Kitabı oku: «Das Blut des Sichellands», sayfa 3

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Die Vereinigung der letzten Linien.

Und doch war das einzige, was er in diesem Moment empfand, viel menschlicher, viel einfacher und weniger erhaben.

Cureda würde sterben. Er würde sie verlieren. Für alle Zeit.

Er stellte sich immer wieder die gleiche Frage. 'Was hätte ich getan, wenn sie mich vorher gefragt hätte? Hätte ich ihren Tod in Kauf genommen - für dieses Kind?' Aber es war nicht seine Entscheidung gewesen und dass Cureda sie ihm abgenommen hatte, war wohl ihre größte Tat gewesen.

Der Lohn war der Tod.

Heute. Oder morgen.

In der vergangenen Nacht hatten die Wehen eingesetzt. Kein Heiler, kein Diener hätte dies bestätigen können, denn schon seit jenen Stunden, die auf Curedas Geständnis gefolgt waren, wand sie sich unter unentwegten Schmerzen und dem schier unaufhaltsamen Drang, das neue Leben zur Welt zu bringen. Ein jeder war sich sicher, es könne sich nur noch um wenige Stunden handeln.

Und doch irrten sie.

Erst heute morgen, vor Erschöpfung schon der Bewusstlosigkeit nahe, hatte Cureda die erlösende Nachricht verbreiten lassen.

"Es beginnt."

Erlösend für das Sichelvolk.

Nicht für Saton. Mit niemandem hatte er bislang die bitteren Erkenntnisse geteilt. Immer wieder war er kurz davor gewesen, Mondor einzuweihen, doch stattdessen hielt er sich von dem Priester fern und zog sich immer mehr zurück. Jetzt schickte Cureda ihn nicht mehr fort, jetzt ließ sie ihn an ihrer Seite zu, aber sie bestand darauf, dass er immer wieder für kurze Zeit hinaus ging, um durchzuatmen, um Kraft zu tanken und sich auf das Kommende vorzubereiten. So wie jetzt.

"Geh nach draußen." hatte sie gesagt und er hatte sie kaum noch hören können. "Du brauchst eine ruhige Stunde... Sie kommt... aber nicht jetzt... ein wenig noch... bitte... geh hinaus... und komme wieder."

Es gab keine Bitte mehr, die er ihr abschlagen konnte. Und so war er gegangen. Nicht weit, er konnte das Haus noch sehen. Nur eine Reihe Kiefern trennte ihn von dem Anwesen.

Und hier blühte die Winterrose, die ebenso im Begriff war zu sterben wie diejenige, die nicht weit entfernt sein Kind zur Welt brachte.

"Hoher Shaj!"

Saton wirbelte herum. Ein Diener eilte auf ihn zu.

"Gibt es etwas...?"

"Nein, Herr, sie... es dauert noch immer an. Aber... der hohe Herr Wandan ist eingetroffen."

Saton nickte.

"Schick ihn in das Besprechungszimmer. Ich komme sofort."

Wandan. Der Mann, den er als einzigen einen "wahren Freund" nannte. Auch Wandan konnte nichts tun, aber er musste ihn hier haben. Nicht wegen des Versprechens, dass er dem Krieger abnehmen würde und nicht wegen des Schutzes, den er bieten konnte, sondern ganz einfach, weil er den Gedanken nicht ertrug, allein zu sein. Gerade in dem Moment, in dem sein Glück hätte vollkommen sein müssen, würde es ihn verlassen und obgleich er als Shaj der Nacht kein Gefühl besser kannte als das der Einsamkeit, wusste er, dass sie nicht sein durfte. Nicht jetzt.

In dem kleinen Zimmer gab es nur zwei Lehnstühle, einen Kamin und einen niedrigen Tisch, auf dem eine Karaffe mit Wasser stand. Keine Teppiche, keine Bücher, keine Kerzenhalter. Der Shaj kam nur hierher, wenn er über besonders ernste Dinge sprechen oder nachdenken wollte und keinerlei Ablenkung duldete. Wandan wusste nicht, wann Saton zuletzt jemanden hier empfangen hatte. Es musste Jahre her sein.

Und nun saß er dort und doch war er es nicht. Es war nicht der Saton, den Wandan kannte. Jegliche Fröhlichkeit, jede Zuversicht und alles Beruhigende, das den Shaj der Nacht sonst ausgemacht hatte, war verschwunden. Stattdessen blickte ein Mann ins Feuer, der aussah, als hätte er nie auch nur im Entferntesten von Dingen wie Glück oder Freude gehört.

