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Das Gymnasium: Lehren statt Lernen

Warum tut sich das Gymnasium schwer mit der Förderung eines eigenständigen und selbstständigen Lernens? Glaubt man den pointierten Stellungnahmen von Städtler, Sloterdijk, Edelstein und manch anderem, dann sind das Gymnasium und sein Lehrpersonal vor allem nicht in der Lage, Bildungsprozesse aus der Perspektive des Lernens zu betrachten. Das Lernen wird im Gymnasium vom Lehren aus in den Blick genommen. Unterricht »vermittelt« den Lernenden lediglich »etwas«, was sie dann »zu wissen« haben. Was dabei in den Lernenden vorgeht, das wird in der gymnasialen Praxis anscheinend selten bis nie reflektiert. Das Lernen von Individuen und Klassen ist so gut wie nie ein Thema in der Organisation eines Gymnasiums. Warum auch, schließlich findet das Lernen ja, genau besehen, gar nicht in der Schule statt. »Gelernt« wird aus gymnasialer Sicht vor allem beim Erledigen von Hausaufgaben und bei der Vorbereitung auf Prüfungen, also außerhalb der Schule. Innerhalb wird gelehrt. So der Alltag. Ich plädiere mit meinen Überlegungen für einen Blickwechsel, zu dem mich die Rückmeldungen der Schülerinnen und Schüler in den letzten sieben Jahren bewegt haben:

»Sie nehmen mit ihrer Unterrichtsform stärker Bezug auf das eigenständige Arbeiten der Schüler. Das finde ich natürlich gut, muss aber sagen, dass diese Unterrichtsart an dieser Schule, als einziger Lehrer, leider nicht umsetzbar ist. Zu stark befinden wir uns in der gewöhnlichen Unterrichtsform.« (Klassenstufe 12)

»Für mich war es anfangs schwierig, mich an den neuen Unterrichtsstil zu gewöhnen. In den meisten anderen Fächern diskutiert man relativ selten, und auch die Selbstständigkeit wird wenig gefördert, was bei ihnen ganz anders war.« (Klassenstufe 12)

»Weil die ganze Klasse den Unterricht gestaltete, war es sehr abwechslungsreich. Durch diese Vielfalt konnte ich sehr viel schon im Moment lernen und aufnehmen.« (Klassenstufe 9)

»Ich habe gelernt, dass ich sehr gut in der Gruppe lernen kann. Ich fand es sehr gut, sich in der Gruppe auszutauschen. Auch die Ideen für eine Präsentation herauszuarbeiten. […] Auch habe ich gelernt, dass ich nicht jeder Internetquelle vertrauen soll, weil ich manchmal differenzierte Aussagen gefunden habe. Und dass ich vor allem nicht Wikipedia vertrauen soll. Das habe ich daran gemerkt, dass ich zuerst Wikipedia gelesen habe, was wahrscheinlich jeder machen würde, und dass ich dann den Artikel zum Thema las, und ich es einfach nicht kapierte, weil immer drum rum geredet wurde. Dann habe ich aber auf mehreren Seiten Übereinstimmendes gefunden, sodass ich mir sicher war, dass es stimmt, was ich dann vortrage. […] Ich fand diese Präsentationen [gemeint sind Unterrichtslektionen, die von Schülerinnen und Schülern in eigener Verantwortung vorbereitet und durchgeführt werden, d. Verf.] sehr gut, denn ich finde es manchmal etwas schwer, wenn ein Lehrer etwas sagt und denkt, dass alle es sofort verstehen. Dadurch, dass wir, also die Schüler, den Lehrer spielten, war es einfacher, es zu verstehen, denn ich denke, dass die Schüler auch das präsentieren, was sie wissen, und Schüler erklären es auch so, dass die Lernenden die Sachen auch leicht verstehen können. Deshalb finde ich diese Methode sehr gut.« (Klassenstufe 9)

»Insgesamt finde ich, dass diese ›Lernform‹, die wir mit diesem Projekt angewendet haben, extrem hilft, das wirklich Relevante an der ganzen Lernerei herauszufiltern und man auch alleine Stärken entwickeln kann.« (Klassenstufe 9)

