Kitabı oku: «Elfenzeit 7: Sinenomen», sayfa 2

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»… wird Talamh nicht anfassen!« Nadja stand auf. Ihre Stimme klang gepresst. Der Gedanke, ihr Sohn könne der Dunklen Frau in die Hände fallen, entsetzte sie. »Niemals, verstehst du? Niemals!«

Robert hob die Hände. »Beruhige dich. Anne meint es nicht so, wie es klingt. Lass uns in Ruhe darüber reden.«

Anne trat neben ihn. Nadja fühlte sich bedroht von der Front, die beide bildeten. Ihr Blick glitt zur offenstehenden Tür und dem flackernden Feuerschein dahinter.

»Nein«, sagte sie, während sie die Arme fester um Talamh schloss. »Wir werden nicht darüber reden. Ich kenne Anne nicht. Ich weiß nicht, was sie plant, aber ich dachte, ich kenne dich, Robert. Stimmt das? Kenne ich dich noch?«

Bei der letzten Frage zuckte er zusammen. Emotionen glitten in schnellem Wechsel über sein Gesicht. Nadja sah Scham und Schuldgefühle. Er sah aus wie ein Dieb in der Nacht, der plötzlich in gleißendes Licht getaucht wurde und wusste, dass er nicht mehr fliehen konnte.

»Also nicht«, sagte sie. Die Worte schmeckten bitter.

»Nein, du missverstehst das. Es geht um etwas, dass ich dir schon eben sagen wollte.« Robert stand auf. Es sah aus, als wolle er zur Tür gehen, aber Nadja ließ ihn nicht so weit kommen. Mit der Schulter stieß sie ihn zurück, dann drückte sie Talamh gegen ihre Brust und lief los. Aus dem Augenwinkel sah sie ihn gegen Anne prallen, dann hatte sie den Raum auch schon verlassen.

»Nadja! Warte!«, rief Robert ihr nach, aber sie blieb nicht stehen.

Emma drehte den Kopf, als Nadja sich dem Feuer näherte. »Was ist los?«, fragte sie.

»Wo geht es raus?«

Mike zeigte wortlos auf einen breiten Gang. Nadja griff nach einer Taschenlampe, die auf einem Hocker lag, und lief weiter. Emma stand auf, versuchte aber nicht, sie aufzuhalten.

»Was ist denn nur los?«, rief sie ihr nach.

Nadja tauchte in die Dunkelheit des Gangs ein. Der Lichtkegel der Taschenlampe glitt über Scherben und Müll. Nadja lief, bis Talamh in ihren Armen zu weinen begann. Dann blieb sie schwer atmend stehen, schaltete die Taschenlampe aus und lauschte in die Dunkelheit. Formen tanzten vor ihren Augen. Irgendwo tropfte Wasser. Schritte hörte sie keine.

Sie war allein.

Nadja wiegte Talamh in ihren Armen. Nach nur wenigen Minuten hörte er auf zu schreien. Die sanft schimmernde Aura, die ihn in der Dunkelheit stets umgab, reichte aus, um zu sehen, dass ihm die Augen zufielen. Nadja wartete, bis er eingeschlafen war, dann leuchtete sie in den Gang hinein. Er endete einige Meter entfernt in einer Wendeltreppe aus Metall. Daneben hing ein Schild mit einem schräg nach oben deutenden Pfeil und der Aufschrift Ausgang.

Erleichtert atmete Nadja auf. Sie hatte sich also nicht verlaufen. Den Lichtkegel zu Boden gerichtet, ging sie weiter. Die Betonplatten waren uneben und zum Teil zerbrochen. Darunter sah Nadja Steine. Anscheinend war der Tunnel älter als der Bunker, zu dem er führte. Es roch nach Rauch und Urin.

Im Geiste sah Nadja sich bereits in den Straßen Berlins stehen, umgeben von kühler Nachtluft, auf der Suche nach einem Telefon. Tom, ihr »Wohnungssitter«, würde ihr Geld zukommen lassen müssen, damit sie den nächsten Zug nach München nehmen konnte. Dort würde sich alles weitere schon ergeben.

