Kitabı oku: «Von der Freiheit, ich zu sein», sayfa 4
Die zentrale Medizin
Für den heutigen Morgen steht das Aufräumen des Projektlandes auf dem Plan. Es sind nur noch zwei Tage, bevor der Workshop beginnt. Doch bevor es an die Arbeit geht, trifft sich das Team im Küchengebäude zu einem der üppigsten Frühstücke, die ich je erlebt habe. Irgendjemand findet sich immer, der ungefragt einen Haufen Eier brät, eine andere bereitet frisches Obst zu. Pedro, der großartig kocht und seine Fähigkeiten zum Wohle aller während des Projektbetriebs einbringt, zaubert einen Schokoladenporridge. Von allem gibt es Unmengen.
Pedro ist Brasilianer und in den Favelas Rios aufgewachsen. Schon im letzten Jahr habe ich mitbekommen, dass er als Kind von seinem alkoholkranken Vater schlimm terrorisiert wurde. Damals erzählte er, dass er manchmal Schwierigkeiten hätte, Anteile seines Vaters nicht auf Christian zu projizieren. Dummerweise hieß auch sein Vater Christian, was für ihn eine scharfe Trennung der beiden Persönlichkeiten noch schwieriger zu machen scheint. Oberflächlich betrachtet ist Pedro ein liebevoller und glücklicher junger Mann. Doch ab und zu triggert irgendetwas seine Schattenseite und es öffnet sich ein dunkler Abgrund, aus dem es unbeherrscht und aggressiv brodelt. In solchen Momenten arbeitet er sein Vaterthema offen an Christian ab. Ihre Beziehung ist von einem extrem dynamischen Auf und Ab geprägt. Das bringt an manchen Tagen die Atmosphäre um sie herum zum Knistern und fühlt sich gar nicht gut an. An anderen Tagen wieder liegen sich die beiden in den Armen. Das ist überhaupt etwas, was im Mindfulness Project häufig zu beobachten ist. Es ist eine der wichtigsten Übungen, die zentrale Medizin. Im Projekt geht es um Heilung auf allen Ebenen. Heilung der unfruchtbaren thailändischen Erde und Heilung wunder Volontärseelen.
Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, wie wichtig dabei körperliche Nähe ist. Eine Umarmung stimuliert Billionen Rezeptoren und schüttet das Kuschelhormon Oxytocin sowie das Glückshormon Serotonin aus. Stress wird gemildert, die Herzfrequenz sinkt, Angst wird reduziert, Vertrauen wächst. Und so krault hier schon morgens zwischen Porridge und Obstsalat jede jedem den Kopf, massiert und kuschelt. Das beste Ergebnis versprechen Umarmungen von mindestens 20 Sekunden Länge. Es ist so auffällig anders als in dem Leben, aus dem ich komme, dass es mir völlig unnatürlich erscheint. Ich habe Schwierigkeiten, mich darauf einzulassen. Für mich wirkt es geradezu befremdlich, dass alle acht Teammitglieder in einer Beziehung zueinander stehen und Zärtlichkeiten austauschen, wie es normalerweise nur Pärchen tun. In meiner Welt ist die Vorstellung, dass derartige Nähe mit einem Menschen meiner Geschlechtspräferenz in Sex mündet, fest verankert. Trotzdem probiere ich täglich von neuem, meine Grenzen zu lockern und so wird die gefühlte Ewigkeit, die das Frühstück jeden Morgen dauert, für mich zur Übungszeit.
Beim Abwasch des Geschirrs an der offenen Spüle neben dem Küchengebäude fällt mein Blick auf ein kleines Häuschen. Frieda, eine Volontärin aus Island meint, dass sich ein Badezimmer darin verbergen würde. Im ersten Moment scheint diese Entdeckung die Lösung für mein nächtliches Toilettenproblem. Doch als ich die Tür öffne, wird klar, dass der Raum schon Jahre keinen menschlichen Kontakt mehr hatte und sich höchstens zu Studienzwecken über Renaturierung eignet. Neben Undefinierbarem liegt auch eine tote Ratte in der Dusche, die als solche nicht mehr zu erkennen ist. Weder die Ratte, noch die Dusche. Hier zu putzen, geschweige denn die Toilette zu benutzen... das traue ich mich nicht. Es wird sich schon eine Lösung finden. Jetzt müssen wir erst einmal an die Arbeit, die Zeit läuft.
