Kitabı oku: «RAF oder Hollywood», sayfa 3
September
Direkt nach meinem zehnten Geburtstag konnte ich endlich raus aus dieser furchtbaren Volksschule. Meine Mutter schickte mich aufs Königlich Bayrische Humanistische Maximiliansgymnasium38. Es wirkte allerdings nicht weniger bedrohlich – nur vornehmer. Auf den Kapitellen der dorischen Säulen, die die mächtigen, intarsienverzierten Flügel des Portals aus dunklem Holz säumten, thronten Löwen und sahen hochmütig auf uns Kleine hinab, die die ehrfurchtgebietenden breiten und nach oben zulaufenden Stufen hinaufsteigen mussten. Im dunklen Eingang begrüßte ebenfalls auf einer Säule die Büste Max Plancks39 die Eleven, und zu den ersten Informationen über diese Eliteschule gehörte, dass der Verteidigungsminister Franz Josef Strauß40 hier sein Abitur allein deshalb mit nur 1,2 gemacht hatte, weil er in Turnen eine Vier bekommen hatte. Die Zeitungen waren voll davon, dass die Flugzeuge, die er als Verteidigungsminister für die Bundeswehr gekauft hatte, abgestürzt waren.41 Heiner Guter lachte spöttisch darüber: »Das ist ein alter Drecksack! Werd bloß nicht so wie der!« Ich wollte sowieso lieber Papst werden, und hier am Gymnasium konnte man Latein lernen.
Der Direktor war ein freundlicher älterer Herr. Jedes Kind, das neu in seine Schule kam, begrüßte er persönlich in seinem Büro. Die Eltern wurden hinausgeschickt.
Hinter seinem schwarzen, fast leeren Schreibtisch sitzend, bat er mich, davor Platz nehmen. »Ich freue mich, dass du auf unsere Schule gehen willst!«, sagte er, nachdem ich mich vorgestellt hatte. »Du solltest deinen Eltern dankbar sein, dass sie diese Entscheidung getroffen haben.« Das Maxgymnasium sei eine ganz besondere Schule mit Tradition, erklärte er, ich könne stolz sein, hier auf das Leben vorbereitet zu werden.
»Ihr werdet später die Geschicke dieses unseres Landes leiten«, sprach er zu mir, milde lächelnd, fast liebevoll, »das ist eine große Verantwortung!«
In der Klasse gab es einen Jungen, der beim Turnen blitzschnell auf alle Geräte klettern konnte. Schwupp – schon saß er oben auf dem Reck oder der großen Leiter. »Guckt mal!«, sagte ein anderer Junge und zeigte auf ihn, »das ist Fips, der Affe!« Alle lachten, aber der so Angesprochene war nicht beleidigt. Im Gegenteil: Er nannte sich von nun an selbst Fips42.
Der blaue Schal, den er immer trug, stammte von den »jungen Pionieren«43 aus der DDR. Seine Eltern hatten kurz vor dem Mauerbau »rübergemacht«, wie man es bezeichnete, wenn Leute aus dem Osten in den Westen flohen. Sein Vater war Zahnarzt und hatte in der DDR eine privilegierte Stellung, weswegen Fips dort viele Vorteile hatte, von denen andere Kinder nur träumen konnten. Deswegen war er stinksauer auf seine Eltern, dass sie ihn gezwungen hatten, dieses schöne Leben zu verlassen. Plötzlich musste er in hässlichen Auffanglagern mit ganz vielen Leuten auf ungemütlichen Feldbetten schlafen, bekam nicht mehr so gutes Essen wie in der DDR und musste im Radio Beschimpfungen der DDR anhören.
»Adenauer ist ein Verbrecher«, erklärte er, als wir in der Pause auf dem Schulhof zusammen liefen; wir waren schnell Freunde geworden. »Der Sozialismus ist viel besser als der Kapitalismus«, lernte ich von ihm. Und dass hier bei uns nicht alles mit rechten Dingen zuging, vor allem, dass die Nazis überall noch ihre Finger drin hatten, wusste ich ja schon von meinen Alten, also waren wir uns völlig einig – auch gegen alle anderen Klassenkameraden, die von diesen Dingen keine Ahnung hatten.