»Du kennst ja noch nicht einmal dein Zuhause«, flüsterte sie dem schlafenden Talamh zu.

Der Gedanke an München brachte ungewollt auch den an Robert zurück. Etwas stimmte nicht mit ihm, das spürte Nadja deutlich. Sie wusste nicht, ob das allein an Anne lag oder ob es noch etwas anderes gab, etwas, das ihn verändert hatte. Es wirkte jedenfalls so.

Sie schob den Gedanken zur Seite, als sie die Wendeltreppe erreichte, und leuchtete nach oben. Der Lichtkegel traf durch die Gitter der Stufen hinweg auf eine gewölbte Decke. Jemand hatte einen gelben Smiley auf den Stein geklebt. Nadja lächelte unwillkürlich und setzte einen Fuß auf die unterste Stufe.

Es knirschte.

Nadja zog erschrocken den Fuß zurück, glaubte im ersten Moment, die Treppe würde aus der Wand gerissen, doch dann verwandelte sich das Knirschen in das Quietschen einer sich öffnenden Tür. Rasch nahm Nadja die Taschenlampe herunter und schaltete sie aus. Das Geräusch kam von oben.

»Sind wir hier richtig?«, fragte eine Männerstimme.

»Ja klar«, antwortete eine zweite. Ein Lichtkegel zuckte über die Decke und blieb an dem gelben Smiley hängen. »Der markiert den Eingang.«

»Und wie weit ist es dann noch?«, mischte sich eine dritte Stimme ein.

»Nicht weit. Und es lohnt sich, das werdet ihr schon sehen.«

Der Lichtkegel löste sich von der Decke und traf ein rundes, in der Helligkeit bleich wirkendes Jungengesicht.

»Das will ich für dich hoffen, Toby«, sagte der Träger der Taschenlampe. »Wir haben echt Besseres zu tun, als durch diesen Scheiß zu laufen und ein paar Punks zu klatschen.«

Toby. Nadja wich zurück. Das war der Name des Drogendealers, von dem Emma gesprochen hatte.

Schwere Stiefel knallten auf die Metallstufen. Stimmen sprachen durcheinander. Lichtkegel strichen über Decken und Wände. Nadja unterschied mindestens ein Dutzend Stimmen, alles männliche. Sie hörte Ketten rasseln und drehte sich um. Toby hatte wohl doch nicht so einfach aufgegeben.

Der Lärm der Eindringlinge weckte Talamh. Er begann sich zu regen. Nadja drückte ihn gegen ihre Brust und lief durch die Dunkelheit zurück. Ihr Fuß stieß gegen eine Dose, die scheppernd über den Boden rollte.

»Was war das?«, rief eine noch nicht gehörte Stimme hinter ihr. Die Geräusche verstummten. Lichter zuckten über den Boden. Nadja hielt den Atem an, als einer keinen Meter von ihr entfernt den Beton anstrahlte.

»Hier unten gibt’s Ratten und Fledermäuse«, sagte Toby. »Da hört man immer irgendwas.«

»Okay«, sagte die dritte Stimme. Sie schien dem Anführer zu gehören. »Felix, Mehmet, ihr bleibt am Eingang, falls sich einer verpissen will.«

»Geht klar, Vic.«

Nadja wartete, bis sie erneut Schritte hörte, dann ging auch sie weiter. Sie spürte ihren Herzschlag bis in die Schläfen, zwang sich jedoch, nicht zu rennen. Sie trug Talamh. Wenn sie über eine der zertrümmerten Betonplatten stolperte, konnte er sich verletzen.

Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis Nadja den rötlichen Feuerschein am Ende des Gangs sah. Sie drehte den Kopf. Die Lichtkegel der Taschenlampen waren weit hinter ihr. Die lange Wendeltreppe hatte die Eindringlinge aufgehalten.

Nadja ging schneller. Nach einem Moment sah sie die Menschen, die rund um das Feuer saßen, dann Anne und Robert, die abseits standen und mit Emma sprachen. Robert breitete gerade die Arme aus, so als beteure er seine Unschuld.

»Da ist sie«, sagte Anne, als Nadja ins Licht des Feuers trat.