Beide Grundstücke liegen 15 Minuten zu Fuß oder fünf Minuten mit dem Motorrad voneinander entfernt. Eigentlich ein schöner Fußweg, wären die großen Hunde der anderen Bauern nicht. An manchen Tagen fangen sie dich mitten auf dem Weg ab und kommen im Rudel wild kläffend, die Zähne gefletscht von ihren Grundstücken angerannt. Vor einer Woche wurde eine Volontärin ins Bein gebissen, obwohl sie auf einem Motorrad fuhr. Sie trug eine blutende Wunde davon und hatte große Angst, sich mit Tollwut infiziert zu haben. Die Hunde sehen zwar ungepflegt und räudig aus, aber zum Glück ist ihre Befürchtung nicht eingetreten. Mit diesem Angriff haben die Köter aber deutlich gemacht, dass sie nicht bluffen. So wird jeder Fußweg zu einem Abenteuer und ein langer, stabiler Stock mein ständiger Begleiter.
Ein Rezept
Schokoladenporridge à la Pedro
Zutaten
120 g Haferflocken
200 ml Wasser
200 ml Mandelmilch
2 EL Kakaopulver
2 EL Ahornsirup
1 EL Cashewmus
Anleitung
1. Haferflocken, Wasser, Mandelmilch, Kakao und Ahornsirup in einen Topf geben und unter Rühren aufkochen. Hitze reduzieren, Cashewmus unterrühren.2. Porridge bei kleiner Hitze für ca. 5 Minuten köcheln lassen bis eine cremige Konsistenz entstanden ist.3. Porridge in zwei Schüsseln anrichten und nach Belieben mit Bananenstücken, Granatapfelkernen, Nüssen, Kakao Nibs und etwas Ahornsirup garnieren.
Guten Appetit!
Swami Atmas Kernkompetenz
Unser Retreat ist gleichzeitig auch Startschuss für die neue Projektsaison und es gibt eine Menge zu tun. Die offene Küche, die durch nichts geschützt wochenlang der Natur ausgeliefert war, ist Gretas und meine erste Aufgabe. In Hochzeiten wird hier für über vierzig Menschen gekocht. Wir schrubben, waschen und fegen, bis uns der Schweiß in bräunlichen Rinnsalen die Stirn hinunter läuft. Neben dem ganz normalen Naturschmutz, müssen wir leider auch den einen oder anderen Bewohner entfernen. Unter ihnen eine extrem große, fleischige Spinne ohne Haare mit glatter Haut. Sie trägt einen Kokon mit ihrer Brut unterm Bauch und hat sich tief in einem Faß eingenistet, das demnächst wieder eine Mülltonne sein wird. Allein sie anzuschauen, kostet Überwindung. Es ist eine Mischung aus urwüchsigem Ekel und Faszination. Niemand wagt es, sie in die Freiheit zu setzen und so legen wir die Tonne in die Begrünung des kleinen Sees, gleich neben der Küche und warten bis sie von allein einsieht, dass es Zeit ist umzuziehen. Nachdem das wenige Stunden später dann auch geschehen ist, landet die Tonne wieder als Müllplatz in der Küche. Wäre die Küche aus Edelstahl und nicht aus Spanplatten gebaut, würde sie jetzt blitzen und blinken. Nicht nur die Küche, auch wir sind fix und fertig. In der Nacht nutze ich den Garten, um mein Bedürfnis zu verrichten. Das erhoffte Wunder tritt leider nicht mehr ein. Ich habe wirklich eine Blasenentzündung und leihe mir ein Antibiotikum von Anja, dass der Entzündung die Spitze nimmt. Aber nur die Spitze. Das Gefühl bleibt, dass mit meiner Blase etwas nicht in Ordnung ist.