1962
Endlich war das neue Haus in Englschalking fertig. Es war exakt auf die Bedürfnisse der neuen Familie zugeschnitten: im Parterre über die ganze Länge des Hauses ein großes Wohnzimmer mit einer fast völlig verglasten Fensterfront zum Garten, dahinter das Elternzimmer mit eigener Küche und Bad; oben die zellenartig nebeneinanderliegenden Kinderzimmer, die große Küche mit Essbereich und das Kinderbad. Im rundum ummauerten Garten gab es ein richtiges Schwimmbad, einen »Swimmingpool«, dessen Boden so steil abfiel, das am Ende sogar die Erwachsenen nicht mehr stehen konnten; im Keller gab es eine Sauna, in deren Vorraum nicht nur eine Dusche, sondern auch ein gekacheltes Becken eingebaut war, in dem man in eiskaltes Wasser tauchen konnte.
Unseres gehörte zu den ersten drei Häusern, die hier errichtet worden waren; Heiner lästerte gewaltig über den Bauern, der im Handumdrehen zum Millionär geworden war, nachdem seine Felder von der Stadt als Bauland freigegeben worden waren. Auf der anderen Straßenseite standen Behelfsbaracken, in denen DDR- und andere Flüchtlinge aus dem Osten wohnten. Sie warfen Steine auf uns, in den Garten und zersplitterten einmal sogar eine Fensterscheibe, weil sie nun umgesiedelt wurden, damit andere Münchner Bonzen ihre Villen dort hinpflanzen konnten. Da Fips44 inzwischen mein bester Freund war und mir viel von der schlimmen Zeit nach der Flucht erzählt hatte, wusste ich, wie schwer sie es hatten und dass sie bestimmt auch nett waren – aber alle Annäherungsversuche stießen nur auf Wut und Ablehnung, und ich schämte mich für unseren Reichtum. Bald waren sie verschwunden.
Nun musste ich nicht mehr von Obermenzing aus mit Bussen und Bahnen durch die ganze Stadt ins Maxgymnasium fahren, sondern hatte nur acht Kilometer mit dem Fahrrad zurückzulegen, da ich die neu erbaute John-F.-Kennedy-Brücke über die Isar als Abkürzung direkt nach Schwabing zur »Münchner Freiheit« nehmen konnte. Außerdem konnten mich meine Freundinnen und Freunde besser besuchen, da sich ganz in der Nähe eine S-Bahn-Station befand. Das Beste war, dass mit dem Einzug ins neue Haus meine Schwester aus dem Internat zurückkam. Sie hatte mir sehr gefehlt, und nun war die Welt wieder in Ordnung.
Die Alten ließen sich nicht lumpen und veranstalteten ein rauschendes Fest zur Einweihung. Unzählige Gäste erschienen, die ich fast alle kannte, manche schon ganz lange, wie das Schauspielerpärchen Möbius45 und Böhlke46, die mein Vater noch in den fünfziger Jahren, als sie zusammen aus der DDR geflüchtet waren, engagiert und denen er eine Wohnung besorgt hatte, obwohl Homosexualität damals nicht nur verpönt, sondern auch verboten war, und die meiner Mutter immer die Treue gehalten hatten. Andere kannte ich durch Heiner, wie seine beiden Freunde aus der »Weiße-Rose«-Zeit Franz Müller47 und Hans Hirzel48, die mir viel mehr als Heiner selbst über die Weiße Rose erzählt hatten; Fernsehkollegen meiner Mutter, Architekturkollegen von Heiner, Schauspieler, Schriftsteller, Maler. In der Doppelgarage stand das Buffet, aber es wurde auch während der Party von einzelnen Gästen gekocht, meist improvisierte Fantasiegerichte, die aus Ingredienzien zusammengestellt wurden, die andere mitgebracht hatten, wobei immer eine Gruppe um den oder die Kochende herumstand, jeden Handgriff mit »Hallo!« und »Prost!« kommentierte und das Ergebnis vom Kochtopf weg direkt lautstark vor Wonne grunzend und brummend verspiesen wurde. Aus der weißen Stereoanlage der Alten, die »Schneewittchen« hieß, tönten Jazzmusik, Schlager aus den zwanziger Jahren und Musicals wie »My fair Lady«, und je später die Stunde, desto weniger bekleidet waren vor allem die weiblichen Gäste, die ihren alkoholisierten Zustand durch Sprünge in den Pool abkühlten.
Heiner hatte wasserfeste Farben vorbereitet und nach Mitternacht, als die Stimmung sich dem Höhepunkt näherte, zogen die Maler und Grafiker unter den Gästen in den Keller und bemalten die weißen Kacheln des Sauna-Vorraums. Ein farbenprächtiges und so stilvolles wie stilreiches Gesamtkunstwerk entstand. Es wurde gekrönt von Magnus49, der von unten bis oben durch den ganzen Raum eine lange, kurvenreiche Reihe Pünktchen setzte und am Schluss ganz oben eine Fliege zeichnete.