Robert wirkte erleichtert. »Du hast das alles missverstanden«, begann er, aber Nadja ließ ihn nicht ausreden, wandte sich stattdessen an Emma.

»Toby ist zurück mit mindestens einem Dutzend anderer«, sagte sie leise. »Ich glaube, sie sind bewaffnet.«

Emma blinzelte. Nadja hatte sie für die eigentliche Anführerin der Gruppe gehalten, doch als sie in das hilflos wirkende Mädchengesicht blickte, begann sie an ihrer Einschätzung zu zweifeln.

»Gibt es einen anderen Weg nach draußen?«, fragte sie mit einem Blick auf den dunklen Gang.

»Was ist los?«, wollte Robert wissen.

Nadja schüttelte nur den Kopf. »Emma«, drängte sie. »Wir müssen hier raus.«

»Ja, ich weiß.« Das Mädchen zögerte, schien dann jedoch eine Entscheidung zu treffen. »Leute?«

Die Menschen am Feuer sahen auf.

»Toby und seine Gang sind hier. Schnappt euch, was …«

Weiter kam sie nicht. Hektisch sprangen die ersten auf, zogen andere mit sich. Stimmen riefen durcheinander. Eine Frau griff nach einem brennenden Holzscheit und fuchtelte wie mit einem Schwert herum.

»Wer ist Toby?«, fragte Robert, doch im gleichen Moment tanzten Lichtkegel durch den Gang. Nadja fuhr herum, sah einen dunkel gekleideten Jugendlichen mit rundem, hassverzerrtem Gesicht und hoch erhobenem Baseballschläger in den Bunker stürmen. Mit einem Schlag zertrümmerte er einige Flaschen, die auf einem Tisch standen.

»Das ist Toby«, stellte Nadja ihn vor.

»Scheiße.« Robert zog sie zurück, als weitere Eindringlinge in den Raum stürmten. Die meisten hielten Knüppel oder lange Ketten in den Händen, einer hatte Stacheldraht um ein Brett gewickelt. Sie schlugen und traten um sich, schienen sich nicht dafür zu interessieren, wen oder was sie trafen.

Die Menschen am Feuer stoben auseinander wie Laub, in das der Wind fuhr. Planlos stolperten sie auf die Gänge zu, kaum einer ließ sich auf einen Kampf ein.

»Wir könnten sie besiegen«, sagte Anne. Nadja war sich nicht sicher, wen sie mit wir meinte, und sie fragte auch nicht nach. Stattdessen ergriff sie Emmas Arm. »Komm.«

»Wohin?« Nicht Emma stellte die Frage, sondern Mike. Er stand neben ihr, eine abgeschlagene Bierflasche in der Hand.

»Tiefer in die Gänge hinein«, antwortete Robert. »So wie du, als du dich verlaufen hast und an einem anderen Ausgang heraus kamst.«

»Ich hab keine Ahnung, wo der ist.« Mike schrie über den Lärm und die Schreie hinweg, ließ sich aber mitziehen. Feuerschein tanzte in seinen großen, schwarzen Pupillen.

»Passt auf die Hunde auf«, rief Toby nahe dem Feuer. »Macht mit den Losern hier, was ihr wollt, aber rührt die Hunde nicht an, okay?«

»Ja, schon gut«, rief Vic zurück. »Wie oft willst du das noch sagen?«

Nadja schob Emma mit einer Hand vor sich her, während sie mit der anderen Talamh festhielt. Ihr Sohn hatte die Augen geöffnet und betrachtete das Chaos. Er wirkte unbeteiligt, nicht ängstlich.

»Wo müssen wir hin?«, fragte Anne. Sie schloss zu Robert auf, aber ihr Blick war zurück gerichtet, auf den Kampf und die Flüchtenden.

Mike zeigte auf einen Gang, in den bereits einige Menschen liefen, unter ihnen auch der stark hinkende Krücke. »Dorthin.«

Rauch und Feuer gaben ihnen Deckung. Einige Pappkartons glimmten. Die Frau mit dem brennenden Holzscheit hatte sie in Brand gesetzt.