»Ich habe gemerkt, dass es von der Idee zur Umsetzung ein sehr langer und schwerer Weg ist, welchen man ohne eine gute Planung und exakte Ausführung nicht erfolgreich meistern kann.« (Klassenstufe 9)

»Es war allgemein sehr interessant, es wurde auch immer so vermittelt, dass man zuerst selbst nachdenken muss, um überhaupt an die ›wirklichen‹ Infos heranzukommen. So habe ich es eigentlich auch verstanden. […] Ich habe mich auch selbst irgendwie besser kennengelernt. […] Dieses Fach bzw. diese Lektionen sind so gemacht, dass man nur durch eigenständiges Nachdenken zu zum Beispiel Lösungen kommt. Indem man alles nur über eigenständiges Nachdenken kriegt, versteht man dies danach auch gut.« (Klassenstufe 7)

Eine Schlussfolgerung aus diesen und unzähligen ähnlichen Rückmeldungen lautet: Der Fokus gymnasialer Bildung muss in Zukunft auf dem Lernen und seinen Bedingungen liegen. Lehrpersonen müssen sich zu Fachleuten bezüglich des Lernens weiterbilden. Wobei im Verlauf meiner Ausführungen klar wird, welche Vorstellungen mich im Zusammenhang mit dem Begriff des »Lernens« leiten. Ganz grundsätzlich weiß ich mich dem subjektwissenschaftlichen Verständnis des Lernbegriffes bei Klaus Holzkamp verpflichtet, das für mich eine hohe Plausibilität hat und mein Professionsverständnis nachhaltig prägt (vgl. Holzkamp 1995).

In der fachlichen und der didaktischen Ausbildung von Lehrpersonen liegt der Schwerpunkt nach wie vor auf der Lehre – in formaler ebenso wie in inhaltlicher Hinsicht. Der Stoff entscheidet. Vor allem seine Menge. Je mehr, umso besser. Auch in Prüfungssituationen, sei es im Zusammenhang mit der Zulassung zum Lehrberuf oder im Klassenzimmer, orientiert sich die Qualität von Lern- und Bildungsprozessen nahezu ausschließlich an dem, was gelehrt wird – manchmal gerade noch daran, wie gelehrt wird. Es wird darauf geachtet, ob und wieweit das Lernen der Lernenden dem Lehren der Lehrenden entspricht oder nicht, aber selten umgekehrt. Klaus Holzkamp spricht in diesem Zusammenhang vom Lehrlernkurzschluss, der der Organisation schulischen Lernens zugrunde liege. Gemeint ist die Annahme, »dass man mit einem bestimmten Lehraufwand (abzüglich ›natürlicher‹ Begabungsunterschiede) einen bestimmten Lerneffekt zwangsläufig erzeugen kann« (Holzkamp 1992, S. 97). Die Folge dieses Kurzschlusses ist, dass man »offiziell immer nur von Lehrplänen, Unterrichtszielen, Erziehungsaufgaben« spricht und dem Irrtum erliegt, man hätte »den dadurch bedingten Lerneffekt stets zwangsläufig mitgemeint« (ebd.). Vor diesem Hintergrund bringt die Lehrerausbildung noch immer mehrheitlich Lehrpersonen hervor, die in der Unterrichtspraxis vor allem darauf achten, was »man« lehrt (und was nicht) und wie »man« lehrt (und wie nicht). Wie und was Lernende dabei lernen (und was nicht), das kommt viel zu wenig in den Blick und orientiert sich in jedem Fall an der Lehre und ihren Zielen. Es gilt noch immer unangefochten eine der dienstältesten Bildungslügen, dass Lernen eine zwangsläufige Folge des Lehrens sei. Das unausrottbare Gerücht lautet: Wenn eine Lehrperson mit dem Lehren beginnt, dann beginnen Lernende zu lernen. Dieses Gerücht basiert auf einer Lüge, die sich deswegen so hartnäckig hält, weil sich das gymnasiale System damit selbst anlügt. Und wenn es eine Art der Lüge gibt, der man besonders schwer auf die Schliche kommt, dann ist es die Selbstlüge. Eine Forderung an dieser Stelle lautet also: Das Gymnasium als Bildungssystem muss dringend eine alternative Vorstellung davon entwickeln, was Lernen ist. Es muss die Funktionen seiner Lehrpersonen und Lernprozesse neu denken und das Phänomen »Unterricht« radikal umbauen. Ebenso muss sich in der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen und Schulleitungen und in der Beurteilung der Schul- und Unterrichtsqualität Grundlegendes ändern, immer mit dem Ziel, den Fokus schulischen Handelns auf das Lernen zu richten.

