbärmliche Lebensbedingungen zur Folge. Die weitverbreiteten sozialen Missstände führen zu Not und Verelendung weiter Kreise der Bevölkerung; trotzdem wächst die Bevölkerung in Großbritannien ungewöhnlich rasch von 6,3 Millionen Einwohner im Jahre 1750 auf 21 Millionen im Jahre 1850 an. Die Regierung versucht, durch Reformgesetze den sozialen Problemen die Sprengkraft zu nehmen. In den „Fabrikgesetzen“ (1833) werden zum Beispiel die Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten in den Fabriken der verschiedenen Industriezweige geregelt, und in dem „Poor Law Amendment Act“ von 1833 wird die Armengesetzgebung grundlegend reformiert. Die wohlhabenden Mitglieder jeder Gemeinde werden in der Armengesetzgebung verpflichtet, ihren armen Mitmenschen finanziell zu helfen.
Die Französische Revolution mit ihren Zielen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit löst starke politische Bewegungen in Europa aus, und der Expansionsdrang Frankreichs unter der Herrschaft Napoleons zwingt auch Großbritannien zu Abwehrmaßnahmen, die zu Steuererhöhungen, Getreidesubventionen, Verlust europäischer und überseeischer Märkte führen und dies wieder zu Arbeitslosigkeit und Hungersnöten der Bevölkerung. Neue Staatsideen werden entwickelt, die den Klassenstaat zugunsten von Staatsformen ablösen sollen, in denen das Volk der Souverän ist und ein hohes Maß an gleichen Lebensbedingungen für alle geschaffen wird. In Großbritannien und auf dem europäischen Festland bestimmen die liberalen Thesen von Adam Smith die politische Ökonomie. Die von „Vernunft und Natur“ ausgehenden Ideen der Aufklärung dringen vom europäischen Festland auch nach Großbritannien vor. In Frankreich fordert beispielsweise der Mathematiker und Politiker Jean Marie Condorcet (1743–1794) eine Nationalerziehung zur Beseitigung der Klassenunterschiede im Bildungswesen und eine umfassende Weiterbildung der Erwachsenen. Der Politiker und Schriftsteller William Godwin (1756–1836) macht in England die Forderungen der Französischen Revolution nach Freiheit und Gleichheit für alle Menschen populär und verbreitet sie durch seine viel gelesenen Schriften. So führt Godwin in seinem 1793 erschienenen Werk „An Essay Concerning Political Justice and its Influence on General Virtue and Happiness“ (Eine Untersuchung über die politische Gerechtigkeit und ihren Einfluss auf die allgemeine Tugend und Glückseligkeit) aus, dass die moralischen Qualitäten des Menschen in einem kaum zu überschätzenden Maß das Produkt der Regierungsform und der staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen seien, weil der menschliche Geist nicht frei, sondern weitgehend durch die sozialen und rechtlichen Verhältnisse und Institutionen bestimmt sei. Auf die Vernunft aller Menschen vertrauend, glaubt Godwin, dass sich eine fast vollkommene soziale Gerechtigkeit für alle Menschen ergeben würde, wenn die politischen Strukturen geändert würden. Außerdem ist für Godwin jedes menschliche Lebewesen mit der Fähigkeit ausgestattet, eine größere Menge von Nahrungsmitteln zu produzieren, als für den eigenen Unterhalt notwendig ist.
6.2 Biografischer Kontext
Thomas Robert Malthus wird 1766 in der englischen Grafschaft Surrey als Sohn wohlhabender Eltern aus dem Mittelstand geboren (vgl. Barth 1977; Winkler 1996). Der Vater ist Jurist, schwärmt für die französische Aufklärung und verehrt Jean-Jacques Rousseau. Zunächst unterrichtet er seinen Sohn selbst, später bereiten ihn verschiedene Privatlehrer, darunter anglikanische Geistliche, auf den Studienbeginn vor. Malthus soll nach dem Willen der Eltern Geistlicher werden. 1784 beginnt Malthus ein breit angelegtes Studium mit Schwerpunkten in Mathematik und Theologie an der Universität in Cambridge. Nach seinen mit Auszeichnung bestandenen Examina wird er 1788 zum anglikanischen Priester geweiht. Malthus übernimmt kurz darauf eine Stelle als Hilfsgeistlicher. Dieser einträgliche Posten in der Staatskirche gibt ihm eine finanzielle Absicherung, ist mit wenigen Aufgaben verbunden und ermöglicht ihm seine weiteren Studien.
