Kitabı oku: «Bildung auf Augenhöhe», sayfa 3
Kapitel 2:
Der blinde Fleck der gymnasialen Bildung
Ein Blick in den gymnasialen Alltag
Der Kultursektor »Bildung« ist so gut untersucht wie kaum ein anderer. Nicht zuletzt aufgrund der letzten Reform der Reform seiner Reform. Und obwohl eigentlich alles gesagt und analysiert ist, funktioniert es nicht wirklich mit der Bildung. Wo ist der blinde Fleck? Die Lernenden wollen einfach nicht selbstständiger werden, sie können noch immer nicht zufriedenstellend mit Texten umgehen, haben noch immer nicht hinreichend gelernt, ihr Lernen zu organisieren und zu regulieren, und vor allem: Sie lernen auch bezüglich der Inhalte nicht wirklich nachhaltig. Das meiste, was sie sich in mühevoller Arbeit und auf Prüfungen hin in den Kopf quetschen, macht Tage später bereits neuen Informationsmassen Platz, in jedem Fach aufs Neue. Die Frage, was ihnen das alles für ihr Leben bringt, bleibt sehr vielen nach eigenen Aussagen schleierhaft. Lernende lernen am Gymnasium nach wie vor zu selten und zu wenig, was es mit dem Phänomen der Bedeutung auf sich hat. Sie lernen am Gymnasium vor allem sogenannte Fakten.
Lernende lernen am Gymnasium nicht, eigene Entscheidungen zu treffen bezüglich möglicher Bedeutungen, die sich in dem unendlichen Kosmos an Informationen verbergen. Sie lernen nicht, Zusammenhänge und Bedeutungen zu entdecken oder herzustellen und damit notwendige Hierarchien zu generieren anhand der schier unerschöpflichen Möglichkeiten, was heute gewusst werden kann. Selbst in den Fächern, in denen es vor allem um Zusammenhänge geht, werden Lernende sehr selten auf den Weg geschickt, um diese Zusammenhänge zu entdecken. Vielmehr bleiben ihnen diese in den meisten Fällen verschlossen und schleierhaft. Stattdessen werden »Inhalte« als ganze Informationspakete »gelernt« und wiedergegeben. Für »das andere«, das Entdecken und Versuchen, für Trial and Error, haben Schülerinnen und Schüler keine Zeit, weil das System des Gymnasiums ihnen diese Zeit nicht gibt. In der Folge lernen die Jugendlichen auch nicht, wie sie sich zum Kosmos des Wissens in Beziehung setzen können oder gar wollen. Das müssen sie auch gar nicht, denn das, was – aus welchen Gründen auch immer – »wichtig« ist und zusammengehört, ist innerhalb des Gymnasiums längst entschieden durch den Unterrichtskontext, und der wird durch die Lehrpersonen autoritativ repräsentiert.
In diesem System lernen Jugendliche vor allem eines nicht: »sich bei der Frage auszukennen, worin Wissen und Verstehen bestehen und wie weit sie reichen« (Bieri 2007). Sie werden nicht darin gefördert, Belege für ihre Überzeugungen anzubringen oder über die Verlässlichkeit der Prinzipien nachzudenken, mit denen man von den Belegen zu den Behauptungen kommt, denn für ihre Lehrpersonen ist es einfach zu mühsam, jedes Schuljahr aufs Neue die Zeugen zu spielen, wenn ihre Schülerinnen und Schüler sich anschicken, das Rad neu zu erfinden. Aber genau das wäre eine ihrer Hauptaufgaben. Die Lernenden werden auch nicht auf die Suche geschickt nach dem Wesen guter Argumente und nach dem, was diese von der trügerischen Sophisterei unterscheidet, denn das steht entweder dem Lehrer schon ins Gesicht geschrieben, oder es steht im Lehrplan. Sie müssen nicht lernen zu argumentieren (das wäre ja auch viel zu zeitintensiv), sie müssen »wissen«, welche Formen der Argumentation es gibt und wer die erfunden hat. Und erst recht müssen sie nicht untersuchen, welche Formen des Verstehens es überhaupt gibt und was die typischen Hindernisse auf den verschlungenen Wegen des Verstehens sind. Außerdem erleben sie über eine ganze Gymnasialkarriere hinweg als das größte Hindernis immer noch sich selbst und ihre Begrenztheit im Nachfahren vorgestanzten Denkens – im Angesicht von Lehrpersonen, die anscheinend so viel mehr und besser wissen, als sie je wissen werden können (oder wollen?). Auch werden sie nicht dazu angeleitet, »zwischen bloß rhetorischen Fassaden und echten Gedanken zu unterscheiden« (Bieri 2007), weil ihnen diese Unterscheidungen ja als immer schon getroffene lediglich zur nachahmenden Einübung vorgelegt werden.