Quantität vor Qualität, oder Nur viel Wissen ist gutes Wissen

Im herkömmlichen gymnasialen Unterrichtsmodell müssen Jugendliche vor allem darauf achten, dass sie den Anschluss nicht verlieren an das, was der Lehrer oder die Lehrerin »vermittelt«. Es geht darum, möglichst viel von diesem »Wissen« mit nach Hause zu nehmen, um es dort zu »lernen«. Zu diesem Zweck müssen sich die ­Jugendlichen geschickte Packstrategien ausdenken, durch die sie möglichst viel von dem, was ihnen in den unterschiedlichen Fächern »vermittelt« wird, in ihren kleinen Koffer kriegen. Lernen ist hier Logistik: Wie bekomme ich in möglichst wenig Zeit möglichst viel in meinen Kopf, und wie sorge ich dafür, dass es bis zur entsprechenden Prüfung drin bleibt, ohne in der Zwischenzeit von anderen Wissensinhalten verdrängt zu werden? Dieses völlig verkürzte Wissensmodell prägt noch immer in hohem Maße die Vorstellungen auf allen Ebenen des Gymnasialwesens, und es ist ein nach wie vor (un-)heimliches Leitziel des gesamten Bildungshandelns bis in die Universitäten hinein. Wissen ist in diesen Vorstellungswelten ein »Was«, es ist eine Art Substanz, die auf geheimnisvolle Weise »gelernt«, also transportiert werden kann. »Lernen« meint in diesem Kontext das Entwickeln mehr oder weniger effektiver Techniken, mit deren Hilfe das Anhäufen solcher Wissensberge besser gelingen soll. An dieser Problematik ändert auch das Modell des »selbst organisierten Lernens« (»SOL«) so lange nichts, als es den Lernenden lediglich erklärt, dass und wie sie ihr Lernen ab jetzt selbst zu organisieren hätten, ohne zuerst einmal geklärt zu haben, dass sich Lernen nicht in Informationslogistik erschöpft.

Das Gymnasium implantiert in die Köpfe der Schülerinnen und Schüler ein Vorstellungsmodell von Lernen, in dem Wissen als Inhalt und Stoff verstanden wird, den man sich aneignet. In diesem Modell ist die Frage »Hast du für die Prüfung genug gelernt?« rein quantitativ gemeint. »Man« lernt viel oder wenig für eine Prüfung, und das »viel« und das »wenig« bezieht sich nicht auf das Lernen selbst, sondern auf die Mengen, um die es bei diesem Lernen geht. Lernen ist Logistik. Das erlebe ich zum Beispiel im Schulbus, wenn die Schülerinnen und Schüler über ihren Notizen sitzen und versuchen, sich in den letzten Minuten vor der Prüfung irgendetwas irgendwie »zu merken«. Nach dieser Vorstellung von Lernen »falsch« zu lernen, bedeutet lediglich, dass »man« noch nicht die richtige Methode gefunden hat, um sich möglichst viel von dem Zeug so in die Birne zu drücken, dass es bei der Prüfung in der richtigen Form wieder rauskommt. Das, so berichtet mir die Mehrheit aller Gymnasialschülerinnen und -schüler, ist ihr Lernalltag. »Etwas wissen« heißt am Gymnasium »etwas im Rahmen einer Prüfung wiedergeben können«. Das ist der Kontext gymnasialen Lernens. Nicht wenige Lehrpersonen begründen den Wert dieser Lernstrategien primär mit dem »Argument«: »Uns hat das seinerzeit auch nicht geschadet, und siehe, aus uns ist auch etwas geworden.« »Richtig«, möchte man dann sagen. »Ein Gymnasiallehrer ist aus dir geworden, der das System der Bulimie-Pädagogik reproduziert.«