Vor allem der Bevölkerungszuwachs und das Elend der Armen in England bewegen ihn – nicht zuletzt deswegen, weil seine wohlhabende Familie infolge der Armengesetze Arme finanziell unterstützen muss.
Die Sozialtheorien seiner Zeit, nach denen die Armut die Folge einer falschen gesellschaftlichen Ordnung ist, fordern den jungen Geistlichen, der sich in seinen Studien vor allem mit nationalökonomischen Fragen befasst, zu einer polemischen Stellungnahme heraus. Malthus veröffentlicht 1798 als 32-Jähriger anonym „An Essay on the Principle of Population as it Affects the Future Improvement of Society, with Remarks on the Speculations of Mr. Godwin, Mr. Condorcet, and Other Writers“ (Versuch über das Bevölkerungsgesetz und seine Auswirkungen auf die künftige Verbesserung der Gesellschaft. Mit Bemerkungen über die Theorien Mr. Godwins, Mr. Condorcets und anderer Autoren). Sein Hauptziel ist es, darauf aufmerksam zu machen, wie das Entstehen von Armut verhindert werden kann. Seine plakativ-polemischen Thesen hat er in Diskussionen mit seinem Vater entwickelt, einem Anhänger der progressiven Lehren von William Godwin. Die heftigen Angriffe auf seine Thesen und weitere Studien veranlassen Malthus, seine Streitschrift später mit Datenmaterial aufzubereiten. 1803 veröffentlicht Malthus dann als zweite Auflage eine revidierte und „entschärfte“ Fassung unter seinem Namen und mit einem leicht veränderten Titel.
Von 1804 an ist Malthus Professor für Geschichte und politische Ökonomie an der Akademie der Ostindischen Kompanie in Hertfordshire; zugleich übernimmt er eine neue Pfarrstelle, die er bis zu seinem Lebensende innehat. In demselben Jahr heiratet er mit 38 Jahren; er hat mit seiner Frau drei Kinder.
Malthus ist von der Ungleichzeitigkeit der Lebenslagen fasziniert: In China ist ein Arbeiter froh, irgendwelche faulen Abfälle als Nahrung zu ergattern, während auf deren Genuss europäische Arbeiter verzichten und lieber verhungern würden. Ein Wunschtraum von Malthus ist es, eine Kultur vergleichende Geschichte der Sitten ärmerer Chinesen zu schreiben (vgl. Lepenies 1984, 126–129). Für ihn ist die bisherige Geschichtsschreibung lediglich eine Darstellung der Ereignisse aus der Sicht der oberen Schichten; das will er ändern. Der politisch engagierte Wissenschaftler ist ein entschiedener Gegner der englischen Armengesetzgebung und wird deswegen von der Labour Party heftig bekämpft.
Das recht konventionelle und bürgerliche Leben des Gelehrten und Familienvaters wird nur von kurzen Reisen unterbrochen. Malthus stirbt 1834 und wird in Bath Abbey beerdigt. Ein Jahr vor seinem Tod werden in England neue Armengesetze erlassen, danach besteht für alle Armen Arbeitszwang, und in den Armenhäusern sind die Geschlechter voneinander zu trennen.
6.3 Forschungsgegenstand und -interesse
Die Thesen von Malthus provozieren bei seinen Zeitgenossen Widerspruch und Ablehnung, und viele behaupten ärgerlich, dass Malthus seine Thesen lediglich aus seinem persönlichen wirtschaftlichen Eigeninteresse heraus verfasst habe. Ein wissenschaftliches Interesse wollte kaum jemand bei ihm entdecken. Sein gesamtes Werk wird häufig allein unter dem Gesichtspunkt seines Egoismus bewertet. Er habe das Pamphlet geschrieben, so werfen ihm seine Gegner vor, weil er damit habe Geld verdienen und das Armengesetz abschaffen wollen, um nicht länger von seinem Wohlstand den Armen etwas abgeben zu müssen, wie es das Gesetz vorschrieb.