»Draußen in der Welt« geht es anders zu und her. Dort stehen die Bedeutungen im freien Wettbewerb um menschliche Ressourcen wie Aufmerksamkeit und Geld. Jungen Menschen wird in ihrer perfekt durchmedialisierten Lebenswelt pausenlos gezeigt und erzählt, wie sie zu sein haben und was sie zu haben wollen. Dieser unreflektierte Bilder- und Erzählstrom transportiert pausenlos Welt- und Menschenbilder, Vorstellungen vom »guten Leben« und davon, was es heißt, ein richtiger Mann und eine richtige Frau zu sein und wie Menschen miteinander umzugehen haben und wie nicht. »Draußen« werden also auf hochprofessionelle Weise Bilder und Vorstellungen »richtigen Lebens« verabreicht, die die Kompetenz der Unterscheidung, der Beurteilung und der Bedeutungsfindung mehr denn je einfordern und sie deshalb zu einem zentralen Bestandteil gymnasialer Bildung werden lassen müssten, damit junge Menschen lernen, sich als mündige und aufgeklärte Menschen selbstständig darin zu bewegen. Stattdessen beschränkt sich das Gymnasium »drinnen« auf das Vermitteln von Informationen zum Zwecke des Aufrechterhaltens überholter Vorstellungen von Bildung und von Macht. Es geht nämlich im Gymnasium gegen alle Bekenntnisse nicht um die Bildung junger Menschen, sondern vor allem um den (Selbst-)Erhalt eines Systems.
Natürlich geht es (in) jedem System zuerst einmal um den Selbsterhalt. Auch Familien, Aktiengesellschaften und Landesregierungen handeln in erster Linie aus dem Motiv des Selbsterhalts heraus. Die Qualität dessen, was dabei herauskommt, hängt allerdings maßgeblich davon ab, ob sich ein System dieser Zusammenhänge bewusst werden kann. Gibt es innerhalb des »Systems Gymnasium« einen Mindestgrad an Selbstreflexion und die Bereitschaft zum Umgang mit kreativen Störungen, sprich: Ist das Gymnasium offen genug, um sich der Automatismen bewusst zu werden, die mit dem funktionalen Selbsterhalt verbunden sind? Gelingt es ihm, aus dieser Offenheit heraus eine gewisse Reflexivität zu entwickeln und diese wiederum für Selbstlerneffekte zu nutzen? Oder werden sämtliche Ressourcen dafür verbraucht, die bestehenden Abläufe zu sichern? Die Frage lautet also: Ist das jeweilige (Schul-)System in der Lage, sein eigenes Handeln auf seine Chancen und Risiken hin zu durchschauen und sich diesbezüglich zukunftsoffen und lebendig zu gestalten? Sind Gymnasien Orte, an denen Zukunft ermöglicht wird – oder kommt die sowieso und trotz der Schule? Oft höre ich nämlich bis heute den Satz: Egal, was die Schule tut und was nicht, hängen geblieben ist immer irgendwas. Aus den jungen Leuten ist noch immer etwas geworden. Also warum regen wir uns auf?
