Kitabı oku: «Jesus findet Muslime», sayfa 2
Am späten Vormittag klingelte das Telefon, und seine Bank bat um einen Termin. Naid sagte ohne zu zögern zu. Sicherlich wollten sie ihm Vorschläge zur Vermögensverwaltung machen.
Die beiden nadelgestreiften Herren lächelten nicht. Vielleicht steckte ihm doch noch ein wenig der Kater vom gestrigen Abend in den Knochen? Oder war es dieser unerfreuliche Besuch des Pastors, der ihm mit seiner angeblichen Botschaft von Gott die Laune verdorben hatte? Er versuchte sein Bestes, um sein Unbehagen abzuschütteln. Die Berater saßen ihm steif gegenüber. Auch durch Naids lockere Sprüche ließen sie sich nicht aus der Reserve locken. Kühl und distanziert legten sie ihm seine finanzielle Situation dar, sprachen von Schulden und überzogenen Konten, von ungeduldigen Gläubigern und seinem Bankrott.
Was redeten sie da? Er hatte Geld, viel Geld. Und nun sollten seine geschäftlichen Transaktionen seine Konten überstrapaziert haben? Seine Welt waren Computer; von Finanzen, und wie man sie zusammenhielt, hatte er wenig Ahnung. Offensichtlich zahlten einige seiner Kunden nicht wie vereinbart, und die Gläubiger wollten ihr Geld sehen.
Naid gab es zwar nicht zu, aber er hatte wohl finanziell über die Stränge geschlagen.
Die nächsten drei Tage tat er alles, um die Misere aufzuhalten. Er versuchte, ausstehendes Geld einzutreiben, das er schon längst ausgegeben hatte. Bequasselte Gläubiger und Freunde, doch sie wandten sich alle von ihm ab.
Am Freitag war er gezwungen, seine Angestellten zu entlassen. Seine Wohnung, sein Büro und seine Autos musste er an die Bank verpfänden. Es war das Aus.
„Maraya, überlass der Musik in dir die Führung. Warum kannst du nicht improvisieren? Was hemmt dich?“
Zum wiederholten Male forderte sie ihr Lehrer auf, sich der Musik hinzugeben, loszulassen, ihrer inneren Stimme den Weg zu öffnen. Es ging nicht. Starr sah sie auf den Boden.
„Maraya?“
Es war, als hätte er eine innere Schleuse bei ihr geöffnet. „Meine Gedanken sind nicht hier. Ständig muss ich an so vieles denken. Dieses Land zwingt mich dazu, alles und jeden und vor allem mich selbst zu kontrollieren. Könnte ich nur weggehen. Ich weiß, so mit dir zu sprechen ist gefährlich, aber was hier passiert, kann doch nicht sein!“
Ein Wort gab das andere. Irgendwann landeten sie bei Gott. War er mit seinen Vorschriften nicht an allem schuld? Ihr Lehrer riet Maraya, einmal in eine Kirche zu gehen. „Sieh dir einmal etwas anderes an als das, was du schon immer kennst. Ich habe davon gehört, dass Menschen dort Gott getroffen hätten. Im Übrigen ist die Musik dort ein echter Genuss.“
Maraya überlegte hin und her. Sollte sie wirklich einen christlichen Gottesdienst besuchen?! Ihre Freundinnen würden ihr unbedingt davon abraten. Und das sagte sie ihrem Lehrer ein paar Tage später dann auch knallhart: „Was hast du dir eigentlich gedacht, mich in eine Kirche zu locken? Das ist unverschämt und gefährlich. Sprich nie wieder davon!“
Maraya machte sich nun auf ebenso barsche Worte gefasst, doch die blieben aus. Stattdessen gab ihr der Lehrer die Noten für ein neues Lied.
Im Rückspiegel verschwand das elegante Bürogebäude, in dem Naid seine einzigartige Erfolgsgeschichte erlebt hatte. „Drei Tage hast du Zeit, um dich für oder gegen mich zu entscheiden.“
Diese Worte des Pastors hörte er wieder und wieder in sich. Hätte er sie abschalten können, indem er sich die Ohren zuhielt, er hätte das sofort getan. Doch so gibt er Gas und fährt los, hinein in den Großstadtverkehr, der Tag und Nacht nicht zur Ruhe kommt.
Wie in einem Film laufen die letzten Tage und Stunden noch einmal vor ihm ab.