Wortlos setzte sich Wandan auf den freien Stuhl und wartete.

Den ganzen Weg über hatte er sich ausgemalt, was ihn wohl erwartete, doch nichts in Yto Te Vel oder auch in diesem Hause deutete darauf hin, dass etwas nicht in Ordnung war. Jeder, der das große Glück hatte, in diesen Tagen hier zu verweilen, genoss dies offenbar in vollen Zügen.

"Was ich dir jetzt sage, weiß noch niemand sonst."

Wandan durchfuhr es eiskalt. Satons Stimme klang hohl und fremd und hatte alle Wärme verloren.

Der Shaj sah ihn nicht an.

"Eines Tages wirst du vielleicht sagen: Ja, ich wusste davon. Und vielleicht wirst du der Meinung sein, es sei an der Zeit, das Wissen mit jemandem zu teilen. Es wird ein Tag sein, an dem du mich nicht mehr um Rat fragen kannst, sondern selbst entscheiden musst. Schwöre mir, dass du nie mit jemandem darüber sprichst, solange du nicht weißt, was es bedeutet. Schwöre es, Wandan."

Und Wandan schwor, ohne so recht zu wissen, was er da sagte.

Doch Saton erklärte sich nicht weiter. Dann stand er auf, stellte sich vor seinen Cas und sagte:

"Cureda wird nicht nach Semon-Sey zurückkehren. Sie wird sterben. Sie wird unser Kind zur Welt bringen und es wird ihr Tod sein. Sie wusste es die ganze Zeit, doch erst jetzt konnte sie es mir sagen. Sie gibt ihr Leben für das Kind, das ich mir so sehr gewünscht habe."

Wandan wusste nicht, wie ihm geschah. Tausende Fragen formten sich in seinem Kopf und zerfielen wieder.

"Saton..."

"Nein, Wandan. Ich kann dir nicht mehr sagen. Ich werde das verlieren, was mir in meinem Leben das Wichtigste war. Und ich werde etwas erhalten, was an seine Stelle tritt. Niemand hat schuld. Weder sie noch ich und am allerwenigsten meine Tochter. Ja, es wird ein Mädchen sein, Wandan. Die Heiler sind sich sicher. Sie wird etwas Besonderes sein. Doch sie kann nur leben, weil ihre Mutter für sie stirbt. Das macht sie wertvoller als du jetzt ahnst. Du bist der oberste Cas und deine höchste Pflicht ist es, mein Leben zu beschützen. Dennoch muss ich von dir verlangen, dass du eine weitere auf dich lädst. Deine Treue gilt mir nur dann, wenn sie auch meinem Kind gilt."

"Du hast mein Wort."

Saton nickte, doch er bedankte sich nicht.

Die Stunden verstrichen und wollten doch kein Ende nehmen. Der Heiler stand rat- und hilflos in einer Ecke des Schlafzimmers und betete im Stillen, die Nacht möge bald vorüber sein, doch was, so fragte er sich, würde geschehen, wenn das Kind dann immer noch nicht da war? Die junge Frau, die es gebar, würde diese Strapazen nicht mehr lange überstehen.

An ihrer Seite saß der Shaj der Nacht. Ihm war keine freudige Erwartung mehr anzusehen, keine Nervosität, keine Hoffnung. Nur eine unerklärliche Bitterkeit und eine angsteinflößende Ruhe. Immer wieder nahm er seine Gemahlin in die Arme, wenn die Wehen ihr diesen kurzen, erholsamen Moment gönnten, doch gleich darauf bäumte sie sich schon wieder auf und versuchte, mit der letzten ihr verbliebenen Kraft das Kind auf den Weg zu schicken.

Mitternacht war längst vorüber.

Der zwölfte Tag des Rin war angebrochen.

Wandan ging auf dem Flur vor dem Schlafzimmer auf und ab. Er war der einzige, der dem Geschehen so nah kommen durfte und gleichzeitig wünschte er sich, weit davon entfernt zu sein. Er hörte Curedas Schreie, die sie nicht mehr länger unterdrücken konnte. Und er hörte Satons Gemurmel, das seine sonst beruhigende Wirkung längst verloren hatte und er hörte das Winseln des Heilers, der die Szenerie nicht mehr länger mit ansehen wollte.

Und er dachte an die, die im weiter entfernten Kaminzimmer warteten. An die Diener, die unablässig für das Leben der Mutter und des Kindes beteten und nicht ahnten, dass zumindest ein Teil dieser Gebete nicht erhört werden würde. An Mondor, der längst erkannt hatte, dass etwas Finsteres über ihnen lag und der, obgleich Wandan ihm kein Wort von Satons Offenbarung verraten hatte, schon am Blick des Kriegers gesehen hatte, dass dieser eine entsetzliche Wahrheit kannte.