Vielleicht deshalb, weil Gymnasien nach wie vor resistent sind gegenüber Formen von Entwicklung, die bei der Qualität der Lern- und Bildungsprozesse ansetzen. Schülerinnen und Schüler beschreiben in ihren Feedbacks regelmäßig, dass es schon nützlich sei, ein Semester lang ganz »anders« zu arbeiten, zum selbstständigen Denken und Organisieren herausgefordert zu werden, als Arbeitsgruppe Projektarbeiten vom Anfang bis zum Ende durchführen zu müssen, sich der Herausforderung anspruchsvoller Präsentations-Situationen zu stellen:
»Die selbstständige Arbeit war für mich positiv wie auch neu und herausfordernd. In keinem anderen Fach mussten wir so viel selbstständig arbeiten.«
»Wir konnten sehr frei arbeiten. Wir mussten Selbstverantwortung übernehmen. Dies war einerseits eine große Herausforderung, jedoch fand ich dies sehr gut. Wir mussten sehr selbstständig arbeiten und selber die Zeit einteilen usw. Dies war eine neue Erfahrung, die ich machen konnte.« (Stimmen aus zwei unterschiedlichen Klassen der achten Klassenstufe)
Die Jugendlichen schreiben in ihren Reflexionen aber auch, wie schwer es für sie ist, sich auf diese Prozesse einzulassen, weil das Gymnasium im »Normalfall« ganz anders mit ihnen verfährt:
»Ihre Arbeitsform ist für uns Schüler sehr fördernd und anspruchsvoll, denn wir müssen, wenn wir in den Unterricht kommen, völlig umschalten. Und wenn wir aus dem Schulzimmer gehen, kommt gerade der extremste Frontalunterricht, welcher jegliches eigene Selberdenken übergeht. Das Problem ist einfach, wie oft gesagt, dass wir in einem täglichen Trott stecken, und ich persönlich finde nicht, dass wir die Möglichkeit haben, etwas zu verändern. Andere Lehrpersonen sind nicht offen für den Dialog, geschweige denn, Änderungsvorschläge zu akzeptieren bzw. umzusetzen. Und solange dies nicht geschieht, bleibt ihre ›neue‹ Arbeitsform schwer für mich, denn Sie fordern das Denken an den Prüfungen meist in einem größeren Rahmen. In Ihrem Unterricht beginne ich, zuerst in meiner eigenen Welt zu denken, und beziehe es noch nicht auf die Meinung von anderen. Alles in allem gesehen, bin ich eigentlich gerne in den Unterricht gekommen, weil es etwas anderes ist und auch weil es herausfordernd ist.« (Klassenstufe 11)
»Weiter gebracht hat mich das Arbeiten. In Gruppen zu arbeiten, bringt einem viel, um zu sehen, wie die anderen es meistern würden. Man wird geschickter bei einzelnen Fragen, und man geht mehr in die Tiefe. Mich haben vor allem die Tests herausgefordert, weil man sich nicht daran gewöhnt war, solche kreativen Tests zu schreiben. Mit kreativ meine ich: Man füllt nicht nur etwas aus oder beantwortet Fragen, sondern man gestaltet es selber. Mir sind eben die Tests am Anfang schwergefallen. Ich habe es gemeistert.« (Klassenstufe 7)
»Bei den Tests hatte ich am Anfang ein bisschen Mühe, weil sie so anders waren. Da war ich ein bisschen überfordert. Es war eine andere Art von Tests und nicht einfach mit Fragen und Antworten, sondern viel mehr mit Denken und Überlegen.« (Klassenstufe 7)
Solche Reflexionen sind keine Seltenheit und sie zeigen, dass das selbstständige Arbeiten als eine entscheidende Kompetenz von Schülerinnen und Schülern am Gymnasium zu wenig gefördert wird. Dennoch erkennen die Lernenden den Wert solcher Formen, wenn sie auf entsprechende Arbeitsphasen zurückblicken:
»Ein selbst erarbeiteter Vortrag hat mich viel mehr zum Lernen gebracht, als ein klassischer Unterricht es hätte machen können. Auch anderen bei ihren Vorträgen zuzuhören, war für mich sehr lehrreich. Auch unser Thema, die Verfahren und Methoden unserer Arbeit selber auszuwählen und zu gestalten, fand ich sehr motivierend. Somit war ich überhaupt interessiert, etwas zu lernen.« (Klassenstufe 11)