Dann ist es soweit und Christian fährt mit den Retreatteilnehmern vor. Das Projektland hat sich unter geeinter Kraft in ein wildes Paradies verwandelt. Es ist bereit, Heim für die auf der Ladefläche des Pick-ups sitzenden, eng aneinander geschmiegten jungen Menschen zu werden. Neun Frauen, ein Mann. Alle sehen von der Fahrt über die Autobahn zerzaust, aber voller Erwartung glücklich aus. Die nächsten acht Tage werden wir alle zusammen im sogenannten Dorm schlafen, einer großen Halle mit Lehmboden und halbhohen Wänden zu allen vier Seiten. Sie ist aus Baumstämmen konstruiert und zum Himmel hin mit einem Wellblechdach geschützt. Ihr Lehmboden ist jetzt mit Bastmatten bedeckt und von einer Taubespannung unter der Decke hängen bunte Moskitonetze, die die Schlafplätze voneinander trennen. Einen kurzen Fußweg durchs frisch geschorene Gras, runden zwei Toiletten und ein paar Eimerduschen das Hygienekonzept ab.
Am nächsten Morgen fahre ich mit Anja und Greta nach Khon Kaen, um Swami Atma am Flughafen abzuholen. Er kommt aus Rishikesh in Nordindien, der Hochburg des Yogas, um uns in der Lehre der Chakren und des Klangs zu unterrichten. Swami Atma sieht aus wie einem Bilderbuch indischer Mythen entstiegen. Er bringt äußerlich alles mit, was man sich von einem Guru, einem Lehrer der Yogaphilosophie, erhofft. Lockiges, langes Haar, dass ihm schwarz mit silbrigen Strähnen durchwirkt auf die Schultern fließt. Eine Haut, die schimmert wie karamellfarbene Seide und in einer beeindruckenden Farbharmonie zu seiner orangefarbenen Swamirobe steht. In seinen tiefdunklen Augen liegt eine Mystik, die man nur bei Menschen indischer Herkunft zu finden vermag. Aber über all seinem Glanz liegt auch ein feiner grauen Schleier. Swami Atma hat fast 40 Grad Fieber. Der Norden Indiens ist in diesem Jahr stark mit dem tropischen Dengue Fieber kontaminiert. Auch hier in Khon Kaen soll es einige Fälle geben. Das könnte die Ursache für sein Unwohlsein sein. Wir hoffen, dass es nur ein grippaler Infekt ist und bringen ihn erst einmal in Pedros Haus, wo er die nächsten acht Tage wohnen wird.
In einem späteren Gespräch erzählt Swami Atma mir, dass er im Gurukulam bei Swami Veda gelernt hat. Das Gurukulam ist die Schule des Himalayan Institute in Rishikesh, dem Mutterashram der Yogatradition, in der ich initiiert bin. Wir müssten uns also schon einmal begegnet sein. 2007 gab es dort zum fünfzigsten Jubiläum von Swami Veda ein großes Get-together mit mehr als 300 Menschen aus aller Welt. Vier Wochen lernten und feierten wir damals im Sadhaka Grama Ashram. Swami Atma war als Ansprechpartner einer holländischen Gruppe zugeteilt, für die er jeden Abend Yoga Nidra anleiten sollte. Yoga Nidra ist eine Tiefenentspannung, die auch der yogische Schlaf genannt wird. Alle körperlichen, geistigen und seelischen Aktivitäten sollen dabei zur Ruhe kommen und man verweilt für die Dauer der Übung in einem Zustand zwischen schlafen und wachen. Swami Atma war recht frisch in seiner Ausbildung und hatte noch keine Routine im Anleiten dieser Übung. Aber er wußte sich zu helfen. Kaum lagen die Teilnehmer seiner Gruppe auf dem Boden, den Scheitelpunkt ihrer Köpfe ihm zugewandt und die Augen geschlossen, nahm er die Kopfhörer seines Discmans und sprach Wort für Wort nach, was Swami Veda ihm auf seiner Yoga Nidra CD vorsagte. Auch die extrem langgezogenen Betonungen einiger Silben übernahm er eins zu eins. Alle waren begeistert und eine Probandin sagte sogar, dass sie noch nie eine so tiefe Erfahrung aus dem Yoga Nidra hatte mitnehmen können. Als Swami Atma uns diese Anekdote erzählt, will er gar nicht aufhören zu lachen. Überhaupt hat er die wunderbare Gabe, weder sich, noch irgendetwas anderes zu ernst zu nehmen.