Rainer Zimnik50, dessen Bücher ich als Kind und sogar als Jugendlicher gerne gelesen hatte, schrieb an den oberen Rand des Wasserbeckens unübersehbar aus allen Perspektiven: »Lieber einen Busen in der Hand als eine Taube auf dem Dach.«
Eines Tages kam ein Neuer in die Klasse. Er hatte weit auseinanderstehende Vorderzähne, lächelte freundlich spöttisch und trug eine rote Jacke. Sein Name war Eberhard, aber er nannte sich Ebby.
Man konnte ihm gleich ansehen, dass er sich nichts sagen ließ. »Diesen ganzen Quatsch« mit Latein und Griechisch fand er überflüssig, fand es aber genauso überflüssig, deswegen »einen Aufstand zu machen«. Er konnte mit Hingabe beobachten, wie eine Ameise sich mit einem für ihre Verhältnisse riesigen Zuckerkristall abmühte, und ergötzte sich bis zur Selbstvergessenheit – genüsslich seine auseinanderstehenden Vorderzähne entblößend – an diesem Spektakel.
Nach dem Tod seines Vaters war seine Mutter von Bad Nauheim nach München umgezogen, weil sie dort einen Job als Buchhalterin in der Zuckerfabrik »Diamant« bekommen hatte; deshalb gab es bei ihm zuhause immer alle Sorten von Zucker. Luise Jost war eine energische Frau, aber Ebby hatte das geerbt, und so hatten die beiden immer Zoff miteinander. Er fand es meist »ziemlich daneben«, was seine Mutter von sich gab, aber es war ihm häufig »zu anstrengend« sich »deswegen groß zu streiten«.
Wir waren fast immer gegenteiliger Ansicht und wurden umso bessere Freunde; Fips, der wiederum unser beider Ansichten »völlig lächerlich« fand, war der Dritte im Bunde. Während Ebby und ich beim 430-Meter-Langlauf um das Maxgymnasium immer die Schnellsten waren – er stets eine Sekunde schneller als ich – und damit den Weitblick hatten, war Fips am schnellsten ganz oben und hatte den Überblick. Nur in einem waren wir uns immer einig – nämlich, wie komisch alles war: unsere Klassenlehrerin, Frau Weinzierl – allein schon der Name –, die uns Latein beibrachte, einfach nicht ernst zu nehmen, der lächerliche Dialekt der Bayern, den der Sachse Fips breitgezogen nachmachte, ihre seltsame Tracht, das Oktoberfest, das Demokratiegetue unseres humanistischen Gymnasiums und der Politiker, die Wichtigtuerei der eingebildeten Künstler, die blöden Autofahrer, die sich ganz toll fanden, bloß, weil sie ein Auto hatten, die Frauen, die sich ganz schick anzogen und dafür auch noch viel Geld ausgaben – wie konnte man nur so bekloppt sein –, manchmal nur die Gangart der Leute: alles und alle zum Totlachen! Ebby51 entblößte seine auseinanderstehenden Schneidezähne, Fips kicherte Fingernägel knabbernd in sich hinein und ich bekam Hustenanfälle.
Einer der ältesten Freunde meiner Mutter, der oft an Wochenenden kam, um lange Gespräche zu führen, war Tobias Brocher52, der genauso aussah wie der Minister Walter Scheel53, weswegen ich immer lachen musste, wenn ich ihn sah. Ich kannte ihn schon aus Ulm, wo er oft mit meinem Vater und Inge und Otl Aicher-Scholl zusammen gewesen war. Ich mochte ihn sehr; er lächelte immer freundlich und konnte so gut zuhören. Mit seiner Tochter hatte ich schon im Sandkasten gespielt – er verkörperte eine Erinnerung an meinen Vater und die Zeit in Ulm, als die Welt noch in Ordnung gewesen war. Deshalb freute ich mich immer riesig, wenn er kam.
Schon als Kind war ich immer sehr unruhig gewesen und wälzte mich ewig lange im Bett herum, bis ich einschlafen konnte. Je älter ich wurde, desto schlimmer wurde das. Keiner konnte mir helfen. Weil ich so großes Vertrauen zu ihm hatte, fragte ich ihn eines sonnigen Tages im Garten nach dem Kaffetrinken, als meine Mutter gerade das Geschirr wegräumte, ob er mir nicht einen Tipp geben könne.