Lässt man diese Verkürzung seines erkenntnisleitenden Interesses weg, dann hat sich Malthus mit Problemen befasst, die heute wie damals in gleichem Maße aktuell und bedenkenswert sind: die Bevölkerungsexplosion und die Ernährung der Menschheit. Malthus untersucht das Wachstum der Bevölkerung, die Hindernisse, die sich zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Ländern dem Wachstum der Bevölkerung entgegengestellt haben, und die Neigung aller Lebewesen, sich in höherem Maße zu vermehren, als es die ihnen zur Verfügung stehende Nahrungsmenge zulässt. Er stellt sich in seinem demografischen Werk so unbequemen Fragen wie: Warum werden so viele Menschen in eine Welt hinein geboren, die sie bloß zu einem frühen Tod oder einer kläglichen Existenz verurteilt? Welche Funktion haben Krankheit, Leid, Katastrophen und Tod im Leben der Menschen? Wie wahrscheinlich ist es, dass sich die Menschen eine so vollkommene Gesellschaftsordnung geben, in der niemand mehr Not leiden muss? Was müssen die Menschen und der Staat tun, damit die Bevölkerung sich nicht weiter vermehrt? (vgl. Malthus 1977).
6.4 Wissenschaftsverständnis
Der umfassend wissenschaftlich gebildete Malthus greift bei seinen Publikationen auf empirische, ethische, ökonomische, politische, philosophische und theologische Erkenntnismethoden und Arbeitsweisen zurück und verknüpft sie miteinander. Für den Mathematiker und Ökonomen Malthus ist aber die Erfahrung die eigentliche Quelle und Grundlage allen Wissens, und für den Theologen und Geistlichen sind die göttliche Offenbarung in der Bibel und die Lehre der anglikanischen Kirche maßgebend (vgl. Malthus 1977, 19). Beide Erkenntnisquellen verknüpft Malthus, um seine Theorie zu beweisen.
Malthus stellt seine Thesen in der zuerst veröffentlichten Ausgabe des „Bevölkerungsgesetzes“ (1798) ohne jede wissenschaftliche Fundierung auf. Den Thesen wurde deshalb allgemein die Wissenschaftlichkeit abgesprochen. In der zweiten, revidierten Fassung (1803) setzt sich Malthus dann mit den Thesen seiner Widersacher in wissenschaftlicher Form auseinander und bemüht sich, seine eigenen Thesen mit empirisch gewonnenen Daten und statistischem Material über die Bevölkerungsentwicklung in England und der Welt und die Produktion von Nahrungsmitteln für die Bevölkerung zu begründen. Aus seinen Daten leitet er das auf einer abstrakten mathematischen Wahrscheinlichkeit basierende Bevölkerungsgesetz ab. Mit diesem Gesetz und einigen anthropologischen, philosophischen und theologischen Lehrsätzen begründet er seine Ablehnung der englischen Armengesetze und seine Forderungen nach präventiven sozialpolitischen und moralischen Maßnahmen, um die Entstehung von Leid und Not zu verhindern. Diese Neufassung wurde im Großen und Ganzen als wissenschaftliche Abhandlung akzeptiert.
6.5 Theorie
Malthus verfasst seine Theorie als Widerlegung der sozialen Utopien, die von Godwin und anderen vertreten wurden, und gegen die von William Pitt unterstützten gesetzlichen Maßnahmen (Poor Law Bill) zur Bekämpfung des durch die beginnende Industrialisierung wachsenden Massenelends in Europa.
(1) Das Bevölkerungsgesetz: In der ersten Fassung seines Essays stellt Malthus zwei Postulate auf, die für ihn festgefügte Bestandteile der menschlichen Natur sind:
(a) Die Nahrung ist für die Existenz des Menschen notwendig.
(b) Die Leidenschaft zwischen den Geschlechtern ist notwendig und wird in etwa gleich bleiben (vgl. Malthus 1977, 17).
