Kitabı oku: «Sprachliche Höflichkeit», sayfa 2

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2.3 Konjunktur der Höflichkeit als Pressethema

Eine weitere Ebene des Wissens über Höflichkeit kann man durch die Analyse der in der Presse dokumentierten Diskurse erfassen. Um einen Eindruck zu bekommen, werfen wir einen kurzen Blick auf ziemlich willkürlich ausgewählte Zeitungsartikel, in denen über Höflichkeit geschrieben wird und im anschließenden Kapitel auf einige Buchpublikationen, die sich mit diesem Phänomen auseinandersetzen. Die Auswahl sollte geeignet sein, öffentliches Sprechen über Höflichkeit exemplarisch zu dokumentieren und diskursanalytisch zu fragen, welche Ideen sich dahinter verbergen. Die Frage, auf die wir hier eine Antwort suchen, lautet also: „Worüber spricht man genau, wenn man außerhalb von Etikettetexten über Höflichkeit spricht?“

Zunächst stößt man dabei wieder auf Knigge und die Knigge-Gesellschaft. Im Jahr 2013 wurde Über den Umgang mit Menschen 225 Jahre alt. Die Zeit widmete diesem Jahrestag einen Artikel, in dem differenziert über das Lebenswerk des Freiherrn berichtet wird und in dem unterstrichen wird, dass Knigge mit Anstandsregeln nichts zu tun hatte. „Knigge war kein Freund von Anstandsregeln“ lautet die Überschrift des Textes von Hellmuth Vensky (2013). Darin wird auch über die Aktivitäten der Knigge-Gesellschaft berichtet. Auf journalistisches Interesse stoßen insbesondere die angebotenen Benimmkurse, in denen Lernziele wie Benehmen bei Tisch, Begrüßungsrituale oder Dresscodes verfolgt werden. Sie gelten als Soft SkillsSoft Skills, die in vielen Bereichen der Gesellschaft, u.a. im Berufsleben, eine immer wichtigere Rolle spielen. Betont wird, dass die Nachfrage nach Benimmkursen in den letzten Jahren zugenommen hat und dass dies auch daran liegt, dass sich die Verhaltensstandards geändert haben. Das wiederum führt zu Unsicherheit und dann zu Beratungsbedarf. Ganz im Sinne der Vorgaben der Knigge-Gesellschaft wird darauf verwiesen, dass es nicht um eine Reglementierung des Verhaltens gehen kann, dass vielmehr das Bauchgefühl in vielen Fällen eine gute Orientierungshilfe ist: „Oft gibt der gesunde Menschenverstand schon die richtige Benimm-Marschrichtung vor“ so ein Trainer (Schleufe 2012).

In manchen (wohl eher vornehmen) Stadtvierteln werden Benimmkurse auch für Kinder angeboten. So lautet beispielsweise die Überschrift eines Artikels in der SZ: „Benimm dich! Grüßen, essen, richtig sitzen: Im feinen Münchner Süden soll Kursleiterin Sophie von Seydlitz Achtjährige Manieren lehren“ (Lutz 2015). Es geht um Kinder, die schon viel darüber wissen, was anständiges Benehmen ist. Sie sollen in dem Kurs aber lernen, dass es um mehr geht als die richtige Handhabung der Gabel: „Gutes Benehmen bedeutet Respekt: Respekt vor anderen zeigen und selber respektvoll auftreten.“ Das Beispiel zeigt, dass Höflichkeit und alles, was mit ihr zusammenhängt, ein Ziel von Erziehung ist. Ist es nötig oder wünschenswert, Kinder auf die Befolgung von Regeln „abzurichten“, oder sollte Erziehung zur Höflichkeit mehr leisten? Die Antwort auf diese Frage verweist auch auf das Weltbild der Erziehungsberechtigten. Die Ziele der Eltern werden so charakterisiert: „Seine Tochter soll das Rüstzeug bekommen, um in einer Welt zu bestehen, in der ManierenManieren einen hohen Stellenwert haben. Das sollen die Kinder schon früh lernen“ (Lutz 2015). Solche Aussagen zeigen deutlich, wie zeit- und gruppenabhängig die Einstellung zu Höflichkeit und Manieren ist. Was auch immer die hehren Ziele solcher Kurse sein mögen, am Ende geht es darum, dass die Kinder einen Tisch richtig decken und gemeinsam essen, ohne zu schlürfen. Die Kursleiterin korrigiert Körperhaltung und den Umgang mit Messer und Gabel.