»Nichts werdet ihr kriegen!«, schrie sie, während sie mit dem Scheit um sich schlug. »Nichts!«

Toby und die anderen schienen die Gefahr zu erkennen, die von ihr ausging. Sie umzingelten die Frau, trieben sie von den Kartons, einer Wand entgegen. Immer wieder sprangen sie zurück, wenn das brennende Holzscheit in ihre Richtung gestoßen wurde, lachten jedoch dabei. Es war ein Spiel, und im Gegensatz zu der Frau hatten sie längst begriffen, wer es gewinnen würde.

»Pass auf, Marie«, rief Toby grinsend. »Ich krieg dich!«

Sie fuhr herum. Vic nutzte die Gelegenheit und schlug ihr mit dem Baseballschläger gegen die Schulter. Mit einem Aufschrei ließ Marie das Holzscheit fallen. Toby stieß es mit dem Fuß beiseite und holte mit seinem Knüppel aus.

»Schluss!«

Die Stimme hallte durch den Bunker. Das Läuten einer Kuhglocke begleitete sie. Nadja sah, wie Krone ins Licht des Feuers trat. Er reckte das Kinn vor und trug den Stab mit der Glocke wie ein Zepter.

»Toby«, sagte er. »Wieso störst du unseren Frieden?«

Die Eindringlinge drehten sich zu ihm um. Rauchschwaden umgaben sie, nahmen Nadja die Sicht auf das, was vor ihr geschah. In ihren Armen begann Talamh zu husten. Das Geräusch riss sie aus ihrer Erstarrung.

»Wir müssen ihnen helfen«, sagte sie.

Robert schüttelte den Kopf. »Es sind zu viele. Denk an deinen Sohn.«

Er ergriff Nadjas Arm und zog sie in den Gang hinein. Widerwillig folgte sie ihm, wohl wissend, dass er Recht hatte, aber trotzdem voller Schuldgefühle. Sie warf einen letzten Blick hinter sich. Durch die Rauchschwaden sah sie Toby, der den Baseballschläger senkte und langsam auf Krone zuging. Marie erkannte ihre Chance und lief geduckt auf Nadja und die anderen zu. Niemand versuchte sie aufzuhalten.

»Weshalb ich euren Frieden störe?« Toby spuckte das Wort aus wie einen Fluch. Er blieb vor Krone stehen. Rauch hüllte ihn ein.

»Wir müssen weg, so lange sie abgelenkt sind.« Anne klang ungeduldig.

Nadja drehte sich zögernd um.

»Weil ich es kann«, sagte Toby hinter ihr. Sie hörte ein nasses, klatschendes Geräusch, dann Gelächter.

Marie tauchte neben ihr auf. Ihr Gesicht war rußgeschwärzt und verzerrt.

»Helft mir!«, stieß sie hervor.

Nadja verdrängte den Gedanken an Krone und ergriff Maries Hand. »Komm.«

Die Dunkelheit nahm sie auf.

2.
Überlebende

Der Donner war ohrenbetäubend.

Rian glaubte, dass ihr Kopf platzen müsse. Der Lärm war so gewaltig, dass er nicht nur ihr Gehör beeinträchtigte, sondern überall in ihrem Körper Echos zu erzeugen schien. Sie wusste nicht mehr, wo oben und unten war und ob sie das dem infernalischen Kampf auf dem Idafeld zuzuschreiben hatte, oder ob es nicht bereits an dem Weltentor lag, in das sie gerade recht unsanft hineingeschubst worden war.

Sie hörte ihren Bruder rufen, verstand aber kein Wort. Wieder bebte der Boden unter Rians Füßen, das Donnern der aufbrechenden Erde erschütterte ihr ganzes Sein bis ins tiefste Innere.

Ragnarök, schoss es ihr durch den Kopf. Die Welt geht unter.

Nichts wird mehr so sein, wie es war.

Doch bevor sie um die Welt trauern konnte, die gerade zerbrach, wurde Rian auf einmal am Arm gepackt und mitgezerrt, gleichzeitig erhielt sie erneut einen Stoß von hinten. Die Hitze eines Vulkanausbruchs fegte über sie hinweg.