Natürlich wird in diesem Kontext auch Persönlichkeitsbildung betrieben, und natürlich bereiten wir die Lernenden durch diese Praxis auf die Zukunft an den Universitäten vor. Selbstverständlich lernen sie sogar sehr viel fürs Leben, wenn wir sie in Lernprozesse verwickeln, in denen es für sie einzig darauf ankommt herauszufinden, wie der Lehrer es gerne hat und hört, was er für wichtig und richtig hält, von wo bis wo eine Aufgabe noch richtig oder schon falsch gelöst ist, wie viel Lösungsweg in welchem Umfang in die Benotung einfließt, welche Worte und Sätze er hören will, damit er zufrieden ist und die Schülerin eine entsprechende Note bekommt. Lernende werden durch dieses Setting recht genau auf eine Universität vorbereitet, die oftmals nicht anders vorgeht. »Genug geleistet« meint nämlich in dieser Denkform eine Menge und keine Qualität – auch und gerade im gymnasialen Lehrerberuf: Wie viele Prüfungen hast du vorbereitet, schreiben lassen und korrigiert diese Woche? Wie viele Stunden hast du für die Vorbereitung des Schuljahres, der Unterrichtseinheit, der Lektion verbracht? Wie viel deiner Arbeitszeit wurde in diesem Monat durch Administrationsaufwand geschluckt? Es geht um Mengen. Wolf Lotter hat dieses Phänomen als kulturellen Anachronismus beschrieben (Lotter 2008), der sich einem längst überholten Leistungsbegriff verdankt. Denn es sind ja in Wirklichkeit nicht die schiere Menge und der bloße Aufwand, die ein Lernen erfolgreich machen. Es ist ja auch nicht der Umfang der Speisekarte, der etwas über die Qualität eines Restaurants sagt. Die Überzeugung, dass »mehr Leistung« eine Qualitätsaussage sei, ist das eigentliche Problem, ebenso wie die Vorstellung, dass dieses »Mehr« identisch sei mit »besser«. Auch das Gymnasium ist ein System, das durchgehend auf Quantitäten basiert. Man geht ganz selbstverständlich davon aus, dass das, was Lernende tun, wenn sie lernen, zum Zwecke der Messung in Quantitäten erfasst werden muss und auch kann. Der Psychologe und Lerntheoretiker Klaus Holzkamp hat diese Vorstellungen in seiner brillanten Polemik »Die Fiktion administrativer Planbarkeit schulischer Lernprozesse« entlarvt (Holzkamp 1992).

Auch wenn die Rede auf die Qualität eines Gymnasiums kommt, setzt man gerne bei der Anzahl versetzter Schüler und bestandener Reifeprüfungen an und berechnet, wie viele von ihnen ein Studium aufnehmen und zu Ende bringen – und mit welchen Noten und in welcher Zeit. Deshalb ist das gute Gymnasium nach wie vor das reibungslose Gymnasium, in dem die Organisation gut funktioniert, Stundentafeln und -pläne in Ordnung gebracht werden, Pensenberechnungen und Lohnabrechnungen stimmen, Terminpläne, Anträge und Auswertungsformulare, Weiterbildungsaufwendungen und Stellvertretungspläne korrekt und fristgerecht ausgefüllt und eingereicht werden. Auch im Unterricht erfolgen Bewertung und Beurteilung anhand von Quantität: wie oft sich jemand – aus der Sicht der Lehrperson – wie intensiv am Unterricht beteiligt, welche Noten jemand schreibt, wie oft jemand fehlt, negativ auffällt oder positiv – selbstverständlich aus der Sicht der Lehrperson –, wie oft der Unterricht aus welchen Gründen auch immer ausfällt oder nicht. Guter Unterricht ist oftmals schon einer, der nicht ausfällt. Das sind die ausschließlich quantitativen Kontexte, anhand deren die Qualität von Schule gemessen wird. Was dabei im strengen Sinne von Qualitätskontrolle an einem Gymnasium nicht in den Blick gerät, und zwar konsequent, ist die Qualität selbst. Inklusive der Qualität der Unterrichtsgestaltung und der Lernprozesse.