Auch der als unzureichend empfundene Umgang mit Höflichkeit in Schulen bietet immer wieder Anlass für die Berichterstattung: „Kein Platz für SchimpfwörterSchimpfwort“ – eine katholische Grundschule in Nordrhein-Westfalen erklärte sich zur „schimpfwortfreien Zone“ (Aprin 2014). Die Schule löste damit kontroverse Reaktionen aus. Selbst Vorschriften über angemessene GrußformelnGrußformel stießen auf mediale Aufmerksamkeit: „Passauer Schulleiterin verbannt ‚Tschüs‘“ (so Spiegel online auf der Grundlage einer dpa-Nachricht): „Sie erklärt ihre Schule zur ‚Tschüs- und Hallo-freien Zone‘“ und fordert stattdessen: „In Bayern heißt das ‚Grüß Gott!‘“ Der Präsident des Bayerischen Lehrerverbands BLLV schließt sich an: „Die Schüler müssen den richtigen Ton finden“ (Cornelius 2012).

In vielen Bereichen des Alltags- und des Berufslebens spielt Höflichkeit, wie Zeitungsartikel widerspiegeln, eine große Rolle. In der Presse finden sich Verweise auf den Digital-Knigge der Telekom, in dem Regeln für das digitale Benehmen formuliert werden (SZ.de 2010a) sowie auf verschiedene Bereiche des studentischen Lebens: In Zeit online (Kutter 2012) wird über Höflichkeit in studentischen Mails an Professoren reflektiert. Unter der Überschrift: „Hallöchen Herr Professor. Warum schreiben Studenten so unhöfliche E-Mails? Weil sie es nicht besser wissen“, wird die (Un)Angemessenheit von AnredeformenAnredeform im akademischen und medialen Kontext erörtert.

Besonders intensiv wird Höflichkeit im Bereich des Einzelhandels diskutiert. Dabei offenbart sich auch die Ambivalenz und Komplexität des Phänomens. Ein Artikel trägt diese Überschrift: „Der neue Zwang zur FreundlichkeitFreundlichkeit. Einzelhändler verfolgen eine neue Strategie: Sie zwingen ihre Mitarbeiter zu Höflichkeitsfloskeln und Nettigkeit. Die leiden unter dem Diktat“ (Schimansky 2012). Das Problem, um das es hier geht, kann man einfach zusammenfassen: EinzelhändlerInnen in Deutschland haben festgestellt, dass ihre KundInnen zufriedener sind, wenn sie im Geschäft höflich oder freundlich behandelt werden. Und wenn KundInnen zufrieden sind, dann laufen auch die Geschäfte gut. Also wurden die MitarbeiterInnen dazu aufgefordert, die KundInnen freundlich anzulächeln, sich zu bedanken und natürlich immer zu grüßen. Mit anderen Worten: höflich zu sein. Es stellt sich aber sehr schnell heraus, dass das leichter gesagt als getan ist. Oft merken die KundInnen, dass es sich um aufgesetztes Verhalten einer professionellen Höflichkeitprofessionelle Höflichkeit handelt und fühlen sich auf den Arm genommen – das ist noch schlimmer als unhöflich behandelt zu werden. Eine Einzelhandels-Mitarbeiterin, die im Artikel zitiert wird, erzählt,