Das Feuer, das alles verschlingt! Nadja! Das Kind! Die anderen! Sie wusste kaum, wie ihr geschah, sie fühlte nur, dass jemand sie festhielt und nicht loslassen wollte. Sie wurde mitgerissen, wirbelte herum und versuchte, das, was sie hielt, zu umklammern. Das vertraute Rauschen eines Portals umgab sie, in das sie immer tiefer hineingezogen wurde und das sie mit sich fortriss. Die Sekundenbruchteile, in denen sie durch diesen Tornado wirbelte, dehnten sich zu einer Ewigkeit, doch schließlich ließ der Schwindel nach und sie fiel.

… und fiel.

*

»Au!« Rhiannon, Prinzessin der Sidhe Crain, tat die gesamte rechte Seite weh, einschließlich der Schläfe. Außerdem war es kalt.

Sie war unsanft zu Boden gestürzt. Einem harten, mit kurzem Gras bewachsenen Boden, soweit sie ertasten konnte. Immerhin schien sie noch zu leben. War sie bewusstlos gewesen? Wahrscheinlich. Sie erinnerte sich an einen schier endlosen Fall, totale Dunkelheit und eine ebenso vollständige Orientierungslosigkeit, bevor alles wie ausgelöscht war.

Sie blieb ruhig liegen und versuchte sich daran zu erinnern, was geschehen war. Der Kampf! Das Heulen des Fenriswolfs. Schmerz, Schreie, Nadja, ihr Kind Talamh, Pirx, Grog, ihr Vater … und all die anderen. Wie war der Kampf wohl ausgegangen?

Warum war sie überhaupt durch das Tor … oh. Richtig. Der Getreue. Er hatte David und sie durch ein Portal gestoßen, um … sie in Sicherheit zu bringen? Warum? Bisher hatte er versucht, Rian und ihren Bruder entweder zu töten oder zu fangen. Woher kam auf einmal dieser Wandel?

Die Welt ist wohl nicht untergegangen, dachte Rian. Denn ich lebe noch. Aber wo bin ich?

Sie musste zu sich kommen, die Benommenheit abschütteln. Die Schmerzen machten ihr bewusst, dass sie nicht auf feinen Linnen gebettet lag und von Dienern versorgt wurde. Wo auch immer der Getreue sie hingeschickt hatte – die Heimat war es nicht.

Die Lider gehorchten ihr noch nicht, waren zu schwer. Sie stöhnte und versuchte, sich mit geschlossenen Augen zu orientieren. Der Boden war hart und eben, wie bereits festgestellt, drückte auf ihren Hüftknochen. Ihre Finger griffen in trockene Grasbüschel. Die Geräusche um sich herum konnte sie nicht richtig wahrnehmen, in ihren Ohren lag immer noch ein Nachhall, ein Rauschen und Summen dessen, was sie hinter sich gelassen hatte.

Sie sog die Luft tief durch die Nase ein. Es roch frisch und ein wenig salzig, als wäre ein Meer in der Nähe. Daher das Brausen in ihren Ohren! In regelmäßigen Rhythmen klatschten Wellen an den Strand, nicht allzu weit entfernt.

Ihre Lider zuckten, und blinzelnd konnte sie sie jetzt langsam öffnen. Sie richtete sich ein wenig auf und sah sich verschwommen um.

Wie erwartet, befand sie sich nicht in der Anderswelt – derart klare, sonnige Tage gab es nur im Reich der Menschen. Wenn sie aufstand, würde sie vermutlich den Boden unter den Füßen verlieren und einen knappen Zentimeter darüber schweben. Das war eine der seltsamen magischen Sachen, die nicht erklärt werden konnten.

Rian staunte. Ein nicht endenwollender, weißer Strand lag nicht weit entfernt von ihr, bis zum Horizont erstreckte sich ein blaues Meer, das in größeren und kleineren Wellen heranbrandete. Ein blauer, weiß durchsetzter Himmel, an dem hoch eine strahlende Sonne stand. In der Ferne waren Möwen zu hören, ihre sonst schrillen, klagenden Laute klangen noch ein wenig dumpf. Rians Gehör würde eine Weile brauchen, bis es sich endgültig erholt hatte.