Malthus hält seine beiden Postulate von der Erfahrung her für gesichert und behauptet weiter, dass die Vermehrungskraft der Bevölkerung unbegrenzt größer sei als die Kraft der Erde, die Mittel für den Lebensunterhalt der Menschen hervorzubringen. Das verschieden starke Wachstum der beiden Größen stellt er mathematisch dar und erkennt darin eine Gesetzmäßigkeit, das Bevölkerungsgesetz: Die Bevölkerung wächst für Malthus, wenn keine Hemmnisse dem Wachstum entgegenwirken, in geometrischer Reihe (2–4–8–16–32–64 usw.); und er glaubt beobachtet zu haben, dass sich die Bevölkerung alle 25 Jahre verdoppelt. Die Nahrungsmittel wachsen dagegen für ihn nur in arithmetischer Reihe (2–4–6–8–10–12 usw.). Die natürliche Folge der unterschiedlichen Entwicklungen ist, dass beide Reihen wie eine geöffnete Schere immer weiter auseinandergehen (2:2–4:4–8:6–16:8–32:10–64:12 usw.). Malthus will eigentlich keine mathematisch exakten Gesetzmäßigkeiten angeben, sondern die mathematischen Reihen vor allem zur Veranschaulichung seiner These nutzen. Die immer weiter auseinandergehenden Entwicklungen sind für ihn aber ein Naturgesetz, das sich aus der Konstanz des menschlichen Geschlechtstriebs und der Begrenztheit der Nahrungsmittelressourcen ergibt. Das Missverhältnis zwischen dem Bevölkerungswachstum einerseits und den begrenzten Lebensmittelressourcen andererseits führt nach seiner Auffassung konsequenterweise zu Not und Elend, weil die Nahrungsmittel für die Bevölkerung nicht mehr ausreichen und viele (ver-)hungern müssen. Not und Elend aber erzeugen nach Malthus Laster (z. B. Begierden des Hungers, Raub, Lust auf Branntwein, das Verlangen, eine schöne Frau zu besitzen usw.) und verursachen so den sittlichen Niedergang der Bevölkerung.
Wegen des unabänderlichen Naturgesetzes, dass die Nahrung für den Menschen lebensnotwendig ist, muss die Entwicklung der beiden ungleichen Größen mit ihren fatalen Auswirkungen im Gleichgewicht gehalten werden. Dies ist nach Malthus nur möglich, indem die Bevölkerungszunahme ständig und energisch gehemmt wird, zum Beispiel dadurch, dass Lebensmittel fehlen und ein beachtlicher Teil der Menschheit dieses empfindlich zu spüren bekommt.
Die natürliche Ungleichheit, die zwischen den beiden Kräften – der Bevölkerungsvermehrung und der Nahrungserzeugung der Erde – besteht, und das große Gesetz unserer Natur, das die Auswirkungen dieser beiden Kräfte im Gleichgewicht halten muss, bildet die gewaltige, für Malthus unüberwindlich erscheinende Schwierigkeit auf dem Weg zu einer vollkommenen Gesellschaft. Weder eine erträumte Gleichheit aller Menschen noch landwirtschaftliche Maßnahmen von äußerster Reichweite können nach Malthus den Druck des Bevölkerungsgesetzes auch nur für ein einziges Jahrhundert zurückdrängen. Deshalb spricht dieses Bevölkerungsgesetz für Malthus entschieden gegen die mögliche Existenz einer Gesellschaft, deren sämtliche Mitglieder in Wohlstand, Glück und verhältnismäßiger Muße leben und sich nicht um die Beschaffung von Mitteln zum Lebensunterhalt für sich und ihre Familien zu sorgen brauchen (vgl. a. a. O., 18 f.). Soziale Reformversuche wie die Armengesetze können für Malthus den Zwang der Naturgesetzlichkeit nicht aufheben.