Er dachte nicht lange nach, lächelte mich auf seine einnehmende, fröhlich machende Art an, beugte sich auf seinem Stuhl vor, verschränkte seine Hände und stützte seine Arme auf den Knien auf. »Das ist ganz einfach«, erklärte er, »konzentriere dich auf deine Füße, wenn du unruhig bist und bewege sie abwechselnd hin und her – guck: so!« Dann führte er mit seinem Blick den meinen auf seine Füße und zog ganz langsam erst den rechten Fuß hoch, drückte ihn genauso langsam wieder nieder, dann machte er dasselbe mit dem linken. »Du musst dich ganz stark darauf konzentrieren!«, betonte er, »das ist das Wichtigste, an nichts anderes denken als an das und es mit großer Sorgfalt tun!« Er lehnte sich zurück, verschränkte seine Hände hinter dem Kopf und zwinkerte mir mit warmer Milde zu: »Du wirst sehen, das klappt!«54
Heiner kam aus dem Wohnzimmer zurück in den Garten.
»Jetzt wollen sie einen Psychologen einsetzen, kam eben in den Nachrichten«, sagte er spöttisch; er machte nie einen Hehl daraus, dass er von Psychologie »und dem ganzen Kappes« nichts hielt. »Was meint denn der Herr Psychiater dazu?«, fragte er Tobias Brocher, der sich aber von Heiners zynischem Ton nicht aus der Ruhe bringen ließ.55
Es ging um die Unruhen, die seit einiger Zeit in Schwabing ausgebrochen waren.56 So etwas hatte es noch nie gegeben. In der Schule mussten wir uns anhören, dass man »so etwas nicht dulden« könne, »dieses Gesocks eingesperrt« gehöre und wir von der Schule fliegen würden, wenn wir so etwas auch täten. Das alles erhöhte natürlich nur unsere – also Fipsens, Ebbys und meine – Sympathien mit den Rebellen und unsere Abneigung gegen die Polizei. Ebby, der in Schwabing wohnte, hatte vor allem »das nervige Tatütata der Bullen« mitbekommen und achselzuckend den Kopf geschüttelt: »Was wollen die eigentlich, die spinnen doch alle, wegen ein bisschen Musik so einen Aufstand zu machen!« Doch wir bedauerten es sehr, da nicht mitmischen zu können – mit unseren Eltern war nicht zu reden.
Tobias Brocher dachte nach. »Ich denke«, sagte er schließlich, »es handelt sich dabei eher um ein politisches Problem als um ein psychologisches.«
Heiner war erstaunt.
»Was haben Krawallheinis mit Politik zu tun?«, fragte er.
Meine Mutter kam aus der Küche zurück und guckte besorgt; Heiner provozierte gerne und sie wollte sich die gute Stimmung nicht verderben lassen.
»Politische Fehlentwicklungen«, antwortete Brocher milde, »können auch in unbewusst herausbrechenden Formen ihren Ausdruck finden; oft sagen diese spontanen Eruptionen mehr aus als bewusst gezielte, gar kalkulierte.«
Heiner verzog das Gesicht. »Ich fürchte, damit wird diesen Saufkumpanen zu viel der Ehre angetan!«
Brocher lächelte. »Wenn man diese unbewussten, also verdrängten Probleme, die dadurch sichtbar werden, nicht ernst nimmt und nicht auf sie eingeht, werden sie sich am Ende in noch heftigeren Ausdrucksformen Bahn brechen.«
»Ja, aber dann«, warf meine Mutter ein, »ist es ja doch eine richtige Entscheidung einen Psycholgen hinzuzuziehen?«
»Im Prinzip ja«, sagte Brocher, »ich fürchte nur, dass in diesem Fall die Psychologie dazu benutzt wird, die politischen oder besser gesagt sozial-gesellschaftlichen Probleme zu verdrängen.«
»Und die wären?«, fragte Heiner.