Sie versuchte aufzustehen. Doch kaum war sie halb hochgekommen, gaben ihre Beine wieder unter ihr nach. Mist. Offenbar hatte sie sich den linken Knöchel verstaucht, und das rechte Knie hatte eine Prellung davongetragen.

Wütend saß Rian wieder auf dem grasig-sandigen Boden. Das kurze Gras sah aus, als sei es von Tieren abgeweidet worden. Kühe? Pferde? Lebten Menschen in der Nähe?

Rian unternahm einen neuen Versuch, sich hochzurappeln. Vorsichtig. Diesmal gelang es, sie stand, wenn auch etwas wacklig, auf beiden Beinen und stakste wie ein Storch im Salat ein paar Schritte auf eine kleinere Erhebung zu, die einen besseren Überblick über die Landschaft versprach. Sie musste wissen, wo sie war.

Es fiel ihr schwer, den sandigen Hügel hinaufzukommen, der linke Knöchel schmerzte und das rechte Knie ließ sich kaum anwinkeln. Der Arm war durch den Sturz ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen worden, er war aufgeschürft und brannte.

Rian seufzte befreit, als sie es geschafft hatte; als wäre es eine großartige Heldentat, dachte sie ironisch bei sich. In der Ferne sah sie weiße Watteflöckchen, und der Wind wehte leises Blöken herüber. Rian stand auf dem höchsten Punkt der weiten Schafweide. Dahinter erhoben sich unverkennbar Palmen.

Bis vor kurzem war sie auch in der Nähe eines Meeres gewesen, mit Schafweiden … und einem riesigen Gletscher. Island. Doch im Gegensatz zu dort war es hier warm, die Farben intensiv. Alles, was recht war – der Getreue hatte sie tatsächlich in Sicherheit gebracht, und außerdem an einen anheimelnden Ort. Aber warum nicht nach Hause, zum Baum der Crain? Hatte er etwa schon wieder etwas mit ihnen vor?

»Was für ein seltsamer Landstrich«, murmelte sie stirnrunzelnd. »Eine Schafweide mit Palmen. Wo gibt es so etwas wohl in der Menschenwelt?«

»Was weiß ich«, knurrte es auf einmal unterhalb von ihr, hinter einer Düne vor dem Strand. Rian stieß einen erschrockenen Laut aus, verlor den Halt und sank zu Boden. Ihr Herz raste. »David! Bist du das?«

»Wer denn sonst?«, ließ sich die Stimme erneut vernehmen, jetzt schon näher. Dann stolperte er um die Düne, stapfte mit erschöpftem Gesicht zu ihr hoch und ließ sich neben ihr hinplumpsen. »Schön, dass du dich wieder an mich erinnerst.«

Rian hob die Augenbrauen. »Ich konnte spüren, dass du lebst, und hätte mich als Nächstes nach dir auf die Suche gemacht – aber zuerst mal musste ich selbst zu mir kommen und mich orientieren«, erwiderte sie.

David warf ihr einen ungnädigen Blick zu. »Dafür, dass du erst letzthin noch rumgejammert hast, dass du mich an Nadja und meinen Sohn verlierst, bist du jetzt ziemlich gelassen.«

Rian schwieg. Eine Weile sagte keiner von beiden ein Wort.

»Ich habe wirklich Angst. Ich spüre, dass du mir entgleitest, David«, offenbarte sie schließlich. »Das gilt immer noch. Aber als ich aufgewacht bin, hatte ich nicht dieses Gefühl. Ich wusste, du bist in der Nähe und ich muss keine Sorge haben.« Sie machte eine Pause und suchte wieder nach Worten, die sie nicht fand. Es hilft nichts. Ich kann nicht andauernd darüber nachdenken, ob ich David irgendwann einmal verliere. Was auch immer mit ihm passiert, weil es Nadja in seinem Leben gibt, das Band zwischen uns wird nie zerreißen. Aber jetzt und hier ist nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken.