Swami Atma praktiziert den Nada Yoga. Den Yoga des Klangs. Er ist einer der ältesten Yogawege und fußt auf der Annahme, dass die gesamte Schöpfung aus Schwingung besteht und dass alles mit allem über Schwingung verbunden ist. Dass es der Urton (Anahat-Nad) war, der sich als erste Schwingung manifestierte, ihm weitere Schwingungen folgten, woraus sich dann das gesamte Universum entfaltete. Im Yoga ist es die Ursilbe OM, die sich als Schwingung aus dem Urton entwickelte. Sie ist der Urklang. Noch heute soll dieser Ton gemäß der Lehre die Schöpfung durchdringen und sie am Leben erhalten. Ihm wird eine heilende Kraft zugesprochen und so wird Nada Yoga seit Jahrtausenden praktiziert, um Harmonie und Einklang zu erfahren. Swami Atmas Kernkompetenz liegt in der Aktivierung der Chakren, der feinstofflichen Energiezentren im Körper durch Klänge. Dazu benutzt er Klangschalen, eine Cosmic Drum und Mantren. Er kombiniert Yoga Nidra mit diesen Schwingungen und singt mit schöner Stimme. Und obwohl es ihm nicht immer gelingt, die rundesten Töne aus den Instrumenten zu zaubern, führt mich sein erstes angeleitetes Yoga Nidra in einen hypnotischen Zustand. Es ist, als würde ich meinen Körper verlassen und über ihm schweben. Ich sehe mich da unten liegen, in tiefem Frieden mit mir selbst, aber unfähig mich zu bewegen. Davon möchte ich mehr! Doch Swami Atma ist richtig krank und sehr geschwächt. Er schafft es gerade noch am nächsten Morgen zu unterrichten, dann verschwindet er für ein paar Tage im Bett.
Ich bin immer noch ein bisschen angestrengt von dem engen Klosterrhythmus und gar nicht böse über ein wenig frei verfügbare Zeit. Doch Anja und Christian wissen sehr gut, diese zwei Swami-freien Tage zu füllen und so geht es auch ohne ihn stramm getaktet zwischen Yogaeinheiten, Meditationen und Vorträgen weiter. Meine absoluten Highlights dieser Tage sind das hervorragende Essen und der Moment, in dem die Klingel des Eis-Mopeds ertönt. Eine alte Thai Dame aus einem nahen Dorf bietet ihr selbstgemachtes Cocos-Eis in unserer Mittagspause zum Verkauf an. Es ist köstlich und für wenige Baht zu haben.
Was hast du heute gelernt?
Jeden Abend nach dem Essen versammeln wir uns zum Gesprächskreis in unserem Yoga-Sala. Yoga-Sala nennt sich der zweite wellbeblechte Holzbau, in dem alles außer kochen, schlafen, duschen und Toilette stattfindet. Das Wichtigste für diese allabendliche Zusammenkunft ist eine gute Imprägnierung gegen die jetzt sehr aktiven Moskitos. Eine junge Schottin reagiert auf die Stiche so allergisch, dass sie sich weinend unter ihrem Moskitonetz versteckt und den Abbruch des Retreats in Erwägung zieht. Es sind vor allem die gemeinen Tigermücken, die zur Dämmerung ihr Unwesen treiben. Auch Greta reagiert ängstlich auf diese Blutsauger, vor deren Stachel eigentlich nur der in den 50er Jahren für die US-Army entwickelte und sehr umstrittene Stoff DEET Sicherheit bietet.
Wenn alle gut geschützt mit Spray und Tüchern bedeckt im Kreis Platz genommen haben, eröffnet Christian die Runde mit einem kurzen Vortrag über eine buddhistische Weisheit. Dann folgen zwei Fragen. Die erste ist ein harmloser Appetizer und leicht zu beantworten: “Was war dein schönster Moment heute?” oder “ Was hast du heute gelernt?”. Die zweite zielt tiefer und erwartet, offen vor der Gruppe über die eigene Wahrheit zu sprechen. Frei vor einer Gruppe zu reden, ist per se nicht einfach. Vor fremden Menschen einen Seelenstriptease hinzulegen, fügt dem ganzen eine Würze hinzu, die nicht nach jedermanns Geschmack ist. So stößt in dieser Woche eine der Fragen auf ganz besonderen Widerstand bei mir. Sie lautet: “Was tust du, damit andere Menschen dich nett finden? Was ist deine Strategie?” Ich stocke innerlich und finde es im ersten Moment total doof, öffentlich über so etwas zu sprechen. Außerdem habe ich mir darüber noch nie Gedanken gemacht. Als allererstes kommen mir dazu Strategien anderer in den Sinn. Zum Beispiel, in eine niedliche Kleinkindstimme zu verfallen. In meinen Augen bewirkt das zwar genau das Gegenteil von Sympathie und doch tue ich es selbst manchmal. Ich glaube, meine Strategie ist, mich zu erklären, mit all meinen dunklen Seiten. Offenzulegen wie unperfekt ich bin und vor allem, wie destruktiv ich manchmal denke. Ich mache mich klein, um weniger gefährlich zu scheinen. Doch am Ende ist es egal, welche Methode ein jeder verfolgt. Das Ziel ist immer gleich: “Schau her, ich tu doch nichts.”