Die nadelgestreiften Herren waren wiedergekommen. Sie hatten den Gerichtsvollzieher mitgebracht und ihm alles genommen, was er hatte. Selbst die exklusiven Abendkleider und Schuhe seiner Frau. Als er den Wohnungsschlüssel abgab, verabschiedete sich auch Niki von ihm. Sie ging zu ihren Eltern zurück, er hatte ihr nichts mehr zu bieten.
Eigentlich gehörte auch sein alter Wagen der Bank, aber einem verzweifelten Impuls folgend hatte er seine letzten Habseligkeiten auf den Rücksitz geworfen und war einfach losgefahren.
Es war schon weit nach Mitternacht, als er auf dem Parkplatz eines Kebab-Ladens anhielt. Der Besitzer putzte gerade den Grill. Naid bat ihn um Essen und einen Schlafplatz. Etwas widerwillig half ihm der Mann. Am nächsten Morgen sammelte Naid im Gegenzug dazu den Müll auf dem Parkplatz auf und brachte ihn weg. Das Ganze war ihm so peinlich, dass er sich schwor, es nie wieder so weit kommen zu lassen.
In den folgenden Monaten bot der einst gefeierte Computercrack wildfremden Menschen seine Dienste als Taxifahrer an.
Damit verdiente er genug Geld, um nicht hungern zu müssen. Außerdem war er auf der Flucht vor der Polizei, denn sein Wagen gehörte ja nicht mehr ihm, sondern der Bank. Das ständige Unterwegssein war sein bestes Versteck.
Es war Nacht. Triste Fassaden, hohe Mauern und endlose Zäune zogen an Naid vorbei, ab und zu unterbrochen von zerkratzten Metalltoren. Suchend tasteten seine Augen die Gegend ab. Er brauchte dringend ein paar Stunden ungestörten Schlaf, seine Uhr zeigte mittlerweile zwei.
Täuschte er sich oder machte sich da tatsächlich jemand an einem Stahlgittertor zu schaffen? Er hatte seinen Wagen gerade abgestellt, als er den gut angezogenen Herrn bei seinem seltsamen Tun beobachtete. Jetzt ging der zu dem Auto, das direkt vor Naid parkte. Was machte der hier, mitten in der Nacht, und noch dazu so elegant angezogen? Jetzt stieg er wieder aus dem Wagen aus, öffnete die Motorhaube und starrte ratlos hinein.
Naid hatte nicht vor, ihn zu erschrecken, deshalb kletterte er mit möglichst viel Getöse aus seinem Auto und sprach den Mann an. Er zuckte trotzdem zusammen.
„Ich bin von einer Sicherheitsfirma und hatte einen Alarm auf meinem Handy, es ist an das Überwachungssystem des Hauses hier gekoppelt. Und nun springt mein Wagen nicht mehr an. Wie soll ich bloß zurückkommen?“
Suchend sah er sich um, es war nutzlos. Um diese Uhrzeit gab es hier weder Busse noch Taxis.
Naid bot ihm seine Fahrdienste an. Während sie zurück in die Stadt fuhren, sprachen sie über Politik. Kann sein, dass Naid inzwischen besonders sensibel dafür war. Aber wenn er sich nicht täuschte, war dieser Mann Christ. Sein „Slang“ verriet ihn. Das ließ Naid keine Ruhe, er musste es wissen. Lachend wehrte der Mann ab: „Nein, Christ bin ich nicht, aber ich habe eine gute Freundin, die Christin ist, sie heißt Nachme.“
„Nachme?“ entfährt es Naid erstaunt. So hieß seine Schwester! „Weißt du, wer ich bin?“
Der Mann blickte ihn forschend an. Sie waren inzwischen im Stadtzentrum, und hier war alles hell erleuchtet. „Bist du Naid? Ich habe gehört, deine Familie sucht dich und will dir helfen. Geh nach Hause.“
„Vergiss es. Richte ihnen aus, ich schaffe das alleine!“
Bis sie das Haus des Mannes erreichten, versuchte dieser ihn mit allen Mitteln zu überreden, zu seiner Familie zurückzukehren.
Naid war fassungslos. Was für ein Zufall!“ Ausgerechnet in einem menschenleeren Industriegebiet hatte er einen Typen aufgegabelt, der ein Freund von Nachme war … Das hier war eine Millionenstadt, und er bewegte sich in einem völlig anderen Stadtteil als seine Familie.
Solche und ähnliche „Zufallsbegegnungen“ ergaben sich in der Folgezeit immer wieder. An den kuriosesten Orten traf er Menschen, die in irgendeiner Weise mit seiner Familie, der Kirche oder mit Christen in Kontakt standen. Das häufte sich so sehr, dass selbst Naid das nicht mehr als Zufall abtun konnte.