Wenn Lernende hingegen zu Protokoll geben, was sie unter »Lernen« verstehen, dann muss ich häufig zwischen den Zeilen lesen. Hier vier Rückmeldungen aus der Klassenstufe 8:
»Ich finde das besser, dass wir lernten, wie alles zusammenhängt, als dass wir nur einzelne Fakten lernten und nichts damit anfangen können. Ich bearbeite solche Themen gerne in der ganzen Klasse. Ich merke, dass ich dann viel mehr Aufmerksamkeit auf das Thema habe und mir mehr behalten kann.«
»Ich fand die Arbeitsform, wie das Wissen übermittelt wurde, sehr spannend. Ich merkte, dass ich leichter lerne, wenn wir den Stoff nicht mit Auswendiglernen oder Abfragen lernen mussten, sondern auf andere Art. Die Arbeitsform hat mich weitergebracht, weil ich jetzt weiß, dass es auch andere Methoden gibt, Wissen zu übermitteln und anderen Leuten etwas beizubringen.«
»Manchmal war es schwierig oder auch mühsam. Aber man lernt meiner Meinung nach mehr, wenn man den Stoff selbstständiger lernt, als wie bei anderen Lehrern so viel wie möglich in kurzer Zeit durch Arbeitsblätter in den Kopf bringen.«
»Ich weiß nicht, was mich zum Lernen anregen sollte. […] In Ihrem Unterricht, also besser, für Ihren Unterricht muss man nicht lernen. […] Wenn ich in anderen Fächern lernen muss, bleibt das Gelernte ein paar Tage hängen und verfliegt dann wieder. Bei Ihrem Unterricht bleibt das, was ich mir selber erarbeitet (gemacht) habe, für IMMER hängen.«
Diese Beispiele verdeutlichen, dass Schülerinnen und Schüler im Normalfall mit dem Begriff des »Lernens« alles andere in Verbindung bringen als einen Zuwachs an Selbst- und Weltverfügung beziehungsweise eine Aneignung von Kompetenzen. Entweder man »lernt«, oder man kommt mit sich und der Sache weiter.
Die Empfehlungen, die in den letzten Jahren in allen Bereichen der Bildungslandschaft aus den Ergebnissen von lokalen, nationalen und internationalen Studien heraus entwickelt wurden, wiederholen regelmäßig dieselben Schlussfolgerungen – angefangen bei PISA 2000: Während Lehrende lehren, lernen Lernende nach wie vor zu wenig – und zwar nicht bezogen auf die Quantitäten, sondern bezogen auf das Lernen selbst als einer spezifischen Handlungsform. Lernende lernen nicht nichts, aber sie lernen nicht – in einem Sinne, der dem Wort als Fachbegriff gerecht werden würde. Schüler lernen das Lernen nicht, und sie entwickeln auch keine wirkliche Freude daran. Schulisches Lernen ist für Lernende häufig noch immer das Gegenteil von dem, was Freude macht, das Gegenteil von dem, was man von sich aus in Angriff nimmt. Dennoch realisieren Schülerinnen und Schüler sehr wohl, unter welchen Bedingungen sie einem lebendigen Lernen eher auf die Spur kommen:
»Ich finde, dass der Unterricht toll aufgebaut ist, da man viel über Themen diskutiert und so auch den Schulstoff besser aufnimmt. Man beschäftigt sich so viel intensiver mit dem Thema, und so wird es auch interessant. Im Schulzimmer ist die Stimmung auch anders als in anderen Fächern, man hat nicht so das Gefühl, dass man dem Lehrer ›unterworfen‹ ist, sondern dass man einfach mit der Klasse und einer erwachsenen Person über Themen redet. So macht es auch viel mehr Spaß zuzuhören, und man kann sich besser konzentrieren, als wenn ein Lehrer vor der Klasse steht und stundenlang einfach nur erzählt. Mit dieser Unterrichtsform beginnt man sich auch für das Besprochene zu interessieren. Die Zusammenfassungen auf der Wandtafel, die wir auf ein Blatt übertragen müssen, helfen, wenn man etwas repetieren will.« (Klassenstufe 7)