Bald würde die Sonne aufgehen. Der zwölfte Tag des Rin. Manche vermeintlichen Seher hatten für heute den letzten Wintertag vorhergesagt. Der Tag an dem die Rosen des Nordens starben.

Der oberste Cas horchte auf. Ihm war, als hätte Saton eine barsche Anweisung gerufen, vermutlich an den nutzlosen Heiler. Dann hastige Schritte. Eine schwache Stimme... Cureda?

Plötzlich war alles still.

Entsetzlich still.

Unsicher legte Wandan die Hand auf die Türklinke.

Und dann kam der Schrei.

Aber es war nicht der Schmerzensschrei der Mutter und auch kein wütender oder entsetzter Ausruf des Shajs. Für Wandan war es vielleicht der schönste, den er je gehört hatte.

Es war der Schrei eines Kindes.

Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag und er zog seine Hand ruckartig zurück. Gleich darauf stürmte der Heiler aus dem Schlafzimmer.

"Ein gesundes Mädchen!" rief er und schüttelte Wandan die Hand, so dass der Krieger ihn verwirrt ansah. Hatte dieser Mann denn immer noch nicht erkannt, was geschehen würde? Aber noch ehe er etwas erwidern konnte, hastete der Heiler schon die Treppen hinab zum Kaminzimmer und ließ die Zimmertür weit offen stehen.

Wandan wusste, dass er diesen Anblick sein Leben nicht vergessen würde.

Curedas Gesicht schien im Licht der Kerze zu glühen. Sie wurde halb von Saton verdeckt, der sich jetzt über sie beugte und sie küsste. Doch er war vorsichtig. Sehr vorsichtig. Da war noch etwas. Zwischen ihnen.

Cureda hielt es im Arm.

Es lag vollkommen still, schrie nicht, weinte nicht. Aber es lebte.

Plötzlich sah Saton über die Schulter zur Tür.

Wandan wünschte sich in diesem Moment an jeden anderen Ort der Welt. Wie tief musste die Trauer in einem Menschen toben, dass sogar ein Mann wie Saton, ein Mensch, der vom reinen Blut Zaharrs durchdrungen war... dass sogar dieser Mensch weinte?

Es war Zeit zu gehen.

Mit einer ergebenen Verbeugung, die viel tiefer war als sonst und die nicht nur dem Shaj sondern auch der Mutter und auch dem Kind galt, zog sich Wandan zurück. Gerade als er die Tür schloss, hörte er Satons erstickte Stimme:

"Du musst ihr noch ... einen Namen geben."

Der Krieger ließ niemanden mehr in den Gang. Nicht die Diener. Nicht den Heiler. Mondor... da wäre vielleicht etwas anderes gewesen. Doch Mondor kam nicht.

Die ersten Sonnenstrahlen des letzten Wintertages fielen durch das kleine Fenster am Flurende.

Er ging darauf zu und sah hinaus. Es war ein schönes Bild. Rauhreif lag über Yto Te Vel und ließ es funkeln wie ein Juwel und zwischen den dunklen Ästen der Nadelbäume hielten Silberraben Wache. Wer ihnen zusah, vergaß die Zeit. Warum nur die Zeit? Warum nicht auch alles andere?

Hinter ihm öffnete sich eine Tür, doch er drehte sich nicht um. Schritte näherten sich. Jemand stand hinter ihm und die Kälte, die er mitbrachte, war ebenso endgültig wie seine Worte.

"Sie kann diese Sonne nicht mehr sehen."

Endlich schaffte es Wandan, die Hände vom Fenstersturz zu lösen und dem Bild Yto Te Vels den Rücken zuzuwenden.

Er hätte Saton beinahe nicht erkannt. Das Funkeln in den schwarzen Augen des Shajs war erloschen, so als sei ein Teil von ihm für immer gegangen.

Wandan wollte etwas sagen, doch aus seinem geöffneten Mund kam kein Laut. Stattdessen wanderte sein Blick hinab auf das in weiche Tücher eingeschlagene Bündel, das Saton in den Armen hielt.

Das Mädchen schlief. So seelenruhig, dass niemand hätte erahnen können, wie wenig friedlich sie in den letzten Wochen gewesen war. Er konnte zwischen den Tüchern nicht viel erkennen, aber er vermutete, dass es ein sehr hübsches Kind war.