»Darüber reden wir doch, seit die Bundesrepublik existiert«, antwortete Brocher, »der verstaubte Adenauer-Staat, die verdrängte Nazi-Zeit, die überholt autoritären Strukturen – dagegen wehren sich diese jungen Leute unbewusst57, indem sie einfach Gitarre spielen und das Leben genießen wollen.«
»Ich finde auch, dass man sich nicht alles gefallen lassen darf«, mischte ich mich ein. »Ihr schimpft doch selber immer auf die alten Nazis!«
»Ja, aber so kann man daran nichts ändern«, meckerte Heiner schroff. »Das gibt den alten Säcken eher Argumente, noch härter drauf zu hauen.«
Tobias Brocher wiegte sein graugelocktes Haupt. »Sicher nicht ändern, das stimmt, aber das Problem kenntlich machen – ich kann davor warnen, das nicht ernst zu nehmen.«
»Mach doch mal die Fontäne am Schwimmbad an«, forderte meine Mutter Heiner auf und wandte sich an Tobias Brocher: »Womit kann ich dir denn noch dienen?«
22. Oktober
Meine Tante Gaby aus England rief in aller Frühe an. Wir waren alle noch ganz verschlafen, torkelten ins Bad und aufs Klo. Ich hörte, wie meine Mutter immer wieder sagte: »Das ist ja fürchterlich«, »um Gottes willen«, »das kann doch alles nicht wahr sein«.
»Kinder«, sagte sie, nachdem das Telefonat zu Ende war, »vielleicht gibt es Krieg.« Wir waren erschrocken, konnten es uns aber nicht vorstellen. »Die Russen bedrohen die Amerikaner mit Raketen«, sagte sie, bleich im Gesicht, und Heiner sagte nichts, lästerte nicht, also war es ernst. Es war aber mehr spannend als angsterregend.
»Wir müssen jetzt erstmal warten, wie es weitergeht«, sagte meine Mutter, »wenn es schlimmer wird, schicke ich euch zu Gaby.«
Die ganzen nächsten Tage ging es um nichts anderes als die »Kubakrise«58. Alle bibberten mit John F. Kennedy59, in den Sabine verliebt war. Ich wusste nicht, was ich wollen sollte, denn ich war wahnsinnig gern bei Gaby und ihrem Mann Martin in Harwarton, dem englischen Landsitz mit dem parkartigen Garten und den vielen Kindern mit meiner Lieblingscousine Kitty; außerdem müsste ich dann nicht in die Schule – aber Krieg wollte ich auch nicht.
1963
Alle drei Jahre machte Onkel Helmut seine Weltrundreise. Sein letzter Besuch schien mir eine Ewigkeit her. Er begutachtete das neue Haus, war sehr zufrieden und lobte Heiner.
Er hatte mir eine Uhr60 mitgebracht, auf der man, durch Drehen eines gezackten Ringes, der sie umschloss, anzeigen konnte, wieviel Uhr es woanders auf der Welt war. Es war Mittagszeit, wir saßen am oberen Esstisch, während hinter der Durchreiche zu sehen und zu hören war, wie Heiner kochte. Onkel Helmut erklärte mir, wie die Uhr funktionierte: »In Australien ist es jetzt Mitternacht«, sagte er, nachdem er den Ring verstellt hatte, »hier ist Frühling, dort ist Herbst.«
Während ich begeistert an dem Ring herumdrehte, lehnte er sich zurück und setzte hinzu: »Und so wie überall eine andere Zeit herrscht, herrschen auch überall andere Verhältnisse!« Ich sah zu ihm hoch. »Diese Uhr soll dich daran erinnern, dass du in ganz wunderbaren Umständen lebst.« Ich fand es zwar grauenhaft, wie die Alten sich immer stritten, mich nervten meine Stiefschwestern und ich fand es überflüssig, wenn meine Mutter beim Essen immer betonte, wie billig sie es eingekauft hatte, aber wenn Onkel Helmut das sagte, musste etwas dran sein.