Wann immer ihm zu Ohren kam, sein Vater würde ihm gerne helfen, verschloss er sich dem rigoros. Er würde das alleine schaffen. Seinen Vater brauchte er dazu auf keinen Fall. Doch Woche um Woche verging, ohne dass er einen gangbaren Weg für sein Leben vor sich sah.
Wenn er sich einsam fühlte, ging er manchmal in einen Park. Dort gab es mosaiküberdachte Grotten und mit Blumenbeeten eingesäumte Teichanlagen. Dort legte er sich auch heute wieder ins Gras und schloss die Augen.
Täuschte er sich oder kannte er die Stimme?
Zwei junge Frauen saßen ganz in der Nähe auf einer Bank, lachend und plaudernd. Als sich die eine Frau erhob und von ihrer Freundin verabschiedete, sprach Naid sie an. Wie sich herausstellte, war sie die Adoptivtochter seiner Mutter. Seit Monaten lebte sie bei seinen Eltern. Damals, als seine Mutter davon gesprochen hatte, Cassy zu adoptieren, war er völlig ausgeflippt. Es war eine von Mutters unmöglichen Ideen gewesen, die zu einem heftigen Streit geführt hatten.
Jetzt fand er Cassandra ganz sympathisch und lud sie kurzerhand in ein Straßencafé ein. Wenn man ihn gefragt hätte, hätte er etwas widerwillig zugegeben, dass er geschockt war, in dieser Millionenstadt schon wieder jemanden zu treffen, der in Beziehung mit seiner Familie stand.
Bei einer Tasse Cappuccino versuchte seine Stiefschwester ihr Bestes, ihn zu überreden, nach Hause zurückzukommen. „Mutter wird dir alles vergeben. So wie Jesus ihr vergeben hat.“
„Jesus, Jesus! Ihr könnt von nichts anderem reden! Lass mich in Ruhe mit ihm!“
„Aber Jesus liebt dich! Du musst ihn unbedingt kennenlernen!“
„Wenn dieser Jesus lebendig ist, so wie ihr das alle behauptet, dann möchte ich ihn mit meinen eigenen Augen sehen.“
Statt weiter zu diskutieren, stand Cassandra auf und verabschiedete sich von ihm. „Ist in Ordnung, Naid. Ich werde es ihm sagen.“
Sprach’s und verschwand. Sie wollte es ihm sagen? Naid sah ihr kopfschüttelnd nach und ging zu seinem Auto zurück.
Maraya muss sich fest gegen die schwere Tür der Kirche lehnen, um sie aufzudrücken. Hoffentlich werde ich es nicht bereuen. Aber ich muss mir unbedingt mein eigenes Bild machen. Mal sehen, wer recht hat und ob die Christen tatsächlich so verrückt sind, wie alle behaupten. Sie sollen ja sagen, dass Gott unser Vater ist.
Maraya schiebt sich in den voll besetzten Raum und findet in der vorletzten Reihe einen Platz. Sie nimmt mit dem Betreten des Gotteshauses sofort eine intensive Gegenwart wahr. Die Menschen stehen auf und beginnen, Gott zu loben und anzubeten.
Ist es die Musik? Maraya beginnt zu zittern. Sie ist ergriffen und begreift nicht warum. Beruhigend legen die Frauen neben ihr Maraya die Hände auf den Rücken, aber das Zittern hört einfach nicht auf. Einerseits wünscht sie sich, nie wieder hier weggehen zu müssen, und gleichzeitig möchte sie so schnell wie möglich verschwinden. Ich gehöre nicht hierher, alle um mich herum sind so heilig.
Kaum hat sie diesen Gedanken zu Ende gedacht, hörte sie den Pastor von der Kanzel sagen: „Niemand hier ist besser als die anderen, niemand ist von sich aus heilig. Heilig und rein sind wir nur durch Jesus Christus.“
„Halleluja!“
Halleluja? Was für ein seltsames Wort! Was bedeutet es?
Als hätte der Prediger ihre stille Frage gehört, beantwortet er sie: „Halleluja bedeutet: Lobet den Herrn! Mit diesen Worten ehren wir unseren Gott!“
Woher weiß er, was sie denkt? Nur Gott kennt die Gedanken der Menschen. Er muss hier sein! Nie zuvor hat sie solch einen Gott gesehen!