Die Umkehr der Vorzeichen: Vom Lehren zum Lernen

Wenn aber das Lernen der Jugendlichen gegenüber dem Lehren der Lehrpersonen den Vorzug erhält, dann kommt umgehend die Qualität des Unterrichts in den Blick und damit die Frage nach der Qualität der Prozesse, in denen junge Menschen am Gymnasium lernen. Das ändert natürlich nichts an der Bedeutung der Lerninhalte, des »Stoffes«, um den sich heute nach wie vor alles dreht. Dieser bildet selbstredend ein wichtiges Moment des Lernens. Aber er ist nach einer Umkehr der Vorzeichen nicht mehr der unangefochtene »Herrscher über Gymnasien«.

Wenn das Gymnasium das Lehren dem Lernen unterordnet, nimmt der Stoff noch immer einen der oberen Plätze auf der Prioritätenliste ein, aber er bildet nicht mehr den Rahmen. Lernen am Gymnasium würde dann nicht mehr um des Stoffes willen erfolgen. »Stoff« wäre in der Schule dazu da, Lernen zu ermöglichen, zu qualifizieren und zu fördern. Wenn Lernprozesse am Gymnasium von diesem Anspruch her qualifiziert würden, dann wären sämtliche Lerninhalte funktional abzustimmen: »Schulisch erworbenes Wissen bewährt sich nicht, indem es auf spätere Berufs- und Lebenssituationen angewendet wird, sondern dann, wenn es die Chancen verbessert, neue Anforderungen situationsadäquat unter Berücksichtigung von Werten, Zwecken und Zielen zu interpretieren, und das zur Bewältigung der Anforderungen notwendige Um- und Neulernen erleichtert« (Deutsches PISA-Konsortium 2001, S. 30). Wissensinhalte (»Stoff«) sind für das Lernen der Jugendlichen nur brauchbar, wenn sie den Prozess des Lernens qualifizieren, nicht umgekehrt. Schulisches Lernen und Lehren hat also nicht irgendwelche Inhalte in die Hefte und Köpfe junger Menschen zu befördern. Der Stoff ist dazu da, dass sich junge Menschen klar beschreibbare Kompetenzen aneignen, mit deren Hilfe sie sich selbst und die komplex codierte Welt erschließen.

Das Wissensübertragungsmodell, das die Qualität von Bildung an der Menge des Stoffes bemisst, den eine Schülerin »beherrschen können soll«, entspringt der irrigen und längst widerlegten Vorstellung, dass es menschliche Lernprozesse mit Substanzen zu tun haben, die im Verlauf dieser Prozesse von A nach B transportiert werden. In dieser Vorstellung eignet sich ein Schüler oder eine Schülerin den Stoff in Form einer Substanz an, häuft Wissen an wie andere Geld oder Getreide. Lernprozesse verkommen in diesem Modell zu Versuchen, sich das Wissen und die vorgegebenen Zusammenhänge irgendwie zu merken. Allerdings findet das außerhalb des Unterrichts statt, weil dieser ja streng sachorientiert, will heißen, am Lehrer und seinem Material orientiert ist. »Viele Schüler […] klagen darüber, dass sie Inhalte und Prozesse des Lernens in der Schule als sinnlos erleben. […] Die wirkungsvollste und vor allem nachhaltigste Strategie gegen diese Schulverdrossenheit dürfte das didaktische Umsteuern von gedächtnisorientiertem zu verständnisintensivem Lernen sein, die Abkehr von der Bevorratung mit deklarativem Wissen, die Zuwendung zum Erwerb intentionalen, anwendungsfähigen Wissens, der Aufbau handlungsbezogener Kompetenzen« (Nipkow 2004, S. 68).