[…] wie sehr sie sich manchmal zusammenreißen müsse, um die freundlichen Sätze über die Lippen zu bekommen. ‚Das ist schwierig, denn viele Kunden werden persönlich.‘ Oft merkten die Kunden, dass die Mitarbeiterin nur Floskeln aufsage, statt sich ernsthaft um sie zu kümmern. ‚Viele werden wütend, wenn man sie mit 08-15-Sätzen abspeisen will.‘ Ihr fällt es schwer, sich zu entschuldigen, wenn sie es nicht so meint. Oft beißt sie dann auf die Zähne und lächelt. (Schimansky 2012)

Höflichkeit ist auch eine Frage des richtigen Ausmaßes und vor allem der Glaubwürdigkeit. Es ist sehr fraglich, ob man sich oder jemandem Höflichkeit antrainieren und dabei „echt“, authentisch und aufrichtig wirken kann.

Der Einzelhandel ist in Sachen Höflichkeit aber nicht nur wegen solcher Vorschriften bekannt. Hier gibt es auch das Phänomen des „Verkäuferinnen-Du“, also eine seltsame Mischung aus förmlicher und informeller Anrede: „Frau Müller, kannst du mir mal 20 Euro wechseln?“ Darauf verweist ein weiterer Artikel, in dem Höflichkeit zum Thema gemacht wird: „‚Du, Frau Müller‘: Die richtige Begrüßung erfordert viel Fingerspitzengefühl. Was zwischen ‚Du‘ und ‚Sie‘ alles schieflaufen kann, ergründet die AnredeforschungAnredeforschung“ (Straßmann 2013). In diesem Text geht es um die Anrede und um die Frage, welche der verschiedenen möglichen Formen jeweils passend ist. Der Autor verweist auf die Tatsache, dass es im Deutschen eine vertrauliche Anredevariante und eine Höflichkeitsform gibt. Er beschreibt die Tendenz, in immer mehr Kontexten das Du zu verwenden und damit das nachzuvollziehen, was sich in skandinavischen Ländern schon verändert hat: „In den skandinavischen Ländern ist bereits jede spezielle Höflichkeitsform dem demokratischen ‚Du‘ gewichen.“ Dem liegt offenbar die Annahme zugrunde, dass erstens Höflichkeit darin liegt, Distanz zu den GesprächspartnerInnen zu wahren (und nicht durch das Du Vertrautheit zu signalisieren). Und zweitens, dass Höflichkeit eher der aristokratischen Sphäre angehört, das Du eher dem demokratischen Diskurs. Eine weitverbreitete Annahme, die aus der Perspektive der linguistischen Höflichkeitsforschung noch zu diskutieren sein wird.

Gerade im Tourismus stoßen unterschiedliche Höflichkeitstraditionen und unterschiedliche Formen der Realisierung von Höflichkeit aufeinander. So zeigt sich sehr schnell, dass in unterschiedlichen Regionen und erst recht in unterschiedlichen Ländern bzw. Kulturen auch sehr unterschiedliche Formen des Umgangs miteinander existieren. Diese Unterschiede können leicht zu Konflikten oder zumindest zur Unzufriedenheit von Gästen führen. So wird in einem Artikel (SZ.de 2010b) über eine Höflichkeitsstudie in Frankreich berichtet. Der Erhebung zufolge sind die Französinnen und Franzosen gegenüber TouristInnen nicht nett genug: „Besucher aus dem Ausland empfänden die Franzosen oft als ‚arrogant, sogar verächtlich‘, sagt die Tourismusberaterin […].“

Solche Eindrücke ergeben sich durchaus auch dann, wenn keine größeren Sprach- oder Kulturbarrieren vorhanden sind. Klagen von deutschen BesucherInnen, z.B. über die Unhöflichkeit von Berliner TaxifahrerInnen, sind fast schon an der Tagesordnung. Auch in der Kommunikation zwischen Deutschen und SchweizerInnen erschweren Unterschiede in den Umgangsformen die Verständigung. Als Beispiel sei hier eine Passage aus einem Artikel aus Zeit online zitiert:

Der Schweizer ist in der Regel viel höflicher im Umgang mit seinen Mitmenschen. Das wird schon in der Tram (die hier ‚das Tram‘ heißt) deutlich, wo man an den Endhaltestellen täglich höflich begrüßt und auch verabschiedet wird vom Fahrer. Ein ähnliches Bild zeigt sich im Supermarkt: Höflichkeitsfloskeln wie ‚Merci‘, ‚Danke‘, ‚Bitte‘ werden wohl in keinem anderen Land so oft verwendet wie hier. (Bertram 2014)

Der Artikel beschreibt die Unterschiede im Kommunikationsverhalten als unterschiedliche Grade von Höflichkeit, die das eine oder das andere Land auszeichnen. Auch das hört und liest man oft. Briten sind höflicher als Deutsche, Franzosen sind höflicher als Spanier usw. Wir werden in Kapitel 7.2 noch ausführlicher darauf zurückkommen. Hier mag der Hinweis genügen, dass der weit verbreitete Eindruck, manche Kulturen oder Sprachen seien höflicher als andere im Wesentlichen auf unzulässigen Verallgemeinerungen und einem diskussionswürdigen Verständnis von Höflichkeit beruht. Was uns hier interessiert, ist der Höflichkeitsbegriff, der sich in solchen Behauptungen manifestiert: Er ist sehr stark am Begriff der Etikette orientiert, er identifiziert Höflichkeit mit der Realisierung von für die jeweilige Situation vorgeschriebenen Sprechhandlungen und wertet ein Ausbleiben der jeweiligen Handlung als Unhöflichkeit. Also: Wer immer schön und sehr oft bitte und danke sagt, der (oder die) ist höflich, wer das nicht tut, ist unhöflich. Das ist aus der Perspektive einer linguistischen Höflichkeitsauffassung sehr verallgemeinernd und vor allem abstrahiert es von den Äußerungskontexten. Unstrittig ist allerdings, dass sich Kulturen auch in den Höflichkeitskonventionen qualitativ voneinander unterscheiden und dass diese Unterschiede die interkulturelle Kommunikationinterkulturelle Kommunikation erheblich erschweren können.

Interessanterweise wird vereinzelt auch auf problematische Aspekte der Höflichkeit hingewiesen. In einem Artikel (Blawat 2011) geht es um Kommunikationspannen. Die Überschrift lautet: „Die dunkle Seite der Höflichkeit. Manche Menschen riskieren ihr Leben, weil sie nicht unhöflich sein wollen. Die vermeintliche Tugend kann irritieren, zu Missverständnissen führen und manchmal sogar tödlich sein.“ Das klingt dramatisch. Höflichkeit wird hier als „Schmiermittel der Kommunikation“ im Alltag dargestellt, das jedoch in Extremsituationen unerwünschte Effekte haben kann, etwa bei gefährlichen Situationen in Flugzeugen oder bei Arztgesprächen: Nach einer zitierten Studie „[…] spielte es in drei Viertel aller Unfälle von US-Zivilflugzeugen in den Jahren 1978 bis 1990 eine Rolle, dass ein Crewmitglied seine KollegInnen allzu zurückhaltend, taktvoll und indirekt auf Fehler und Probleme hingewiesen hatte. Dies erschwerte dem Rest der Mannschaft, die Gefahr richtig einzuordnen und schnell genug zu reagieren.“

Ein anderer problematischer Aspekt ist die Nähe von Höflichkeit und Lüge. Lügt man, wenn man höflich ist? Und wenn ja, ist das verwerflich? Im Magazin der SZ (Heft 12/2016) heißt es in der Überschrift eines Artikels: „Loben, lügen oder schweigen. Eine Bekannte betätigt sich als Künstlerin. Darf man ihr sagen, dass einem ihr Schaffen nicht gefällt?“ (Erlinger 2016b) Anknüpfen lassen sich viele weitere Fragen nach der Begründung einer Absage, nach dem Verhalten bei einer Essenseinladung, bei der es nicht geschmeckt hat usw. Das berührt den Bereich, der in der Linguistik als „prosocial lies“ (Meibauer 2014, 152ff.) analysiert wird. Auch in diesen Beispielen wird deutlich, dass unter Höflichkeit ein Verhalten subsumiert wird, das vor allem in der Befolgung von Vorgaben für bestimmte Situationen besteht. Auch hier wird der Kontext ausgeklammert: Es scheint in jeder Situation erwartbar zu sein, dass man indirekt kommuniziert und bitte und danke sagt, wenn man nicht als unhöflich angesehen werden möchte.