Als der Gottesdienst zu Ende ist, wird Maraya beinahe panisch. Ich darf ihn nicht verpassen! Ohne ihn will ich nicht mehr sein, ich brauche ihn!
Sie folgt der von vorne ausgesprochenen Einladung. Ja, sie will Jesus unbedingt besser kennenlernen! Eine Frau nimmt sie verstehend in ihre Arme.
„Ich will Christus haben, was muss ich tun?“
Wie eine funkelnde Perlenkette lagen die Lichter der Landebahn vor ihm. Ein Jumbojet schwebte dröhnend über Naids Kopf. Er hoffte, ganz in der Nähe des Flughafens ungestört parken und schlafen zu können. Käme die Polizei, würde sie glauben, er sei ein Reisender, der sich noch ein paar Stunden Schlaf vor dem Abflug am Morgen gönnte. Sechs Monate schlafen, essen und leben in einem Auto, hatten ihn zu einem Profi in solchen Dingen werden lassen. Während er nach einer unauffälligen Parklücke Ausschau hielt, hing er seinen Gedanken nach. Wie können die Christen an einen Gott glauben, den sie noch nie gesehen haben? Die sind doch bescheuert!
„Aber wenn es dich gibt, Gott, dann will ich dich sehen. Und wenn es dich nicht gibt, dann lass mich endlich in Ruhe.“
Er sprach es laut in die Einsamkeit hinein. Es hörte ja doch keiner zu.
Naid liegt zusammengekrümmt auf dem Rücksitz, er schläft tief. Es ist ungefähr zwei oder drei Uhr nachts. Urplötzlich beginnt sein Wagen heftig zu schaukeln. Verwirrt fährt sich Naid durch sein Haar und rappelt sich auf. Warum wackelt das so? Er hat doch nicht an einer Schnellstraße geparkt, an der manche in halsbrecherischem Tempo vorbeirasen und damit eine Druckwelle auslösen, die die Autos erschüttert!
Die Scheinwerfer eines Flugzeuges leuchten über ihm auf, es ist dabei zu landen. Naid späht suchend aus dem Fenster. Das Schaukeln hört einfach nicht auf. Da entdeckt er ihn. Er sitzt auf der Motorhaube.
Fest sehen sie sich in die Augen, es sind nur wenige Sekunden und doch eine Ewigkeit. Naid reißt seine Hände hoch. Heftig stößt er sie an das Innendach. „Autsch.“
Wo ist das Handy hingekommen? Er muss Cassy anrufen, sonst wird er später glauben, er sei verrückt geworden. Hellwach wühlt er in den Decken, hoffentlich hat er noch Guthaben!
„Cassy! Er hat mich aufgeweckt!“
„Bist du das, Naid? Was ist los? Bist du betrunken?“
„Ich bin vollkommen nüchtern, ich habe nichts getrunken. ER, Jesus Christus, hat mich besucht! Ich weiß es ganz, ganz sicher! Er war es. Mein Schöpfer saß auf der Motorhaube meines Autos und hat so lange daran gerüttelt, bis ich aufgewacht bin!“
„Hat er etwas zu dir gesagt? Woher weißt du, dass er es war?“
Cassandra ist nun ebenfalls hellwach.
„Du kannst es mir glauben! Meine Seele hat ihren Schöpfer getroffen, ich weiß es einfach! Er war es. Er hat mich gefragt: ‚Junge, ist das hier dein Platz?‘ Cassandra, ich komme nach Hause.“
Seine Schwester lacht. Sie glaubt ihm jedes Wort. Was er ihr erzählte, schien sie nicht einmal sonderlich zu wundern.
Drei Tage später hatte Naid alles wieder zurück, was er verloren hatte. Sein Vater beglich seine Schulden und verpflichtete ihn, einen finanziellen Berater einzustellen. Er zog wieder zurück in seine Wohnung und überdachte sein Leben neu.
Er las die Bibel und fing an, Gottesdienste zu besuchen. Niki gefiel das alles gar nicht. Sie war tief verletzt, er hatte sich all die Monate nicht bei ihr gemeldet. Naid hatte sich geschämt und sich von ihr ferngehalten, solange er ihr kein angemessenes Leben bieten konnte. Ihre Familie hatte es nicht akzeptieren wollen, dass aus ihm plötzlich ein armer Schlucker geworden war.
Niki gegenüber machte er dann auch keinen Hehl daraus, dass er Christ geworden war. Sie ließ sich von ihm scheiden.