Um die Qualität gymnasialer Lernprozesse in den Blick zu bekommen, müssen wir zuerst nach Merkmalen suchen, die uns diese Qualität zu beschreiben und zu erfassen helfen. Solche »Standards« sind im modernen Bildungswesen auf der Seite der Lernenden mithilfe von Bildungsstandards, Bildungszielen und Kompetenzen formuliert, auf der Seite der Lehrenden mithilfe der »Lehrerexpertise« (vgl. Gläser-Zikuda/Seifried 2008; Reimann/Rapp 2008). Dennoch ist, wenn im Rahmen gymnasialer Bildung die tatsächliche Qualität in den Blick genommen wird, meist nur von den Schülerinnen und Schülern und ihren Leistungen die Rede. Was die Jugendlichen in welchem Umfang in sich aufnehmen können sollen und welche Kompetenzen sie an den Tag legen können, das ist hochreflektiert und klar formuliert. Welche Art von Schule und Unterricht dem entsprechen muss, das ist hingegen nicht annähernd so deutlich artikuliert. Wie lässt sich diese Art von »Schulqualität« beschreiben? Wo liegen hierfür die Referenzpunkte? Mithilfe welcher Begriffe lässt sich erfassen, wie ein Unterricht funktioniert, der die Lernenden und ihr Lernen in den Mittelpunkt des Interesses stellt? Carina Fuchs hat mit ihrem Entwurf eines »selbstwirksamen Lernens« eine belastbare und praktizierbare Antwort auf solche Fragen gegeben (Fuchs 2005). Welche Aufgaben den Lehrenden zukommen, wenn sie nicht lehren, sondern ihre Schülerinnen und Schüler als Lerncoaches zu persönlichen Lernerfolgen anstiften, das hat Fuchs in einer weiteren Publikation anschaulich konkretisiert (Fuchs 2006).

Für mich selbst bieten sich dazu folgende Kriterien an: Die Qualität gymnasialer – wie aller schulischen – Lernprozesse hat erstens etwas zu tun mit den Bedingungen, unter denen sie stattfinden sollen und können. Die Atmosphäre, in der Lernen sich vollzieht, bestimmt nämlich maßgeblich über die Qualität und die Nachhaltigkeit dieses Lernens. Dann hängt das Gelingen lebendiger und nachhaltiger Lernprozesse stark davon ab, ob Lehrende wie Lernende verstehen, wie sie an die dafür nötige Aufmerksamkeit (vgl. Kapitel 4, »Erste Alternative«) herankommen ohne sie mit Konzentration zu verwechseln. Drittens gelingen Lernprozesse umso eher, je differenzierter die Beteiligten sich um das Phänomen des Verstehens (vgl. Kapitel 5, »Zweite Alternative«) bemühen. Hier geht es um die Frage, welche menschlichen Grundbedürfnisse hinter diesem Begriff stecken und wann ein Mensch wirklich verstanden hat, statt einfach nur Verständnis zu simulieren. Und nicht zuletzt muss sich ein Perspektivenwechsel im gymnasialen Bildungswesen um eine tief greifende Reform der Beziehungs- und Gesprächskultur kümmern (vgl. Kapitel 6, »Dritte Alternative«).

Ich werde im zweiten Teil dieses Buches mithilfe dieser Phänomene beschreiben, was gymnasiale Lernprozesse als Bildungsprozesse qualifizieren kann. Ich gehe der Frage nach, was es braucht, um gymnasiale Lernprozesse bildungsgerecht zu gestalten – noch vor aller Technik und Methodik, und ich werde die Frage klären, vor welchen Herausforderungen Lernende stehen, wenn sie sich mit der Aufgabe ihrer Bildung konfrontiert sehen. Dabei geht es auch um die Frage, wie das Gymnasium sich selbst und seinen Auftrag neu interpretieren muss, damit es den Herausforderungen einer »Bildung auf Augenhöhe« gerecht werden kann, die an die Stelle der anachronistisch gewordenen Bulimie-Pädagogik treten muss. Ich bin froh, wenn ich am Ende einen Weg aufgezeigt habe, wie sich gymnasiales Lernen aus seinem Prokrustesbett befreien kann – oder weniger martialisch formuliert: wie es aus seinem Dornröschenschlaf aufwachen kann, auch wenn der Prinz vorläufig ausbleibt.

2 Diese Anforderungen an schulische Bildungsprozesse sind an prominenten Stellen klar formuliert: In der Einführung zur ersten PISA-Studie (vgl. PISA 2000, S. 15-68) bzw. exemplarisch für etliche Bemühungen in neuerer Zeit in den Anliegen und Zielen des Bildungsplans der Schulen in Baden-Württemberg, die auf dem Landesbildungsserver unter www.bildung-staerkt-­menschen.de vorgestellt werden. Für die Schweizer Gymnasien vgl. die Bildungsziele, die in ­Kapitel drei dieses Buches im Abschnitt »Warum der Mensch hinter dem Schüler in der Schule eigentlich gar nicht vorkommt« vorgestellt werden.

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