(2) Vorbeugende und nachwirkende Hemmnisse der Bevölkerungsvermehrung: Malthus stellt jedoch bei seinen statistischen Erhebungen fest, dass sich die Bevölkerung in den modernen Staaten Europas nicht – wie ursprünglich von ihm angenommen – alle 25 Jahre verdoppelt hat, sondern dass die Bevölkerung weitaus langsamer wächst. Die Ursache für dieses verlangsamte Wachstum liegt nun für Malthus keineswegs im „Verlöschen der geschlechtlichen Leidenschaft“. Er nimmt vielmehr an, dass diese natürliche Neigung in unverminderter Stärke andauert, und erklärt seinen Befund damit, dass in allen Klassen die vorhersehbaren Schwierigkeiten, eine Familie zu ernähren, als vorbeugendes Hemmnis (preventive check) wirken: Männer und Frauen werden vom Heiraten – und infolgedessen vom Zeugen von Kindern – abgehalten und die Geburtenhäufigkeit wird verringert, weil sie zum Beispiel erkennen, dass sie ihre Ausgaben einschränken müssen, falls sie eine Familie gründen, und damit ihrer Vergnügungen, die sie für sich ausmalen, beraubt würden. In den unteren Klassen, wo die Kinder nicht die nötige Nahrung und Pflege zum Leben erhalten, stehen Not und Elend zusätzlich als nachwirkende Hemmnisse (positive check) dem Anwachsen der Bevölkerung entgegen (vgl. a. a. O. 1977, 36 f.), indem die Sterblichkeit infolge mangelhafter Ernährung, Krieg, Pest, Seuchen, Hungersnot und Naturkatastrophen, die besonders die arme Bevölkerung immer wieder treffen, erhöht wird. Die nachwirkenden Hemmnisse sind nach Malthus wirksamer als die vorbeugenden Hemmnisse, da sie sich als unmittelbare Folgen aus dem Bevölkerungsgesetz für die Armen ergeben und so direkt zu spüren sind.
„Die Kraft zur Bevölkerungsvermehrung ist um so vieles stärker als die der Erde innewohnende Kraft, Unterhaltsmittel für den Menschen zu erzeugen, dass ein frühzeitiger Tod in der einen oder anderen Gestalt das Menschengeschlecht heimsuchen muss. Die Laster der Menschheit sind eifrige und fähige Handlanger der Entvölkerung. Sie stellen die Vorhut im großen Heer der Zerstörung dar; oftmals vollenden sie selbst das entsetzliche Werk. Sollten sie aber versagen in diesem Vernichtungskrieg, dann dringen Krankheitsperioden, Seuchen und Pest in schrecklichem Aufgebot vor und raffen Tausende und Abertausende hinweg. Sollte der Erfolg immer noch nicht vollständig sein, gehen gewaltige, unvermeidliche Hungersnöte als Nachhut um und bringen mit einem mächtigen Schlag die Bevölkerungszahl und die Nahrungsmenge der Welt auf den gleichen Stand“ (a. a. O., 67 f.).
Not und Elend sind für Malthus letztlich die einzigen wirksamen Mittel, eine bereits begonnene Bevölkerungszunahme aufzuhalten. Das Problem wird so zwar nicht wirklich gelöst, doch die Spannung wird etwas vermindert. Malthus folgert daraus, dass Not und Elend der Massen ökonomisch-ökologisch gesehen für den Erhalt der menschlichen Gesellschaft notwendig sind und nicht durch eine wirtschaftliche Unterstützung der Armen beseitigt werden dürfen.
(3) Eine theologische Begründung für Not und Elend in der Welt: Der anglikanische Pfarrer Malthus findet aber noch eine andere – theologische – Begründung dafür, dass die Existenz von Not und Elend in der Welt berechtigt sei. Damit beantwortet er Fragen, die von Menschen angesichts des Leids in der Welt (Theodizeefrage) immer wieder neu gestellt werden. Seine Erklärung ist: Die Natur darf nicht aus der Fantasie über einen unendlich mächtigen Gott angesehen und bewertet werden. Gott ist – frei von allen Vorstellungen und Fantasien – aus den tatsächlichen Ereignissen in der Natur zu erschließen. Die Natur, das heißt die konkret erfahrbare Welt und das Leben, wird von Malthus als ein machtvoller Prozess Gottes angesehen, der nicht der Prüfung des Menschen, sondern der Schöpfung und Gestaltung des Geistes dient. Dieser Prozess ist notwendig, um träge und chaotische Materie, die das Ergebnis des Sündenfalls ist, zum Geist zu erwecken und zu himmlischer Freude zu führen. Die Ursünde des Menschen besteht nach Malthus nämlich in seiner Trägheit und Verderbtheit, und der Mensch entstammt einer chaotischen Materie. Aus diesem theologischen Blickwinkel sieht und rechtfertigt Malthus Not und Elend in der Welt.