»Ich komme viel in der Welt herum«, fuhr Onkel Helmut fort, »das weißt du, und ich sehe viel Elend auf der Welt.« Er beugte sich vor, suchte meinen Blick und sagte eindringlich: »Es gibt unendlich viele arme Menschen auf der Welt, die Hunger haben – du ahnst gar nicht, in was für einem Reichtum du lebst.« Ich kannte das schon seit Kindheitstagen, wenn ich mit der Begründung aufessen sollte, dass in China Kinder hungerten – als ob sie davon satt würden, wenn ich mehr aß, als ich Hunger hatte – aber so, wie Onkel Helmut das sagte, klang das anders. Irgendwie war er traurig, diese Menschen taten ihm leid – und dann taten sie mir auch leid, denn ich mochte ihn sehr gern und ich wusste, dass er recht hatte. »Wir sollten immer versuchen, von unserem Reichtum etwas abzugeben«, sagte er, während Heiner eine dampfende Schüssel in die Durchreiche schob und uns aufforderte, sie auf den Tisch zu stellen. »Wenn wir immer bereit sind, zu teilen, wird es vielleicht mal besser in der Welt.«
Nachmittags besuchte uns eine Frau mit ihrem Freund und ihren beiden Kindern, die ich vorher noch nie gesehen hatte. Unsere Alten hatten sie auf einer Veranstaltung zum Gedenken an die Weiße Rose kennen gelernt, sie war die Tochter eines Mitglieds61 der Widerstandsgruppe »20. Juli«62. Dort hatte sie sich mit meiner Mutter angefreundet, die sie so herzlich einlud, dass sie am Wochenende darauf schon kam. Sie hieß Katharina Heinemann, war sehr witzig und lachte selbst auch gerne. Vor allem aber gab sie Heiner mit seiner ständigen Meckerei und seinen zynischen Bemerkungen derart contra, dass er manchmal nicht mehr wusste, was er sagen sollte; Sabine und ich freuten uns diebisch darüber.
Ihre Tochter war das schönste Mädchen, das ich je gesehen hatte, und ich verliebte mich sofort unsterblich in sie. Ihr Name war Julia, sie war sehr zurückhaltend und wenn ich mit ihr sprach, dachte sie immer lange nach, bevor sie antwortete. Es war sehr schwer, ihr zu imponieren, sie ließ nichts gelten, was ich sagte, relativierte alles oder hatte Einwände. Ihr Bruder David war so alt wie meine Stiefschwestern und wir spielten Verstecken, die Älteren gegen die Jüngeren; so kam es, dass Julia und ich ganz bald im hintersten Winkel des Heizungskellers unauffindbar verschwanden.
Als wir verschwitzt und durstig wieder in den Garten hochkamen, fanden wir Julias Mutter im intensiven Gespräch mit Onkel Helmut. Sie konnte gerade nicht aufhören zu lachen, so wurden wir neugierig und setzten uns dazu. »Ja ja«, sagte Onkel Helmut und nickte nachdenklich lächelnd. »Aber es kommt noch verrückter«, fuhr er fort und Katharina sah ihn gespannt an, »in den ersten sechs Monaten war ich im Auffanglager für Einwanderer in einer speziellen Abteilung für deutsche jüdische Flüchtlinge. Wir wurden besonders genau kontrolliert, ob wir wirklich Juden waren und nicht Spione.«
Katharina lachte und schüttelte den Kopf: »Dabei waren die Nazis viel zu primitiv und verbohrt, um einen Spion als Juden auszugeben, das wäre gegen ihre rassische Arroganz gegangen!«
Nun lachte Onkel Helmut und nickte. »Aber in Sachen ›rassische Arroganz‹ kommt es noch viel besser«, versetzte er. »Als es im ganzen Lager Aufrufe gab, Blut für die australischen Soldaten zu spenden, die im Krieg gegen Deutschland verletzt worden waren, meldete ich mich natürlich sofort.« Schon wieder hielt er inne und nickte. »Aber als ich bei Aufnahme der Personalien angab, aus Deutschland geflohen zu sein, unterbrach der Wachsoldat seine Notizen. ›Sind Sie also Deutscher?‹, fragte er. ›Ich bin deutscher Jude‹, antwortete ich, ›deshalb musste ich ja fliehen.‹ Der Wachsoldat kratzte sich am Kopf und dachte angestrengt nach. ›Hm‹, machte er, ›ich weiß nicht, ob das geht.‹ ›Was geht?‹, fragte ich. ›Dass Sie Blut spenden!‹, antwortete er. ›Warum denn nicht?‹, fragte ich. Er druckste herum. Schließlich sagte er gequält: ›Ja, weil Sie als Deutscher deutsches Blut in Ihren Adern haben – das können wir doch unseren Soldaten nicht zumuten!‹«
Katharina63 Heinemann lachte schallend und schlug sich auf die Schenkel. Julia und ich sahen uns befremdet an – die hatten doch alle miteinander nicht mehr alle Tassen im Schrank.
»Ich musste eine halbe Stunde warten«, beendete Onkel Helmut seine Geschichte, »weil der Wachsoldat erst seine Vorgesetzten fragen wollte – und dann bekam ich von höchster Stelle den Bescheid, dass es undenkbar sei, mein deutsch-verseuchtes Blut64 australischen Soldaten zu geben.«
Jetzt lachten sie beide nicht mehr, sondern sahen schweigend nachdenklich vor sich hin.