»Vor diesem Semester habe ich mir eigentlich viel weniger Gedanken über die Schule, über das Zur-Schule-Gehen gemacht. Ich ging einfach, weil ich es musste, und ich lernte alles einen Abend vor der Prüfung. Jetzt, nach diesem Semester, lerne ich viel bewusster und packe einige Aufgaben anders an.« (Klassenstufe 9)
»Man muss sich mit dem Thema auseinandersetzen, ist jedoch ziemlich frei, und ich glaube, deswegen ist mir dieses Fach leichter gefallen, und ich habe Spaß dabei gehabt. […] Es war eine Herausforderung, aber sie war willkommen. […] Mir ist es ziemlich leichtgefallen. Man musste präsent sein, zuhören, mitdenken, nachdenken, dann hatte man (bzw. ich) gute Chancen, eine gute Note zu erhalten. Vereinfacht hat mir dieses Fach, dass das meiste nicht richtig oder falsch war, sondern es immer situationsabhängig war. Das Wichtigste war: denken, verarbeiten, verstehen […] gute Noten schreiben :D […] Man konnte Ihnen Fragen stellen, und mit Ihren Antworten war nicht nur die Frage beantwortet, es hat ›Klick‹ gemacht und man hatte die ›entscheidende Idee‹.« (Klassenstufe 8)
Viel lernen ist nicht das Problem, sondern blindes Lernen
Offensichtlich ist es nicht die Fülle an Material und Informationen, die den Lernenden Probleme bereitet, sondern deren Zusammenhanglosigkeit und die Forderung, den Stoff blind in sich hineinzustopfen. Die Kritik konservativer Bildungshysteriker, die regelmäßig diagnostizieren, es würde zu wenig (Stoff) gelernt und man müsse verstärkt das Auswendiglernen fordern, wirkt vor diesem Hintergrund zynisch. Es geht gerade nicht um Mengen, sondern um die Frage, welchen Stellenwert diese in einem Bildungsprozess einnehmen sollten und welchen nicht. Natürlich muss jeder junge Mensch sich auskennen in Kernbereichen kulturellen Wissens. Er und sie brauchen ganz klar eine substanzielle Basis, bloß: Woher nehmen wir gegenwärtig das Wissen darüber, was in die Kernbereiche von Kulturwissen hineingehört und was davon ein junger Mensch in welchen Lebenskontexten effektiv einsetzen kann? Die Antworten auf diese Fragen werden auch dadurch schwerer, dass sich Lehr- und Bildungspläne je nach politischer und weltanschaulicher Färbung der Länder und Schulen massiv unterscheiden. National-konservative Bildungsmacher stricken gänzlich andere Lehrpläne zusammen als liberale oder links-grüne. Allein diese bildungspolitische Willkür müsste einen doch hellhörig machen, denn sie zeigt recht deutlich, dass inhaltliche Bildungskataloge nicht die entscheidenden (wenngleich unverzichtbare) Referenzgrößen für erfolgreiches Bildungshandeln sind.
Es gilt aber auch, dass es, bezogen auf die kulturellen Herausforderungen der Zukunft, nahezu keine Aussicht mehr auf eine Einigung darüber geben wird, welches »Kulturwissen« zu einem Kernbestand welcher »Kultur« auch immer gehören soll. Wenn man einen Blick in die kulturellen Debatten wirft, dann ist nicht einmal mehr klar, was der Begriff und die Sache der »Kultur« »eigentlich« bedeuten soll (vgl. exemplarisch Baecker 2012) – gerade im Angesicht der um sich greifenden Tendenzen, die reale kulturelle Komplexität der Gegenwart aus religiösen, nationalistischen oder ökonomischen Motiven heraus auf handliche Phrasen und Parolen zu reduzieren. Die Lösungen für den Umgang mit diesen Herausforderungen stehen nirgends geschrieben, sie müssen in einem institutionalisierten, professionellen und interkulturellen Diskurs ständig neu erarbeitet werden. Diesen Diskurs aktiv mitzugestalten, muss eines der zentralen gymnasialen Bildungsziele für junge Menschen werden. Überschreiben würde ich dieses Projekt gerne mit dem Satz eines Jungen aus einer siebten Klasse: »Nun aber habe ich verstanden, dass man verstehen muss, um zu wissen.«