Sie spürte Davids fragenden Blick auf sich. Trotzdem – sie hatte keine Lust, ihm Rede und Antwort zu stehen. Sie hatten wichtigere Probleme. Wo sie sich befanden, was mit Nadja und den anderen war, was überhaupt auf Island geschehen war. Die Welt existierte noch, also musste irgendjemand Fenrir und Ragnarök aufgehalten haben. Sie sollten daher zusehen, dass sie so schnell wie möglich nach Hause kamen. Doch dazu mussten sie erst einmal ein Portal finden …

»Also, was meinst du, wo wir sind?«, fragte Rian scheinbar leichthin.

»Ich weiß es nicht«, antwortete David. »Ich habe so eine Landschaft noch nie gesehen. Es ist nicht im Entferntesten wie zu Hause, oder Island, auch wenn es Schafe gibt. Aber die Palmen da hinten …«

»Ich glaube, wir sind gar nicht mehr in Europa«, murmelte sie. »Schafe und Palmen … das muss weit weg sein, vielleicht in Indien …«

»Da gibt’s Dschungel.«

»Keine Palmen?«

Er zuckte die Achseln.

»Was dann? Amerika?«

»Nee. Darüber hat mir Robert so manches erzählt.«

»Du bist nicht sehr hilfreich!«, beschwerte Rian sich.

David grinste leicht. »Ich vermute, wir sind auf einem anderen Kontinent, aber nicht Amerika. Sondern wieder eine Insel. Irgendwo in der Südsee, oder Afrika …«

»Australien?«

Sie sahen sich an und prusteten los, steigerten sich in hysterisches Gelächter.

»Wir sind also gestrandet«, fing Rian schließlich wieder von vorn an. »Der Getreue hat uns gerettet und wie üblich keine Wegbeschreibung mitgegeben.«

David nickte, seine Miene verfinsterte sich. »Ich wollte, dass er Nadja und meinen Sohn rettet! Aber ich hätte wissen müssen, dass er sich nicht daran hält!«

»Du denkst, er hat Nadja und Talamh nicht …«

»Ich weiß nicht, was er getan hat. Wann weiß man das schon je bei ihm! Nichts passt mehr zusammen.«

Sie legte die Hand auf seinen Arm. »David, der Getreue hat seine Königin verraten, als er Nadja von Irland wegbrachte. Er will nicht, dass ihr etwas geschieht, aus welchem eigennützigen Grund auch immer. Doch er will Nadja und Talamh lebend. Also hat er sie bestimmt wieder rechtzeitig in Sicherheit gebracht.«

»Aber wohin diesmal?« Er schlug auf den Boden und riss Grasbüschel aus. »Seit Monaten bin ich von ihr getrennt, Rian! Ich habe meinen Sohn noch nicht einmal im Arm gehalten und ihn weniger als zwei Minuten gesehen! Ich ertrage das bald nicht mehr!« Er sprang auf, wandte sich von ihr ab und starrte aufs Meer hinaus.

Rian blieb einen Moment sitzen, versuchte zu verstehen, was ihn so sehr bewegte. Die Liebe war ihr fremd, nach wie vor, und dass David auf einmal so ungeduldig war … es musste an der Zeit liegen, am Bewusstsein, dass er sterblich war und eine Seele in ihm heranwuchs. Ihr Bruder glich sich immer mehr den Menschen an, hatte Zeitnöte, Sorge, dass er nicht mehr hinterherkam …

Aber was konnte sie für ihn tun?

Doch, da gab es etwas. Sie stand auf. »Pass auf, David. Der Elfenkanal ist durchlässiger geworden, seit Bandorchu den Stab beim Ätna gesetzt hat. Ich werde versuchen, etwas herauszufinden. Vielleicht erfahren wir so, ob Nadja und Talamh in Ordnung sind.«

David schwieg, aber er warf seiner Schwester einen dankbaren Blick zu. Rian wandte sich ab und schloss die Augen. Sie konzentrierte sich und blendete die strahlende Sonne, das Rauschen des Meeres und das Kreischen der Möwen aus.

Ihre Sinne dehnten sich aus. Doch sie konnte keinen Kontakt herstellen. »Kannst du denn deinen Sohn nicht spüren?«, fragte sie leise.