Julia65 und ich zogen es vor, wieder wegzugehen und ich fragte sie, ob sie nicht mit mir in mein Zimmer kommen wolle.
Unter dem Eindruck des eben Gehörten wollte freilich keine rechte Stimmung aufkommen.
»Meine Großmutter66«, setzte Julia schließlich an, »erzählt auch manchmal von der Nazizeit.«
»Heiner nie«, sagte ich. »Ich kenn das nur von meinen Verwandten aus England, der Schwester von Onkel Helmut und von ihm natürlich. Die Bücher von Onkel Otto haben sie verbrannt. Und Tante Yella hat mal erzählt, dass die SA bei einer Hausdurchsuchung die Lederrücken von ihren Lexikonbänden mit scharfen Messern aufgeschlitzt haben, das waren ganz teure Bücher, mit Goldschnitt!«
»Bei meinen Großeltern haben sie mal eine Hausdurchsuchung gemacht«, erzählte Julia, »bloß, weil mein Großvater SPD-Abgeordneter gewesen war. Dabei hätten sie das gar nicht machen dürfen, weil Abgeordnete eigentlich immun sind! Und dabei haben sie meiner Großmutter in den Bauch getreten, obwohl sie mit meiner Mutter schwanger war.«
»Boah!«, machte ich.
»Deswegen hat meine Mutter diese Wunde mit dem Knubbel am Auge«, erklärte Julia, »auf dem Auge kann sie auch nicht gut sehen!«
»Wahnsinn!«, sagte ich und es schauderte mich. »Da kann man heute noch sehen, was die damals alles Schlimmes gemacht haben.«
Am nächsten Sonntag ging ich wie immer in die Kirche. Ich war Messdiener, eine Aufgabe, die ich gerne und mit Gewissenhaftigkeit erfüllte. Ich fühlte mich geborgen in den heiligen Hallen, roch gerne den Weihrauch und liebte diese stille, von allem Weltlichen losgelöste Atmosphäre. Es war wie ein Rausch, manchmal ging ich extra in die Kirche in Englschalking, nur um ungestört nachdenken und alles um mich herum zu vergessen zu können.
Ich betete oft – das Gerede der Gleichaltrigen, die glaubten »weiter« zu sein, das »nicht mehr nötig« zu haben, ließ mich kalt, zumal Fips und Ebby die Einzigen waren, die nicht deswegen über mich lästerten.
Gott war das Beste, das es gab, und er wollte nichts als das Beste für alle Menschen67 – dass es auf der Welt anders aussah, lag allein an den Menschen, die nicht an ihn glaubten. Er war nur lieb zu allen – das, konnte ich mich sogar noch erinnern, habe ich von meinem Papi gelernt.
Gott war eine unumstößliche Tatsache, er stand einfach nur für das Gute – so hatte ich das von meinem Vater übernommen.
Als ich Weihrauch schwenkend68 hinter dem Pfarrer in das Kirchenschiff trat, fiel mir plötzlich wieder ein, was Onkel Helmut von den Armen und Hungernden überall in der Welt erzählt hatte. Ich wusste das ja schon lange, aber so wie Onkel Helmut es erzählt hatte, war mir zum ersten Mal richtig klar geworden, dass das die größte Ungerechtigkeit überhaupt war. Und so flehte ich Gott an, ihnen zu helfen – wenn jemand es verstehen musste, dann Gott. Das alles war nur wieder einmal noch ein Grund mehr für mich, Papst zu werden: um wirklich etwas besser machen zu können in dieser Welt!69
Am nächsten Tag in der Schulpause, als Ebby, Fips und ich unsere Kreise im Hof zogen, überlegten wir, wohin wir nach der Schule gehen sollten, denn die letzte Stunde fiel aus. Eis kaufen, Hot Dogs essen, in Schallplattenläden gehen – alles langweilig. Da sagte Ebby: »Ich weiß, wo die Gammler im Englischen Garten immer sitzen, ich hab gestern mit denen geredet: da gehen wir hin.« Ich war Feuer und Flamme, fand die Idee wahnsinnig spannend, Fips zuckte mit den Achseln: »Anschauen können wir sie uns ja mal«, meinte er.