2.4 Höflichkeit auf dem kulturkritischen Büchermarkt

In Buchpublikationen auf dem nicht-wissenschaftlichen Sektor überwiegen Töne, die sich zwischen Skepsis und Katastrophismus bewegen, wenn es um Höflichkeit, ihre Akzeptanz in der Gesellschaft und ihre Zukunft geht. Titel wie Benehmt euch! Ein Pamphlet (Gärtner/Roth 2013) oder Scheiss drauf. Die Kultur der Unhöflichkeit (Mießgang 2013) sprechen für sich. Hier werden in der Gesellschaft weit verbreitete Klagen über den Verfall der Höflichkeit und vielleicht sogar der Kultur im Allgemeinen gebündelt, dargestellt und gefördert.


Abb. II.2: Titelbild Gärtner/Roth (2013).

Stefan Gärtner & Jürgen Roth: Benehmt Euch! Ein Pamphlet. DuMont Buchverlag, Köln 2013, ISBN: 978-3-8321-9726-1

Die Autoren solcher Texte nehmen für sich in Anspruch, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten und dabei nicht in Kulturpessimismus oder sonstige voreingenommene Positionen zu verfallen. Im Klappentext von Mießgang (2013) wird dies explizit reklamiert: „Dieses Buch ist weder ein Ratgeber für das Überleben in unhöflichen Zeiten noch ein neues kulturpessimistisches Lamento.“ Ein Blick in das Buch zeigt aber sehr schnell, dass eine gewisse Nähe zu Diskursen über den Verfall wichtiger kultureller Errungenschaften durchaus gegeben ist. Ein Schlüsselbegriff des Buches wird ebenfalls im Klappentext erwähnt: Der Autor beschreibt eine Form des Umgangs miteinander, die er als „strategischen Grobianismus“ etikettiert. Gemeint ist damit der bewusste Einsatz von Unhöflichkeiten, der als zeittypisch aufgefasst wird. Dem kann eine Art Kosten-Nutzen-Kalkül zugrunde liegen: Wenn ich ohne die Verwendung von höflichen Umwegen direkt zur Sache komme, dann geht alles schneller; wenn ich jemanden dazu zwingen kann, das zu tun, was ich will, dann muss ich ihn nicht erst lange bitten. In einer durchökonomisierten Gesellschaft mag das erst mal ein Vorteil sein. Ein Effekt dieser Dynamik ist aber der Verfall der UmgangsformenUmgangsformen. Andererseits hat das aber auch ein emanzipatorisches Potential: „Ein derbes Wort oder die gezielte Verletzung gewisser Regeln schafft – bisweilen – Emanzipation und enttarnt den Unsinn manch leerer Konvention.“Konvention Und nicht zuletzt scheint dem aktuellen Grobianismus ein neues Prestige zuzuwachsen: Wer sich so rüde äußert und sich nicht um Konventionen schert, dem ist oft (falscher?) Beifall sicher.

Insgesamt überwiegt in solchen Büchern aber der pessimistische, fast schon apokalyptische Blick auf neuere Entwicklungen im Bereich der Umgangsformen. Die Kapitel von Gärtner/Roth (2013) sind etwa mit Verrohung, Verblödung, Verkindung und Verderben überschrieben. Es geht um Phänomene wie die „Rüpel-Republik“, die „antisoziale Seuche“ (11), die „Verrottung aller Lebensumstände“ (12) oder „die spätkapitalistische Verrohung der Sitten und Depravation der Gemüter“ (14). Da werden also schwere Geschütze aufgefahren.