"Ich wäre jetzt gern allein." sagte Saton, mit einer Stimme, die nicht seine eigene war. "Allein mit... ihr." Er nickte seiner Tochter zu.

"Natürlich."

"Könntest du... ich meine... ich glaube, dass Mondor..." Der Shaj suchte selten nach den richtigen Worten, doch diesmal fand er sie nicht.

"Ich werde dafür sorgen, dass Mondor sich ihrer annimmt." half Wandan ihm und obwohl er Curedas Namen nicht mehr auszusprechen vermochte, gab es keinen Zweifel, wen er meinte.

"Danke."

Ohne noch einmal aufzusehen, machte Saton kehrt und ging auf die andere Seite des Ganges zu, wo sich sein eigenes Schlafzimmer befand.

Wandan kämpfte mit sich.

"Saton?"

Der Shaj blieb stehen.

"Wie... wie ist ihr Name?"

Die Antwort war eisig.

"Len-Y-Ca. Das Ende bringend. Das scheint ihr Schicksal zu sein."

7. Tag des Wentril im 14. Jahr Satons

Die Terrasse auf dem Dach des Cas-Flügels wurde nur selten für Zusammenkünfte genutzt. Die neun erwählten Krieger des Shajs der Nacht feierten hier dann und wann ihre derben Feste, aber noch bevor es etwas zu sehen gegeben hätte, was genügend Gesprächsstoff für die Burgdiener gab, zogen es die obersten Kämpfer vor, die Feiern in ihren Kellern fortzuführen.

Doch der Herrscher selbst mochte diesen Ort. Er konnte von hier aus weite Teile der Burg überblicken, ungestört seinen Gedanken nachhängen und sich so etwas Abstand vom Tagesgeschehen gönnen, ohne dass er von jedem, der des Weges kam, mit Fragen, Bitten oder belanglosen Mitteilungen belästigt wurde. Nur wenn die Sonne schien, mied er diesen Rückzugsort, denn wie alle Batí setzte er sich dem Licht und der Wärme nicht allzu gern aus.

Saton war froh, dass das Wetter ihm ausgerechnet an diesem Tag entgegenkam. Blauschwarze Wolken verdunkelten den Himmel und ein kühler Wind strich durch den Festungshof, auf den er herabsah. Nicht mehr lange, und es würde regnen, doch dann war er vermutlich schon wieder in Besprechungen vertieft, die heute noch im Ratssaal angesetzt waren. Er beugte sich ein wenig über die Zinnen, lächelte angesichts dessen, was er dort unten beobachten konnte, machte dann kehrt und setzte sich wieder auf einen der groben Holzstühle, die die Diener samt eines niedrigen Tisches vor einiger Zeit aufgebaut hatten.

„Und?“ fragte Wandan und wischte sich einen Sijaktropfen aus dem Mundwinkel. „Wie schlagen sie sich?“

„Gut.“ erwiderte Saton zufrieden. „Ich glaube kaum, dass ich mir bessere Krieger wünschen könnte. Sie trainieren in jeder freien Minute. Ich schulde dir meinen Dank.“

Ungerührt füllte der oberste Cas seinen Kelch erneut.

„Das liegt nicht an mir. Die Säbelmeister in den Kasernen haben den Kampfwillen in ihnen geweckt und geschürt. Ich sorge nur dafür, dass er nicht einschläft.“

„Du solltest dich nicht selbst schlechtreden. Wenn ich sehe, wie gut sich Cala entwickelt hat... Er war schon immer ein hervorragender Sichelkämpfer, aber in den letzten Jahren hat er allen anderen den Rang abgelaufen. Von dir und vielleicht noch Beleb einmal abgesehen. Und ich weiß, wer ihm all diese Kniffe beigebracht hat.“

„Cala ist begabt. Da blieb für mich nicht viel zu tun.“

„Das seid ihr alle. Begabt. Sonst wärt ihr nicht in die obersten Ränge aufgestiegen. Und du gehörst zu den wenigen, die echtes Talent erkennen. Früh erkennen. Erinnere dich an Celdros.“

„Celdros...“ Wandan brummte unzufrieden. „Niemand schwingt den Säbel wie er. Darauf bestehe ich.“

„Oh ja, daran habe ich auch keinen Zweifel. Doch du hast auch seine Schwäche erkannt. Die Sichel liegt ihm nicht. Es wäre ein Fehler gewesen, ihn von seinem Posten zu nehmen.“

„Trotzdem sehen es manche als Strafe, dass er nicht in den Kreis der Neun aufsteigen durfte.“