Naid besuchte heimlich Bibelkurse und studierte Theologie an der Hochschule, bis diese geschlossen wurde. Dann ging er für ein halbes Jahr auf eine Jüngerschaftsschule ins Ausland.
Auch Maraya wollte mehr über Jesus wissen. Auch sie absolvierte eine Bibelschule in einem anderen Land.
Dort trafen sie sich. Beide ließen sich taufen und wurden als geistliche Leiter für die Untergrundkirche in ihrer Heimat ausgebildet und als solche zurückgesandt.
Ihre Freundschaft wuchs, und sie gründeten gemeinsam eine Fernsehproduktionsfirma. Sie arbeiteten offiziell für das staatliche Fernsehen. Irgendwann verliebten sie sich und heirateten.
Undercover produzierten sie Filme, DVDs und Musik-CDs für Christen, die auf legalem Wege in ihrem Land keine Informationen über Jesus erhalten konnten. Nach der Produktion eines regimekritischen Dokumentarfilms fand ihre Arbeit ein jähes Ende. Der staatliche Geheimdienst verhaftete ihre Freunde und brachte sie ins Gefängnis. Naid und Maraya fanden Tag und Nacht keine Ruhe mehr. Immer fürchteten sie, die Nächsten zu sein, die vom Geheimdienst verhaftet werden. Deshalb verließen sie auf unterschiedlichen Wegen ihre Heimat.
Auf der Flucht müssen sie sich trennen und verlieren zweimal all ihren Besitz. In zwei verschiedenen Ländern müssen sie ganz von vorne anfangen, neue Sprachen lernen und sich auf neue Kulturen einlassen.
Viele ihrer Freunde leben in ähnlichen Ausnahmesituationen, inmitten von Menschen, die sich nicht im Entferntesten vorstellen können, was sie durchgemacht haben. Sie fühlen sich sehr oft einsam und unverstanden. In dem allem erleben sie aber auch Gottes Nähe und Fürsorge.
3 Auf dem Wasser gehen
Der Platz, an den Gott dich ruft,
ist dort, wo deine tiefste Beglückung
und der ungestillte Hunger der Welt
aufeinandertreffen.
Frederick Buechner
Ich lachte. Es hat ganz tief in mir begonnen und perlte nun geradezu von meinen Lippen. Jedes Mal, wenn ich nach oben flog, brach neue Freude sich überschwänglich Bahn. Ich flog durch die Luft, mein langes Haar tanzte gemeinsam mit den flatternden Rockschößen meines weißen Kleides. Höher und höher schaukelte ich unter dem grünen Blätterdom, durch den flirrend die Sonne schien. Es war einfach herrlich.
„Shaya!“
Abrupt wurde mein Schaukeln unterbrochen. „Kleine Shaya, wach auf!“ Unbarmherzig landete ich auf dem Boden.
Mühsam versuchte ich, meine Augen aufzumachen. Vom Flur drang ein schmaler Lichtstreifen ins Zimmer, meine Mutter stand groß und dunkel in der Tür. „Shaya, beeile dich, steh rasch auf und wasche dich. In fünf Minuten gehen wir.“
Sobald meine Mutter wieder verschwunden war, fielen mir die Augen erneut zu. Wieder befand ich mich unter dem zartgrünen Blätterdach. Doch eine Wolke hatte sich halb vor die Sonne geschoben. Die Schaukel, auf der ich eben noch gesessen hatte, schwang einsam aus.
„Shaya, wenn du nicht gewaschen bist, kannst du nicht zu Gott kommen. So schmutzig, wie du bist, darf man das Haus Gottes nicht betreten.“
Suchend drehte ich meine Hände hin und her. Jetzt war ich hellwach. Schmutz konnte ich keinen entdecken. Rasch schlüpfte ich in meine Pantoffeln und ging in den Flur. „Der Allmächtige sieht alles, geh und wasch dich!“
Meine Mutter schob mich ins Badezimmer und wusch meine Fingerchen. Es war vier Uhr in der Frühe, und ich war eben fünf Jahre alt geworden.
Ich hörte die Stimme meines Vaters von seinem Bett her: „Frau, lass doch die Kinder schlafen. Was soll das, in ihrem Alter schon Fasten und Beten?! Das ist doch ungesund. Sie brauchen ihren Schlaf!“
Meine Mutter hörte nicht auf ihn. Sie sorgte dafür, dass meine vier Geschwister und ich pünktlich beim Beten waren. Sie schien einen Schwur geleistet zu haben, mit allen Mitteln eine gute und Gott wohlgefällige Mutter zu sein. Das sah sie als ihre heilige Pflicht.