Wissen entsteht ja ausschließlich in einer lebendigen Auseinandersetzung, durch Begegnungen mit Fremdem und aus der daraus erwachsenden Neugierde. Wissen ist nicht etwas, was zu Begegnung und Neugierde (und Abwägen, Diskutieren, Vergleichen, Differenzieren, Argumentieren und Begründen) noch irgendwie hinzukommt oder dem gar vorausgeht. Wissen entsteht in und aus diesen Prozessen und entwickelt sich ständig weiter. Dass diese kreativen Auseinandersetzungen in der Schule vor allem über den »Stoff« und über die bereitgestellten Wissensinhalte in Gang kommen, versteht sich von selbst. Es ist nicht »der Stoff als solcher«, der Lernen mühsam macht. Es ist die Art der Auseinandersetzung, die von mir verlangt wird. Dieselben Jugendlichen, die erhebliche Mühe mit einem auf das Auswendiglernen von Vokabeln und Regeln basierenden Fremdsprachenunterricht bekunden, bereiten sich nämlich andererseits jedes Jahr von Neuem monatelang in Theater- und Musicalprojekten durch Auswendiglernen von Text, Tanz und Noten auf die Darbietung kultureller Höhepunkte ihres jugendlichen Lebens vor. Am Auswendiglernen und dessen Unbeliebtheit kann es also nicht liegen, wenn gewisse Fächer von den Jugendlichen als Quälerei erlebt werden. Es liegt wohl eher daran, dass sie die Bedeutung nicht erkennen können. Sie können den Sinn dessen, was sie zu lernen gezwungen sind, und wie sie es tun müssen, nicht erkennen. Offenbar kann gymnasialer Unterricht zu oft die nötigen Plausibilitäten nicht schaffen, die eine Schülerin oder ein Schüler braucht, um sich in ein Thema hineinzuknien. Es liegt also nicht am ungeliebten Auswendiglernen, aber auch nicht an den Ablenkungen durch die »bösen Medien«, an zu viel Freizeitstress und an unbekümmerten Eltern. Es hat in erster Linie mit einem überholten und anachronistischen Lernsetting zu tun, das nicht sehen kann, wie es selbst die Probleme produziert, unter denen es dann leidet. Solange man die entsprechenden Zusammenhänge jedoch nicht sehen kann, bleiben diese natürlich ausgeblendet, und man führt Ursachen an, die alle außerhalb der Schule zu liegen scheinen. Das nennt man einen klassischen blinden Fleck.
Jimmy Wales, der Mitbegründer von Wikipedia, äußert sich dazu im ZEIT-Magazin vom 11. Dezember 2008 wie folgt: »Frontalunterricht durch Lehrer, die Stoffe nach vorgeschriebenen Plänen in die Hirne unserer Kinder hämmern, hat mit der Art, wie junge Menschen heute lernen, nichts mehr zu tun. Sie werden die Welt zunehmend selbst entdecken und dabei ihren eigenen Interessen folgen.« Und für den Bereich der Universitäten träumt er hiervon: »Prüfungen wird es immer geben, aber die Lehre an den Universitäten wird sich wandeln. Professoren werden zu Mentoren, die die Entwicklung ihrer Studenten begleiten. Unsere Wissensvermittlung wird kundenorientierter werden. Zum Glück« (Wales 2008). Ein längst implementiertes und nachhaltiges Mentorenmodell für die universitäre Bildung hat Birger P. Priddat an der Universität Witten/Herdecke entwickelt (Priddat 2002). Dieses Modell zeichnet sich in erster Linie durch ein verändertes Selbstverständnis der Lehrenden aus.
Und in einem der unzähligen Leserbriefe, die im Umfeld eines Rankings der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich Anfang 2009 publiziert wurden, lese ich: »Statt Millionen in weitere Studien zu stecken, sollten wir Methoden entwickeln, die das Lernen individualisieren. Den Stoff wie zu Gotthelfs Zeiten an die Wandtafel zu schreiben oder – noch schlimmer – im Minutentakt auf Folien zu präsentieren, ist ineffizient und für die Studierenden demotivierend. In einigen Jahren werden interaktive Lernumgebungen, animierte Lernsequenzen, computergestützte Simulationen und eine Vielzahl korrekter Wikis den Alltag der Studierenden prägen« (Werner Maurer, Tages-Anzeiger vom 23. Januar 2009).