„Manche vielleicht. Er selbst aber nicht. Er hat sich bei mir für deine Einschätzung bedankt. Celdros ist zufrieden, da wo er jetzt ist. Und er hat so mehr Zeit für seinen Sohn.“

„Den wir im Auge behalten sollten. Geschickter Junge.“

Saton runzelte nachdenklich die Stirn. „Ich werde es mir merken. Wie war doch gleich sein Name?“

„Rahor. Rahor Req-Nuur.“

„Und wie alt ist er?“

„Acht oder neun Jahre. Ich müsste nachfragen. Er soll nächstes Jahr die ersten Probestunden erhalten.“

„Ich werde ihn mir ansehen.“ nickte Saton.

„Celdros' Frau ist schwer krank. Sie kann sich kaum noch um die Kinder kümmern.“

„Ich habe davon gehört. Halte mich auf dem Laufenden. Die Req-Nuurs können sich stets meiner Aufmerksamkeit sicher sein.“

Sie sprachen noch eine Weile über den einen oder anderen Kämpfer, als plötzlich aufgeregte Stimmen vom Hof heraufschallten. Neugierig stand Saton wieder auf und sah hinunter.

„Die Anweisungen deines Vaters waren eindeutig!“ rief gerade jetzt eine Frau. „Außerdem ist es schon viel zu spät, du wirst Ärger bekommen, wenn du nicht pünktlich zu Tisch bist!“

Ein andere, viel hellere Stimme, deren Urheber von Satons Blickwinkel aus nicht zu sehen war, erwiderte etwas, das er nicht verstehen konnte, aber das musste er auch nicht. Er hatte eine ziemlich deutliche Vorstellung vom Inhalt dieser Entgegnung.

Mit einem leisen Seufzen kehrte er zu Wandan zurück.

„Lenyca?“ fragte der Cas.

Saton nickte, halb resigniert, halb belustigt. „Aber lass sie das nicht hören. Sie mag ihren Namen nicht besonders.“

„Ja, ich weiß. Die anderen rufen sie 'Lennys'. 'Ohne Licht'. Hat sie sich das ausgesucht?“

Der Shaj zuckte die Achseln. „Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher, wo sie das her hat. Aber es ist auch nicht so wichtig. Vielleicht ist es sogar besser so. Sie ist noch zu jung für die große Bedeutung ihres Namens.“

„Das ist sie allerdings. Und doch wirkt sie reifer als andere Kinder in ihrem Alter. Und ich glaube, auch du vergisst manchmal, wie alt sie ist.“

„Wie könnte ich das vergessen? Wie könnte ich vergessen, dass Cureda vor sechseinhalb Jahren starb?“

„Verzeih, so war das nicht gemeint. Saton, sie ist ein Kind. Sie sollte draußen in den Gärten spielen und nicht...“

Unten im Hof klirrte etwas, gerade so, als ob ein Tonkrug zerbrochen worden wäre.

Wandan grinste. „Weiß Alasna, dass du hier oben bist?“

Laute Schritte auf der Treppe kamen Saton in seiner Antwort zuvor.

„Sie weiß es...“ seufzte er leise und schon stürmte eine junge Frau aus der Turmpforte, die auf die Terrasse führte.

„Hoher Shaj...“ stieß sie atemlos hervor. „Hoher Shaj, verzeiht, dass ich eure Ruhezeit störe, aber... eure Tochter...“

Erneut klirrten Tonscherben, diesmal aus dem Treppenhaus des Turms.

„Meine Tochter ist gerade ohne Aufsicht, wie mir scheint...“ fiel der Shaj Alasna ruhig ins Wort.

„Hoher Shaj, vergebt mir, wenn ich so offen spreche, aber das spielt wohl kaum eine Rolle. Auch meine Anwesenheit beeindruckt sie nicht und sie...“

„Sollte sie nicht um diese Zeit beim Abendessen sein?“

Die Wangen der jungen Frau färbten sich dunkelrot.

„Ja, Herr, das sollte sie, aber....“

„Und sollte sie nicht davor eine Reitstunde erhalten?“

„Ja, Herr, aber...“

„Also sage mir, Alasna, wie kommt es, dass du dich mit meiner Tochter in diesem Teil der Burg aufhältst, der sowohl vom Speisezimmer als auch von den Ställen recht weit entfernt ist und noch nicht einmal in der Nähe des Weges liegt, den ihr dazwischen überbrücken müsstet?“

Der Shaj sprach freundlich, aber mit Nachdruck und er konnte der Dienerin ansehen, dass sie sich eine patzige Antwort nur mit Mühe verbiss. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihm in dieser Hinsicht Widerworte gab, doch bislang hatte er sie immer in ihre Schranken weisen können.