An Mutter sah ich schon als Kleinkind, was eine Frau zu tun und zu lassen hatte. Viel zu schnell verlangte sie dieses Betragen auch von mir, und ich konnte kein unbeschwerter Wildfang mehr sein, wie mich mein Vater manchmal zärtlich nannte. An meinem neunten Geburtstag legte meine Mutter mir einen nachtblauen Schal um die Schultern und zog ihn über mein Haar. „Wie gefällt dir diese Farbe, Shaya?“
Zaghaft nickte ich und starrte mein Spiegelbild an. Das sollte ich sein? Nun durften mich, außer meinem Vater und meinen Brüdern, keine Männer mehr ohne den Hijab sehen. Doch manchmal passierte es einfach trotzdem. Oft, wenn ich mit meinen großen Brüdern übermütig durchs Haus tollte, tauchte etwa unerwartet mein Onkel bei uns auf und brachte meine Cousins zum Spielen vorbei. Dann musste ich ab jetzt mein Haar bedecken und das sittsame Mädchen sein, was so gar nicht zu mir passen wollte.
„La ilaha illa Allah – Es gibt keinen Gott außer Allah!“ Wir beugten uns im Rhythmus der Verse, gemeinsam intonierten wir die „shahada“. Ich lag auf den Knien, gleich neben mir meine Schwester. Fünfmal am Tag sprachen wir mit den anderen Frauen im Gebetshaus das Glaubensbekenntnis. Wir beteten nicht nur pflichtgetreu, sondern fasteten auch und spendeten Geld für die Armen. Erfuhr ich von einem religiösen Programm, war ich garantiert dabei. Ich wünschte mir von Herzen, Gott zu gefallen und rechtschaffen zu sein. Außerdem sollte jeder, der mich kannte, gut von mir denken. Ich war eine gerechte junge Frau, an der selbst Gott nichts auszusetzen haben konnte.
Gott verlangte wirklich viel von mir, und meine Mutter hatte sich zu seinem Sprachrohr gemacht. Weinend lag ich auf meinem Bett, meine Schwester massierte mir den Rücken. „Schh, schh, Shaya, ist ja gut, ist ja gut.“
„Fatima, was ist mit meinen Träumen? Jahrelang habe ich mir ausgemalt, Stewardess zu werden. Ich wollte Sprachen lernen, um die ganze Welt reisen! Und nun will Mutter, dass ich heirate!“
„Wende dich an Vater, er wird ein gutes Wort für dich einlegen!“
„In diesen Dingen hat Mutter das letzte Wort, das weißt du. Sie sagt, es gehöre sich nicht, ein Mädchen in meinem Alter allein auf der Straße …“ Ich schniefte. „Mutter sagt, es sei höchste Zeit, dass ein Mann auf mich aufpasst.“
In mir wirbelte alles durcheinander. Ich war 17 Jahre alt, und der Mann, den Mutter ausgesucht hatte, war furchtbar alt, 31! Das hieß, ich musste vor dem Schulabschluss die Schule abbrechen und zu seiner Familie ziehen. Ich kannte diese Menschen nicht, ich hatte sie höchstens einmal von Weitem in der Moschee gesehen. Das durfte einfach nicht wahr sein! Innerlich sträubte sich alles gegen diesen Gedanken.
Es schrie unaufhörlich. Unbeholfen trug ich mein Baby auf und ab. Sang ein wenig, gab ihm die Brust, zeigte ihm Bilder und sprach auf es ein. Ich spielte damit, wie mit einer Puppe. Es beruhigte sich einfach nicht.
Mein Leben als Frau und neuerdings als Mutter war ein Albtraum, dem ich einfach nicht entrinnen konnte.
Ich starrte das Baby an, dies war mein Sohn! Ich musste ihn versorgen, stillen, Windeln wechseln, in den Schlaf wiegen – wie sollte das bloß gehen? Vom Sofa aus beobachtete mich meine Schwiegermutter. Sicher hatte sie gleich wieder etwas an mir auszusetzen. Seit ich in dieses Haus gekommen war, bestimmte sie oder ihre Töchter, was ich zu tun und zu lassen hatte. Nicht einmal zum Beten in die Moschee konnte ich mehr gehen. Darauf legte hier keiner wert, mein Mann schon gar nicht.
Es war einfach alles anders, als ich es von zu Hause gewohnt war.