Diese Erkenntnis habe ich schnell gefasst, aber es fügt sich der Druck hinzu, als Älteste hier meine Antwort in schlaue und weise Worte zu verpacken. Ein Talkingstick geht herum und wer ihn in der Hand hält, darf sprechen. Bis ich an der Reihe bin, habe ich Zeit, mir ein paar Sätze zu überlegen. Theoretisch. Aber meine Multitasking Fähigkeit ist begrenzt, ich kann nicht zuhören und denken zur selben Zeit. Das stresst mich. Mit ungutem Gefühl beobachte ich das Näherkommen des Stocks. Als er mich erreicht, lasse ich meinem Redefluss freien Lauf. Komme vom Hölzchen zum Stöckchen, umkreise das Thema weitläufig und sage nichts von dem, was ich sagen wollte. Als ich den Stock weitergebe, habe ich trotzdem das Gefühl, verstanden worden zu sein.
Jeden Abend zeigt sich aufs Neue, dass es eigentlich nebensächlich ist, welche Frage gestellt wird. Die Antwort kommt immer aus dem Umfeld des Themas, das die Gefragte in diesem Moment am meisten beschäftigt. Helen aus Hamburg, eine junge Frau, die allein für ein paar Wochen Südostasien bereist, erzählt von ihrer Schwester. Von einem Tag auf den anderen Tag erlitt sie vor zwei Jahren eine extreme Persönlichkeitsveränderung, die mit der Diagnose einer Krankheit erst richtig Fahrt aufnahm, die durch den gleichnamigen Film als „Feuer im Kopf“ bekannt wurde. Eine Autoimmun-Hirnentzündung, die zu Krampfanfällen, Psychosen, Atemstörung und Koma führen kann. Zwei Jahre begleitet Helen mit ihrer ganzen Familie den Prozess. Sie erzählt von den Kraftanstrengungen und dem Horror, der alle fest im Griff hatte und immer noch hat, denn ihre Schwester ist nie wieder die Alte geworden.
Die Themen der jungen Menschen drehen sich meist um ihre Ursprungsfamilie. Es geht um die Folgen erfahrenen Liebesentzugs und um die Nichterfüllung von an sie gestellten Erwartungen, hinsichtlich ihrer beruflichen, aber auch ihrer privaten Entwicklung und immer noch um das konservative Lebenskonzept von Heirat, Kinderkriegen versus Ausbruch aus den gesellschaftlichen Normen. Dem von den Eltern erwarteten nächsten Schritt, auf ein abgeschlossenes Studium eine berufliche Karriere folgen zu lassen versus der Freiheit, sich auf low budget in ein Projekt wie diesem hier einzubuchen und sich mit Themen wie Liebe und Buddhismus auseinanderzusetzen. Es geht um Essstörungen, Liebeskummer, Selbsthass, um Einsamkeit, darum, die eigene Homosexualität anzunehmen und erfahrenen Missbrauch zu integrieren. So geliebt zu werden, wie man ist. Als das, was man ist. Gemessen zu werden an dem, wer man ist und nicht an dem, was man tut. Und das bedingungslos. Ich würde mir wünschen, dass das Recht, zumindest von seinen eigenen Eltern bedingungslos geliebt zu werden, in die Grundrechte eines jeden Menschen aufgenommen wird. Unter Strafe bei Nichteinhaltung. Bedingungslose Elternliebe ist die Basis für eine barrierefreie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und für den Start in ein glückliches Leben.