Die Gammler waren – nach den Protesten im Jahr zuvor – das neueste rote Tuch, über das sich die Erwachsenen aufregten. So wurden junge Leute genannt, die sich weigerten zu arbeiten und den ganzen Tag nichts machten, eben »gammelten«. Sie waren daran zu erkennen, dass sie immer in dunkelgrüne Parkas gekleidet irgendwo herumsaßen, Rotwein tranken und die staatlichen Autoritäten nicht respektierten; darüber empörten sich die Zeitungen am meisten – aber gerade das machte sie am interessantesten und erstmal grundsätzlich sympathisch.
Ich war sehr gespannt. Ebby führte uns über die »Münchner Freiheit«, den großen Platz, den man vom Maxgymnasium aus sehen konnte, direkt in den Englischen Garten, durch den der »Eisbach« floss, an dem wir stadteinwärts pilgerten, bis sich der Weg gabelte und auf der Wiese unter einem der riesigen alten und weitausladenden Baum tatsächlich die Gammler saßen: Sie hingen lässig rum, quatschten miteinander, tranken tatsächlich jetzt am Mittag schon Rotwein aus großen, mit hellem Bast umwickelten Flaschen und spielten Gitarre oder trommelten.
Und jetzt? Fips und ich sahen uns ratlos an, irgendwie ernüchtert – was daran so toll sein sollte, erschloss sich uns nicht; Fips knabberte an seinen Fingernägeln. »Und wen kennst du da?«, fragte ich Ebby. »Muss doch nicht«, antwortete er und schlenderte einfach auf die Wiese, wir ihm nach.
Plötzlich blieb mir schier das Herz stehen. Julia70 saß bei so einem bärtigen Gammler und unterhielt sich angeregt mit ihm. Sie war so mit ihm ins Gespräch vertieft, dass sie nicht einmal bemerkte, wie ich ihr zuwinkte.
Ebby hatte sich inzwischen neben einem Gammler auf der Wiese niedergelassen und ihn einfach angesprochen; wie betäubt setzte ich mich hinzu. Fips machte eine Runde um die ganze Gruppe, bevor er sich auch zu uns setzte. Als Julia dadurch von ihrer Unterhaltung mit dem blöden Gammler abgelenkt wurde und zu Fips hochsah, entdeckte sie mich und winkte mir kurz zu, als sei das alles das Normalste auf der Welt.
Ich hasste diesen unappetitlichen Idioten, fand alle Gammler doof und wusste nicht, was wir hier verloren hatten. Was da geredet wurde, interessierte mich nicht. Als ich dann auch noch Julias glockenhelles Lachen hörte, in das ich mich so verliebt hatte, stand ich auf und ging.
Fips kam mit mir, Ebby war geblieben. »Die kommen sich wohl toll vor, bloß, weil sie nicht arbeiten«, fand ich, »und womit bezahlen sie ihren Rotwein?«
»Die schnorren halt«, meinte Fips achselzuckend.
Ich wollte natürlich nicht wie die Erwachsenen argumentieren und suchte nach schlagenden Argumenten, warum das nichts war für mich, aber meine bohrende Eifersucht ließ keinen klaren Gedanken zu.
Direkt am Englischen Garten wohnte in einem kleinen Reihenhaus mit Garten Franz Müller71, einer der Freunde von Heiner aus der Zeit der »Weißen Rose«. Ich mochte ihn von Anfang an, weil er zuhörte und selbst Fragen stellte, über die man nachdenken musste. Im Gegensatz zu Heiner erzählte er gerne aus der Zeit, in der sie gegen Hitler gekämpft hatten, was jedes Mal sehr spannend war.
Schon als es um die Proteste im letzten Jahr ging, hatte er eine andere Meinung als unsere Alten gehabt; er stritt sich oft mit Heiner über politische Dinge, freundschaftlich, aber hart. Ich wollte unbedingt wissen, was er von den Gammlern hielt und besuchte ihn einfach zusammen mit Fips. Da er freischaffend arbeitete, wie meine Mutter, war die Chance groß, ihn zuhause anzutreffen.
Tatsächlich öffnete er sofort, freute sich und lud ganz selbstverständlich auch Fips ein, ihm ins Wohnzimmer zu folgen. Dort saß er an einem Couchtisch und sortierte Schmuckstücke aus großen Kartons in bunte Döschen, Schächtelchen, Kästchen und Tütchen. Er handelte mit Schmuck und es war mir immer ein Rätsel gewesen, wie er davon leben konnte, weil meine Mutter dauernd klagte, wie schwer es sei, Geld zu verdienen; ich traute mich aber nicht, direkt zu fragen.