Wie ich vermutet hatte, war mein Vater zwar gegen diese frühe Heirat gewesen, aber hatte sich nicht gegen meine Mutter durchsetzen können. Sie war der Auffassung, eine fromme Frau habe früh zu heiraten, Kinder zu bekommen und ihren Mann zu ehren und zu versorgen. Da ich ein Gott wohlgefälliges Leben führen wollte, willigte ich ein, wenn auch sehr widerstrebend. Als ich mich Mutter gegenüber beklagte, machte sie mir sehr deutlich klar, dass ich an Scheidung und Rückkehr nach Hause nicht zu denken brauchte.
Daher klammerte ich mich an meinen Glauben, las fromme Bücher und betete nun zu Hause alleine fünfmal am Tag. Es war der einzige Halt, den ich hatte. Meinem Mann, ich nannte ihn heimlich „den Alten“, lag wenig an Religion. Ich sehnte mich danach, meine Gedanken und mein Leben mit ihm zu teilen. Doch wir hatten nichts gemeinsam. Ich wünschte, wir könnten unsere Sorgen miteinander teilen. Doch er interessierte sich nicht für mich. Was er tat und wohin er ging, davon erfuhr ich nur selten etwas.
Dann glaubte ich, es würde alles anders. „Shaya, ich muss mit dir reden!“
Ich war aufgeregt. Endlich besprach der Alte einmal etwas nur mit mir alleine und nicht im Beisein seiner Mutter und Brüder. Wie oft hatte ich ihn darum gebeten.
„Shaya, ich habe alles verkauft. Dieses Land nimmt mir die Luft zum Atmen. All unser Geld habe ich einem Mann gegeben, der uns in die Türkei bringen wird.“ Er sah mich durchdringend an. „Dort werden wir uns ein völlig neues Leben aufbauen. Unsere Kinder werden eine Zukunft haben. Pack das Nötige ein, morgen früh um fünf Uhr geht es los.“
Ein flüchtiger Kuss, schon fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Hektisch fing ich an zu packen, innerlich wie versteinert. Alles in mir schrie: Bin ich denn kein Mensch? Warum befiehlt er mir einfach nur, was ich zu tun habe? Nie werde ich nach meinen Wünschen gefragt, nie habe ich auch nur irgendetwas zu sagen. Bin ich denn eine Marionette, die einfach perfekt zu funktionieren hat?
Etwas in mir war zerbrochen.
Mir war speiübel. In jeder anderen Situation hätte ich diesen Tag genossen. Blauer Himmel, weißer Sandstrand, lustige Schaumkronen auf den heranrollenden Wellen. Meer bis zum Horizont. Aber nicht heute.
Fest hielt ich meine beiden Kinder umklammert. Wir waren nicht im Urlaub. Wir waren auf der Flucht, illegal.
Der schmale Kutter war überfüllt mit Menschen. Dicht an dicht saßen wir auf schmalen Holzbänken, manche neben Beuteln, Säcken und Koffern auf dem Boden. Für die Wenigsten hatte der Kapitän eine Rettungsweste gehabt. Ich war wütend und hatte Angst. Aufgebracht starrte ich den Rücken meines Mannes an. Was würde mir die Ehe mit diesem Mann noch alles aufzwingen?
Jäh schreckte ich aus meinen heillosen Gedanken auf. „Mama, was ist das für ein Schiff?“ Wo? Suchend sah ich mich um. Vergaß für einen Augenblick meinen Frust. In rasender Geschwindigkeit näherte sich ein Boot. Schon schallte durchdringend eine Sirene über die dunklen Wellen. Die Männer sprangen auf, wild gestikulierend riefen sie unserem Kapitän zu, er solle Gas geben, irgendetwas tun. Doch es war natürlich aussichtslos. Die türkische Küstenwache hatte uns entdeckt und zwang uns, umzudrehen. Der unergründliche Blick meines Mannes traf mich. Seine Pläne waren buchstäblich ins Wasser gefallen.
War das die Strafe Gottes? Er sah alles, ganz sicher auch mein von Hass erfülltes, wütendes Herz.
Noch immer war ich jeden Morgen aufgeregt wie ein kleines Kind. Ich ging arbeiten! Und ich genoss es. Jede Minute. Wenn ich meinen Kundinnen die Haare wusch, diese sorgfältig schnitt und anschließend föhnte. Oder wenn ich Strähnchen färbte und die Damen beriet, die Farbe zu wählen, die ihren Teint vorteilhaft zur Geltung brachte. Ich brachte geschickt ihre Brauen in Form und bot ihnen Schönheitstattoos an. Wer hätte das gedacht? Ich fühlte mich wie der sprichwörtliche Fisch im Wasser.