All diese Themen sind mir nicht fremd, aber meine Lebenszeit hat mich mittlerweile darüber hinaus geführt. Mir wird auf diesem Workshop klar, dass das Mindfulness Project für meine eigene Entwicklung nicht der nächste Schritt sein kann. Bleibe ich hier, nehme ich die Mutterrolle für all die verlorenen Kinder ein. Ernte neben Mutterbild-Projektionen eventuell auch Zuneigung und Bewunderung, aber beschäftige mich ausschließlich mit Themen, die nicht mehr meine sind. Ich brauche ein erwachseneres Umfeld, um selbst zu wachsen.
Mit dieser Klarheit steigt Unmut in mir auf. Obwohl ich die Inhalte des Workshops, die Unterrichtseinheiten von Anja, Christian und Swami Atma, der mittlerweile wieder gesund ist, sehr schätze, geht mir der strenge Zeitplan auf die Nerven. Ich will weg! Ich sehne das Ende der acht Tage herbei. Ich habe einfach unterschätzt, wie ich auf einen strengen, über drei Wochen vorgegebenen Tagesablauf reagiere. Zehn Tage im Kloster, drei Tage im Haus von Anja und Christian, acht Tage mit Swami Atma markieren ganz klar meine persönliche Obergrenze an Fremdbestimmung. Ich stehe kurz vor einem Gruppenkoller und glaube, Greta geht es ganz ähnlich. In den letzten Tagen habe ich sie häufiger nur noch von hinten auf dem Sozius eines Motorrads gesehen. Sie hat sich mit einer Volontärin angefreundet und nutzt jede Chance, das Weite zu suchen. Es wird Zeit, dass unsere gemeinsame Reise beginnt.
Vielleicht ist ja auch der Tod impermanent
Der letzte Tag unseres Retreats fällt wieder auf einen Buddhatag und nachdem wir alle gepackt haben, fahren wir gemeinsam nach Khon Kaen. Noch einmal besuchen wir das Kloster Ban Non Taan. Mein erster Weg führt in die Massageschule. In der 2qm kleinen Umkleidekabine, in der alle Klienten ihre Alltagskleidung gegen ein Massage Outfit tauschen, hängt schon Swamis Robe. Es hat etwas sehr Amüsantes, nach den letzten acht Tagen sein orangefarbenes Gewand plötzlich ohne Inhalt und für jeden frei zugänglich hier in der Kammer zu finden. Nach der Massage ist der heutige Höhepunkt seine Yogastunde in der großen Buddhahalle. Die Thais, glücklich über die willkommene Ablenkung, kichern, quietschen und gackern sich in die Haltungen hinein. Es ist die lebendigste Yogaeinheit der letzten Wochen und ein würdiger Abschied von Swami Atma.
Ein letztes Mal in diesem Jahr gehe ich über das friedliche Klostergelände in Richtung Ausgang, als meine Augen einen kleinen Hund erblicken, der vorsichtig zwischen den Beinen eines Mönchs hervorlugt. Was für eine Überraschung! Es ist der kleine Hund, der in unserem Meditationsretreat wie tot davongetragen wurde. Wie durch ein Wunder hat er die Attacke seines großen Artgenossen mit mehrfach gebrochener Wirbelsäule überlebt. Ein wenig zerzaust, das Fell nach der Operation noch nicht ganz nachgewachsen, erinnert er an eine Figur aus dem Stephen-King-Roman „Friedhof der Kuscheltiere“. Vielleicht ist ja auch der Tod impermanent?
Unser Abschied von Khon Kaen fällt auf das Ok Phansa Fest, mit dem das Ende der Regenzeit in der Isaan Region, aber auch das Ende der Buddhistischen Fastenzeit gefeiert wird. Wo sonst allabendlich die Stände des Nachtmarkts am Seeufer aufgebaut sind, ist für heute ein Volksfest entstanden. Alle Bewohner der Stadt scheinen versammelt, um mit selbstgebastelten Lichtbooten den See zu erhellen, zu essen und zu feiern. Für ein paar Stunden stürze ich mich ins asiatische Gewühl und genieße die kulinarischen Spezialitäten der Isaan Region. Curries, Papaya Salat und Vegetarisches vom Spieß. Dabei treffe ich immer wieder auf Teilnehmer des vergangenen Retreats. Wir verabschieden uns, halten uns 20 Sekunden in den Armen und geben uns gegenseitig den Segen für eine gute Weiterreise. Schon morgen werde ich mit Greta nach Chiang Mai fliegen.
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