„Also? Ich höre...“

„Es ist.... also... eure Tochter... Lenyca...“

„Lennys.“ berichtigte Wandan wie von selbst und Alasna sah ihn erstaunt an.

„Nun ja... also... Lennys... sie... sie hört nicht auf mich!“ Und dann sprudelten die Worte wie ein Sturzbach aus ihr hervor. „Sie will auf einem Mondpferd reiten und auf nichts anderem! Und wenn ich ihr sage, dass das nicht geht, dann tobt sie und weigert sich, auf ein anderes Tier zu steigen! Ich wollte sie zum Speiseraum bringen, aber sie läuft einfach weg und sieht den Cas beim Kämpfen zu! Ich weise sie zurecht, aber sie beachtet mich gar nicht! Und wenn ich sie an die Hand nehme, um sie mit mir mit zu ziehen, fängt sie an, um sich zu schlagen und...“

Wandan konnte sich nicht mehr beherrschen und verfiel in brüllendes Gelächter. Auch Saton glitt ein Schmunzeln über die Lippen, aber dann besann er sich und warf seinem Freund einen warnenden Blick zu.

„Ich verstehe.“ sagte er schlicht. „Du wirst mit ihr nicht fertig.“

„Hoher Shaj... es ist nicht so, dass ich mich nicht bemühe. Ich versuche, Geduld zu haben, ich versuche, sie zum Spielen zu überreden, ich...“

„Es ist gut, Alasna. Wie gesagt, ich habe dich verstanden. Du kannst jetzt gehen. Wir reden morgen darüber.“

Entgeistert starrte sie den Herrscher an.

„Aber...“

„Nichts aber. Morgen. Du musst dich heute nicht weiter um meine Tochter kümmern. Bleibe in der Burg, ich werde dich zu mir rufen lassen, sobald es meine Zeit erlaubt. Das wäre alles. Und wenn du hinunter gehst, schicke mir Lenyca nach oben.“

Nun wagte Alasna kein „Aber...“ mehr, zwang sich zu einer tiefen Verbeugung und verschwand wieder in den Turm.

„Sie hat es wirklich nicht leicht.“ versuchte Wandan, die Dienerin in Schutz zu nehmen.

Saton antwortete nicht darauf. Nur wenige Augenblicke später öffnete sich die Pforte erneut und ein schwarzhaariges Mädchen erschien auf der Terrasse. Ihre Augen funkelten und sie wirkte nicht im Mindesten eingeschüchtert. Schnurstracks marschierte sie auf ihren Vater zu, stemmte die Arme in die Hüften und sah den Shaj der Nacht verärgert an.

„Sie hat mich 'ungezogen' genannt!“ beschwerte sie sich.

Saton setzte sich wieder und betrachtete sie nachdenklich.

„Bist du denn ungezogen gewesen?“

„Sie darf mich nicht so nennen!“

„Warum hat sie es getan?“

„Ich habe nicht getan, was sie wollte!“ erwiderte Lenyca, ohne zu zögern.

„Und was wollte sie?“

„Sie wollte, dass ich auf diesem alten braunen Pferd sitze!“

„Ich dachte, du reitest gerne?“

„Ich will ein Mondpferd!“

„Nicht jeder darf ein Mondpferd reiten, Lenyca. Sie sind den höchsten Kriegern vorbehalten.“ erklärte Saton geduldig.

„Ich bin deine Tochter! Ich will ein Mondpferd!“

„Mondpferde sind stark und sehr schnell. Du musst mehr üben, wenn du ein so schwieriges Tier beherrschen willst.“

„Ich will es aber! Ich kann das! Alle sagen es! Ich muss nicht mehr üben! Ich reite auf einem Mondpferd oder gar nicht mehr!“

Fast erwartete Saton, das Mädchen würde wütend mit den Füßen aufstampfen, aber sie rührte sich nicht von der Stelle, und verlieh ihrer Forderung allein durch ihren zornigen Blick noch mehr Ausdruck.

„So so. Und wenn ich dir sage, dass du dafür noch zu jung bist?“

„Ich will es aber! Ich bin nicht zu jung!“

„Du bist sechs Jahre alt. Der jüngste Reiter eines Mondpferdes ist fast dreimal so alt wie du.“

„Dann ist er eben dreimal so schlecht!“

„Er ist einer der besten Reiter in diesem Lande.“

„Aber ich bin eine Ac-Sarr!“

Wandan konnte nicht anders als Lennys mit offenem Mund anzustarren. Er kannte sie seit ihrer Geburt, aber seit einiger Zeit überraschte sie ihn immer wieder aufs Neue.