Durch unsere unüberlegte Flucht waren wir in eine finanzielle Zwangslage gekommen. Mein Mann hatte seinen gesamten Besitz veräußert, um die Schleuser zu bezahlen, doch unsere Flucht war gründlich schiefgegangen. Wir hatten alles verloren und mussten zu Hause wieder ganz von vorne beginnen. Obwohl es sich in den Augen unserer Eltern nicht gehörte, dass eine Frau arbeiten ging, war es nun einfach nicht anders möglich. Wir waren darauf angewiesen, dass ich mitverdiente.
Wenn ich nach der Arbeit im Salon meine Kinder abholte, ging ich mit ihnen auf den Spielplatz. Manchmal kaufte ich ihnen ein Eis oder etwas anderes zum Naschen und spielte mit ihnen. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchfloss mich. Zum ersten Mal hatte ich selbst verdientes Geld in den Händen, mit dem ich tun und lassen konnte, was ich wollte. Egal, ob meine Mutter oder Gott das für schicklich hielten.
Hatte ich jemals Schmetterlinge im Bauch gespürt? Vermutlich war auch das alles andere als sittsam. Schritt für Schritt war es dem „Alten“ und mir gelungen, uns aus der Misere herauszuarbeiten, und wir waren dabei völlig auf uns allein gestellt gewesen. Anfangs hatte mein Mann mit mir geredet, mich einbezogen in seine Entscheidungen. Doch schon war er immer länger weggeblieben und wieder in sein gewohntes Verhalten zurückgefallen. Ich verdiente inzwischen so gut, dass meine Kinder und ich auch ohne ihn über die Runden kamen. Er behauptete zwar, mich zu lieben, doch ich fühlte nichts als eine graue, kalte Wand, wenn ich an ihn dachte. Vor zwei Jahren hatte ich mich scheiden lassen, es war eine Trennung in gegenseitigem Einvernehmen gewesen.
Mein neuer Kollege war ein ernster, höflicher Mann. Doch wenn sich unsere Blicke trafen, schenkte er mir jedes Mal ein Lächeln, das meine Tage heller machte. In seiner Gegenwart fühlte ich mich wie eine Frau. Begehrenswert, schön und wert, geliebt zu werden. Nie zuvor hatte ich so etwas erlebt. Warum sollte ich die Liebe nicht einfangen, wenn sie sich auf meiner Schwelle niederlassen wollte? Ich sagte Ja, als er mich fragte. Wollte es wagen, meine Geschicke den Händen eines Mannes anzuvertrauen, den ich liebte. Was konnte schon schiefgehen? Schließlich liebte er mich doch.
Shaya, dreh’ den Gashahn auf, dann ist das ganze Elend endlich vorbei. Ich hatte dieses Leben so satt. Nacht für Nacht wälzte ich mich stundenlang in meinem Bett, bevor ich in einen unruhigen Schlaf fiel. Ich verstand mich selbst nicht. Ich hatte den Mann meiner Träume geheiratet. Frey trug mich auf Händen, las mir beinahe jeden Wunsch von den Lippen ab und kümmerte sich rührend um mich. Und trotzdem war ich nicht glücklich. Am Morgen wachte ich übernächtigt auf und schleppte mich kraftlos zur Arbeit. Was war bloß los mit mir? „Gott, ich verstehe das nicht. Ich war unglücklich, weil ich den Alten nicht mochte. Frey liebe ich, und trotzdem habe ich kein Glück. Mein Leben ist ein einziges Chaos. Warum bloß?“
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Ich schreie, aber keine Rettung ist in Sicht,
ich rufe, aber jede Hilfe ist weit entfernt!
Mein Gott! Ich rufe am Tag, doch du antwortest nicht,
ich rufe in der Nacht und komme nicht zur Ruhe.
Psalm 22,2-3 (NGÜ)
Ich begann, geistliche Schriften zu lesen und versuchte, Verse aus dem Koran zu beten, auch wenn ich sie kaum verstand. „Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Mein Leben ist dunkel. Gleich einem Abgrund, der mich zu verschlingen droht. Hör mein Schreien und hilf mir …“
Es war zwei Uhr in der Frühe, und ich konnte wieder einmal nicht schlafen. Ich holte mir ein Heft hervor und schrieb die Worte aus dem neu entdeckten Buch ab, um sie auswendig zu lernen: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Hilf mir.“