»Natürlich«, antwortete er. »Er ist überall. Lausche in dich hinein, du kannst ihn auch wahrnehmen. Doch das ist sein Geist. Ich weiß nicht, ob sein Körper unversehrt ist, und ich kann Nadja nirgends finden. Du warst in diesen Dingen sowieso immer besser als ich.«

Daraufhin dehnte sie ihre Sinne erneut aus. Vielleicht konnte sie erfassen, wie die Schlacht ausgegangen war. Verluste – es hatte Verluste gegeben. »Schlimme Verluste«, murmelte sie kaum hörbar. »Ich weiß nicht, ob es unsere Seite oder die der anderen betrifft.«

»Alle Seiten«, erwiderte David. »Zuletzt mussten alle gegen Fenrir antreten, und wer weiß, wie viele Opfer er gefordert hat.«

Rian verzog das Gesicht und rieb ihr lädiertes Knie. »Das nächste Problem ist – in erreichbarer Nähe gibt es kein Portal.«

»Jede Wette, der Getreue hat es genau darauf angelegt, um uns so lange wie möglich hierzubehalten. So weit wie möglich weg von allem Geschehen.«

»Also dann, gehen wir einfach los und finden heraus, wo wir sind, und wie wir von hier wegkommen. Eins nach dem anderen.«

Ihre Knieverletzung machte das Gehen schwer, sie war kaum in der Lage, es abzuknicken und es schwoll zusehends an. Aber auch die tiefe Schnittwunde an Davids Arm, die sie ebenfalls spürte, begann jetzt stärker zu schmerzen. Sie hörte ihren Bruder hinter sich leise vor sich hinfluchen, aber sie achtete nicht darauf. Ihrer Erfahrung nach würde es besser sein, über etwas Unwichtiges zu plaudern, damit er abgelenkt wurde. Sie schwelgte in Erinnerungen über Paris und ihren Job als Model dort, wie umschwärmt sie gewesen war von allen bedeutenden Modeschöpfern dieser Welt, hatte immer die angesagtesten Klamotten tragen können, Nougat und Glitzerschmuck kaufen … »Sie lagen mir alle zu Füßen.«

Erwartungsgemäß ließ David einige gepfefferte Sätze über Pariser In-Modeschöpfer fallen, die sowieso alle dekadent seien und immer genau das Falsche für wirklich schön hielten und überhaupt nie in der Lage seien, sowohl funktionale als auch schöne und zeitlose Mode zu kreieren.

Als ob er etwas davon verstünde!, dachte Rian amüsiert. Vor allem das mit der Dekadenz gefiel ihr – darin waren schließlich die Elfen absolute Meister. Jedenfalls hatte der Trick mit der Ablenkung funktioniert, und sowohl David als auch sie selbst wurden zusehends munterer. Irgendwann konnte ihr Bruder sogar mitlachen. Das war gut, denn seit seine Seele wuchs, war er viel zu häufig mürrisch und verschlossen. Wenig elfentypisch.

Rian blieb stehen und warf einen intensiven Blick über die sonnenbeschienene Landschaft. Sie hätte angenommen, dass Menschen, die Schafe hielten, nicht allzu weit entfernt lebten. Doch die Weide zog sich scheinbar endlos über die grünen Hügel, die sich wiederum, nur unterbrochen von kleinen Wäldchen mit Palmen und anderen exotischen Gewächsen, bis zum Horizont zogen, der an einen nach wie vor blauweißen Himmel stieß.

Plötzlich blieb sie stehen, und David, der nicht aufgepasst hatte, lief auf sie auf.

»Was ist jetzt schon wieder?«

Rian verdrehte die Augen. »Streng deine Elfenaugen mal ein bisschen an. Zwischen den beiden Hügeln dort vorn steht nämlich etwas, das uns vielleicht weiterhelfen könnte.«

David kniff die Augen zusammen, dann glättete sich seine Stirn: Die Ecke eines Dachgiebels, der braunglänzend in einer Senke zwischen den mit graugrünem Gras bewachsenen Bodenwellen hervorlugte.

»Das ist ein Haus. Oder sowas in der Art jedenfalls. Nichts wie hin!«

Auf einmal war er wieder ganz er selbst, energiegeladen und nach vorn drängend. Mit langen Schritten steuerte er auf das Haus zu, und Rian sah zu, dass sie humpelnd hinterherkam.

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