„Ja, das bist du.“ sagte Saton ungerührt. Er sah kurz zu Wandan hinüber, als er erwarte er einen Rat, doch der Cas verfolgte die Szene weiterhin sprachlos.

„Lenyca, ich kann dir kein eigenes Mondpferd geben. Aber wenn es dir so wichtig ist, dann werde ich dir erlauben, meine eigene Stute zu reiten. Allerdings nur, wenn ich dabei bin. Du wirst also warten müssen, bis ich genug Zeit habe.“

Das Mädchen schnaubte abfällig.

„Dann warte ich eben. Ich will kein anderes Pferd!“

„Gut, dann wäre das also geklärt. Und jetzt wirst du mir verraten, warum du nicht mit Alasna zum Speisesaal gehen wolltest.“

Die Antwort kam prompt.

„Sie hat mir gar nichts zu sagen! Sie ist nur eine Dienerin!“

„Das war keine Anweisung von ihr.“ berichtigte Saton ruhig. „Es ist keine drei Tage her, dass ich dir gesagt habe, dass ich wünsche, dass du pünktlich zu deinen Stunden und zu den Mahlzeiten erscheinst.“

„Ich will aber nicht zu diesem blöden Abendessen! Ich hab keinen Hunger! Der Stallmeister hat mir etwas zu essen gegeben!“

„Manchmal muss man sich an Regeln halten, auch wenn man das nicht so schön findet.“

„Warum denn? Du hast doch selber gesagt, dass du diese Sachen nicht magst! Diese Regeln! Und dass mich keiner hier zu etwas zwingen kann! Und ich will nicht, dass Alasna mir sagt, was ich tun soll! Wenn ich nicht will, dann gehe ich auch nicht!“

„Ich habe dir aber auch gesagt, dass du mich verärgerst, wenn du dich Alasna ständig widersetzt. Und auch, dass ich von dir erwarte, dass du dich an unsere Abmachungen hältst. Die Mahlzeiten und Unterrichtsstunden gehören zu diesen Abmachungen. Und Alasna hat von mir die Anweisung erhalten, dafür zu sorgen, dass du pünktlich bist.“

„Sie ist eine blöde Ziege!“ entgegnete Lennys und fügte dann noch trotzig hinzu: „Sie hat mir nichts zu befehlen!“

Der Drang, über den Auftritt seiner Tochter zu lachen, schwand allmählich aus Satons Gemüt. Er dachte kurz nach, doch bevor Lennys ihrem Unmut weiter Luft machen konnte, traf er eine Entscheidung.

„Ich werde jetzt einen Diener rufen, der dich in dein Zimmer bringt. Und du wirst mit ihm gehen, ohne Widerrede. Du hast schon gegessen, also spricht nichts dagegen, dass du dich gleich schlafen legst. Ich erwarte dich morgen zum Frühstück. Pünktlich. Haben wir uns verstanden?“

Lennys zuckte die Achseln.

„Meinetwegen.“

„Wandan, würdest du sie bitte hinunter zu Jakven bringen? Er soll sich bis morgen früh um sie kümmern.“

Sofort stand der Cas auf.

„Natürlich.“

Er wollte Lennys an die Hand nehmen, doch das Mädchen stolzierte bereits recht selbstbewusst auf die Turmpforte zu.

Die Ratssitzung dauerte länger als erwartet und obwohl sie zermürbend gewesen war, fühlte sich Saton zufrieden. Die Berichte der Handwerker und Priester waren vielversprechend und er hatte das Gefühl, in einigen wichtigen Fragen gute Fortschritte erzielt zu haben. Trotzdem wollte ein schaler Beigeschmack nicht weichen und erst als er Wandan an der Treppe zu seinen Privatgemächern warten sah, keimte eine stille Ahnung über den Ursprung dieses Gefühls in ihm auf.

„In der Burg ist es ruhig?“ fragte der Shaj wie beiläufig.

„Alles in bester Ordnung.“ bestätigte der Cas. Hinter ihm wachten Cala und Faragyl an den Treppenaufgängen. Wandan war also nicht hier, weil sein Dienst es verlangte.