Auf die Frage „Wie kann Gott das Elend der Menschen und das Sterben der Kinder in seiner Schöpfung zulassen?“ antwortet Malthus: Das Elend gibt es in der Welt, um Tätigkeit hervorzurufen und keine Verzweiflung. Deshalb brauchen sich die Menschen dem Elend und der Not aber nicht geduldig zu unterwerfen, sondern sie müssen sich anstrengen, um sie zu vermeiden. Not und Elend sind für Malthus in der Welt unbedingt notwendig, weil sie allein den Menschen zur Arbeit antreiben. Der Mensch ist von Natur aus faul und träge; er arbeitet nur, wenn Not und Gefahren ihn bedrohen. Not und Elend treiben die Entwicklung der Menschheit voran und garantieren den Fortschritt. Sie sind unter Berücksichtigung der Entwicklung der ganzen Menschheitsgeschichte etwas Gutes, denn ohne sie gäbe es keine Entdeckungen und Erfindungen. Es liegt nicht nur im Interesse jedes Einzelnen, es ist vielmehr jedermanns Pflicht, sich der äußersten Anstrengung zu befleißigen, um das Übel von sich selbst und von seiner Umgebung, soweit er sie nur beeinflussen kann, fernzuhalten. Je mehr der Mensch der Ausübung dieser Pflicht obliegt, desto klüger richtet er seine Bemühungen aufs Ziel, und je erfolgreicher seine Bemühungen sind, desto wahrscheinlicher wird er seinen eigenen Geist stärken und erheben und umso vollständiger den Willen seines Schöpfers erfüllen (vgl. a. a. O., 170).
Leid und Not sind für Malthus außerdem notwendig, um die Herzen der Menschen empfindungsfähiger und menschlicher zu machen, das soziale Mitgefühl zu wecken, all die christlichen Tugenden zu entfalten und Spielraum für die umfassenden Bemühungen der Nächstenliebe zu geben. Der Antrieb aus einem sozialen Mitgefühl lässt oftmals hochrangige Menschen entstehen. Gott lässt Not und Elend nicht nur zu, sondern er hat ihnen einen festen Platz und eine wichtige Funktion in seiner Schöpfung gegeben (vgl. a. a. O., 143–170).
(4) Sozialpolitische und sittliche Forderungen: Mit seiner wirtschaftlichen und theologischen Begründung des Elends und der Not der vielen Armen und Schwachen rechtfertigt Malthus die Gesellschaftsordnung seiner Zeit einschließlich der realen Verteilung der Güter und der Aufspaltung der Bevölkerung in Reiche und Arme. Sozialen Reformen jeder Art spricht er, da sie nach seiner Meinung ja der Naturgesetzlichkeit des Bevölkerungsgesetzes widersprechen, jede Aussicht auf Erfolg ab. Da Armut und Elend gesellschaftspolitisch, ökonomisch und theologisch „in Ordnung“ sind, gibt es für Malthus keinen Grund, die Armen zu unterstützen. Jede Form der staatlichen oder anderen öffentlichen Armenunterstützung – selbst die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen des Staates – lehnt er folgerichtig rigoros ab. Er fordert nicht nur, dass keine Gesetze mehr zur Unterstützung der Armen beschlossen werden dürfen, sondern verlangt konsequenterweise auch die Aufhebung der seit dem 17. Jahrhundert in England geltenden Armengesetze. Als Konzession an die englische Armenpflegetradition will er höchstens einige Arbeitshäuser (workhouses) mit härtester Arbeit und schlechtester Ernährung bestehen lassen. Alle Maßnahmen, die Armen zu unterstützen und die Not zu lindern, sind zu verbieten. Denn – so Malthus – die Armengesetze bilden die Grundlage dafür, den Armen Unterhaltsmittel zu gewähren. Diese führen nur dazu, dass jedermann einer bequemen Versorgung seiner Familie sicher sein könnte und damit fast jeder eine Familie gründen und unterhalten würde. Somit wäre die heranwachsende Generation frei von dem „tödlichen Frost“ des Elends, und die Bevölkerung würde sich noch rascher vermehren (vgl. a. a. O., 72).