Für mich lautet eine ganz wesentliche Antwort auf die Frage, warum wir regelmäßig zu lesen bekommen, was Studienanfänger immer noch nicht können: Das gymnasiale Schulsystem hat es noch immer nicht geschafft hat, die Modelle der Osterhasendidaktik (der Lehrer versteckt das Wissen, die Lernenden suchen es) und der Bulimie-Pädagogik hinter sich zu lassen und durch ein zeitgemäßes Bildungsverständnis und alternative Lernformen zu ersetzen. Das fällt vor allem deswegen so schwer, weil hinter dieser »Kultur« nicht nur ein Menschen-, sondern ein Weltbild steht, eine bestimmte Vorstellung davon, was Wissen ist, wie mit Wissen umgegangen wird, und es hat eine Menge damit zu tun, wie die Lehrenden von heute ihr eigenes Schülerdasein erlebt haben, und damit, dass sie dieses in den allermeisten Fällen nie wirklich reflektieren und kritisch verarbeiten konnten. Mit den Worten des Gehirnforschers Gerald Hüther: »Die Generation der Eltern, Lehrer und Kultusbeamten, ›die an den negativen Erfahrungen ihrer eigenen Schulzeit noch immer leiden‹, so Hüther, könne sich unglücklicherweise gar nicht vorstellen, dass ihre Kinder gerne in eine Schule gingen, wo sie keinen Lehrplan und ›weder Angst vor Lehrern noch vor Lernkontrollen‹ hätten« (Jasner 2012, S. 89 f).
Der »blinde Fleck« ist nichts anderes als eine verhängnisvolle Form des Nichtwissens. Obwohl durch unzählige Studien, Untersuchungen, Analysen und Publikationen längst bekannt ist und also gewusst werden kann, welches die Herausforderungen sind, vor denen das Gymnasium heute steht, fasst dieses Wissen innerhalb des »Systems Gymnasium« nicht Fuß. Die Gymnasien, ihre Schulleitungen und viele ihrer Lehrpersonen »wissen trotz Wissen« nicht, wie sie aus dem Teufelskreis ihrer traditionellen Bulimie-Pädagogik herausfinden können. Das liegt am Kernproblem des Gymnasiums, dass es mit Wissen nicht anders umgehen kann als über eine Art der Vermittlung, die unfruchtbar bleibt, die hauptsächlich der Selektion dient und dem Aufrechterhalten einer überholten Struktur. Das meiste, was im Kontext von Lehrer-, Schul- und Unterrichtsentwicklung angeboten wird, kommt ja auch wieder nur in Form von »Wissensvermittlung« daher und nicht als ein Angebot zur Entwicklung von Kompetenzen. Der blinde Fleck ist also nicht allein deswegen so lästig, weil er einen daran hindert, etwas Bestimmtes zu sehen. Das wirklich Teuflische an ihm ist ja, dass er sich selbst so unauffindbar verstecken kann. Wie es aussieht, muss das Gymnasium sein traditionelles Selbstverständnis als »Wissensvermittlungsanstalt« radikal in Frage stellen, damit es überhaupt erst einmal sehen kann, woran es krankt.
Und die Jugendlichen? Die wollen und brauchen einen Abschluss, also tun sie gut daran, die von uns für sie gesteckten Ziele zu erreichen beziehungsweise wenigstens so zu tun, als ob – und da liegt der Hund begraben. Es ist der Hund, den wir am Gymnasium mit mehr oder weniger didaktischer Liebesmüh zum Jagen tragen. Aber warum sollten Jugendliche einen Jagdinstinkt (»Interesse und Motivation«) entwickeln, wenn der Tisch so oder so gedeckt ist und das Essen serviert? Die Ziele stehen fest, die Wege dorthin auch, denn guter Unterricht ist im herkömmlichen gymnasialen Kontext ein gut organisierter Unterricht, ist gut geplanter Unterricht, ist inhaltlich vorgegebener Unterricht, ist eben Unterricht. Die Pädagogin Gabriele Miller schrieb dazu vor etwas mehr als zwanzig Jahren: »Im Übrigen ist die Schule als solche ›zum Weglaufen‹, aber sie ist der einzige Ort, um zu jenen Papieren zu kommen, die Karriere und Erfolg versprechen; darüber hinaus spielt der Kanon der Lehrinhalte keine Rolle. Also wird die Schule mit stoischer Gleichgültigkeit (dann und wann auch mit handfesten Aggressionen) durchgestanden« (Miller 1993).