„Du bist sicher müde.“ fuhr der Krieger fort. „Aber wenn du es erlaubst, würde ich gerne kurz sprechen.“

Saton nickte ergeben. Er hatte schon länger damit gerechnet, dass sein Freund sich auch als ein solcher erweisen würde und mit seiner ehrlichen Meinung nicht allzu lange hinter dem Berg hielt. Kurz war er versucht gewesen, die Unterredung auf den nächsten Tag zu verschieben, aber dann hatte er sich eines Besseren besonnen. Er hatte schon zu viele Dinge zu lange aufgeschoben.

In seinem Arbeitszimmer war Saton stets ungestört. Nur sein Hauptkämmerer, der oberste Cas und seine eigene Tochter hatten zu den Räumlichkeiten dieses Flügels Zugang und da der Kämmerer und Lennys längst schliefen, konnte er sich sicher sein, dass er und Wandan von niemandem unterbrochen oder gar belauscht wurden.

Obwohl er ziemlich genau zu wissen glaubte, was der Anlass des Gespräches war, tat der Shaj zunächst ahnungslos.

„Also, worum geht es?“

Wandan fackelte nicht lange.

„Lennys.“

„Ahh...“ Saton gab auf. „Ich dachte mir so etwas. Nun gut. Was möchtest du mir sagen?“

„Ehrlich gesagt, weiß ich nicht so recht, wo ich anfangen soll.“

„Wie wäre es mit 'Ich will ein Mondpferd'?“ schlug Saton vor.

„Ich könnte auch einen Schritt weitergehen.“ Wandan stand auf, stemmte die Hände genauso in die Hüften, wie er es einige Stunden zuvor bei dem kleinen Mädchen gesehen hatte und ahmte ihren recht überzeugten Tonfall sehr treffend nach: „'Ich bin eine Ac-Sarr'!“

„Sie ist eine.“

„Und sie weiß es.“ gab der Cas zurück. „Das ist das eigentliche Problem.“

„Willst du mir vorwerfen, dass meine eigene Tochter ihre Abstammung kennt?“

„Ich will dir überhaupt nichts vorwerfen. Und das würde ich auch nie. Du bist mein Herr, auch wenn ich noch so offen zu dir sprechen darf. Aber ich fürchte, das, was ich sagen möchte, wirst du nicht hören wollen.“

„Du denkst, ich verziehe sie.“

„Nein. Das würde ich so nicht sagen. Du bemühst dich sehr um sie. Aber sie bekommt zu oft ihren Willen. So wie die Sache mit dem Mondpferd. Sie will etwas. Und sie bekommt es. Entweder sofort oder spätestens nach einem Wutanfall. Sie ist gerade erst sechs Jahre alt, aber sie hat schon eines gelernt: Dass es für sie keine Grenzen gibt.“

„Was die Sache mit dem Pferd angeht, gebe ich dir zum Teil recht. Aber eben nur zum Teil. Auch wenn sie erst sechs ist, bedeutet das nicht automatisch, dass sie im Unrecht ist. Sie ist eine Ac-Sarr. Und sie hat das Recht auf ein Mondpferd. Mehr als jeder andere in diesem Land.“

„Saton, sie ist ein Kind! Der einzige Mensch, dem sie sich vielleicht ein klein wenig fügt, bist du. Aber nur weil sie weiß, dass alle Sichelländer tun, was du willst. Sie sieht dich mehr als ihren Herrscher als ihren Vater. Und sie hat keinerlei Respekt. Weder vor den Cas, noch vor ihrem Kindermädchen, noch vor sonst irgendwem.“

„Und du denkst, dass ich das zu verantworten habe.“

„Mit Verlaub, mein Freund, aber du hast ihr stets vor Augen gehalten, wie sehr du sie vergötterst. Und dass alle anderen das auch tun sollten. Sie weiß, dass du ein Herrscher dieses Landes bist und sie weiß, dass sie deine Tochter ist. Für Lennys ist es selbstverständlich, dass sie sich niemandem beugen muss und dass der einzige Mensch, der ihr etwas zu sagen hat, ihrem Willen nachgibt.“

Ärgerlich verschränkte Saton die Arme.

„Du redest, als wäre sie eine Tyrannin.“

Wandan verdrehte die Augen.

„Um Himmels Willen, nein. Aber sie hat nicht nur einen sehr starken Charakter, sondern auch ein ausgesprochen ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Ich wiederhole mich nur ungern, aber sie ist ein Kind! Ein Kind, dass deine gesamte Dienerschaft und den ganzen Hausstand Vas-Zaracs fest im Griff hat. Und dich auch! Siehst du das denn nicht? Sie bekommt alles, was sie will. Von dir und von jedem anderen.“

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