Was beklagen die Autoren eigentlich genau? Sie legen Wert darauf, ihre Urteile in Alltagserfahrungen aus allen möglichen Lebensbereichen zu verankern. Immer wieder wird auf den Verfall der Diskussionskultur in online-Medien verwiesen, auf den Sprachgebrauch auch in klassischen Medien, auf das Verhalten im Straßenverkehr (Fußgänger gegen Radfahrer, Radfahrer gegen Autofahrer) und in öffentlichen Verkehrsmitteln (z.B. bei Flugreisen), auf das Verhalten am Arbeitsplatz (z.B. Mobbing), auf den Verfall der Kleidungskonventionen, den Niedergang der politischen Diskussionskultur, den Umgang mit Smartphones oder den Umgang der Generationen miteinander.

Solche Diagnosen laufen darauf hinaus, dass Höflichkeit eine Ausnahmeerscheinung und Unhöflichkeit der Normalfall ist. Das lässt dann auch den emanzipatorischen Impetus des strategischen GrobianismusGrobianismus in sich zusammenfallen: Wenn man mit Unhöflichkeiten niemanden mehr erschrecken kann, dann bringt man auch niemanden zum Nachdenken über den Sinn oder Unsinn von Konventionen. Dann bleibt nur noch die Tatsache, dass der gesellschaftliche Umgangston rauer und rücksichtsloser geworden ist. Mießgang fasst seinen Befund so zusammen:

Das heißt nun allerdings nicht, dass sich die Unhöflichkeit klammheimlich aus der Weltgeschichte verabschieden würde. Im Gegenteil: Sie wird geradezu endemisch und infiziert wie ein fatales Virus die unterschiedlichsten Segmente des gesellschaftlichen Alltags. […] Die Schleusen sind geöffnet, wir steuern auf ein Zeitalter der gesamtgesellschaftlichen Manierenanarchie zu. Ziellos, begriffslos und bar jeden Trostes über die Welt, wie sie sich nun einmal darstellt. In diesem Sinne: Proleten aller Länder vereinigt euch und schreit laut: ‚Fick dich!‘ (Mießgang 2013, 23f.)

Das zeigt zunächst einmal, dass Höflichkeit (oder ihr Gegenteil) im Zentrum der gesellschaftlichen Diskurse angekommen ist: Das Nachdenken über Höflichkeit hängt eng zusammen mit dem Nachdenken über den Umgang miteinander und dies wiederum verweist auf die Frage, wie eine Gesellschaft organisiert ist und sein sollte. Diskussionsbeiträge wie die hier angesprochenen repräsentieren eine wichtige Strömung des Diskurses und ein weit verbreitetes Unbehagen an der Entwicklung der Gesellschaft.

Aus wissenschaftlicher, insbesondere sprachwissenschaftlicher Sicht sind solche Beiträge zuerst einmal deswegen interessant, weil sie ein weiteres Element einer Rekonstruktion alltagssprachlicher Höflichkeitsbegriffe darstellen. Sie sind aber aus vielen Gründen auch diskussionswürdig:

 Zunächst kann man sich natürlich darüber streiten, ob solche Beobachtungen in irgendeiner Weise und für irgendetwas repräsentativ sind. Analysen der gesellschaftlichen Realität in Deutschland kommen in einigen Fällen eben auch zu ganz anderen Einschätzungen. Gerade in öffentlichen Verkehrsmitteln kann man durchaus auch erleben, dass die Menschen sehr viel aufmerksamer und rücksichtsvoller miteinander umgehen als noch vor 25 Jahren. Die Diagnose von Mießgang und anderen ist zumindest sehr selektiv und subjektiv. Die empirische Grundlage für pessimistische Lamenti besteht wohl eher aus unsystematisch zusammengestellten Anekdoten.

 Diese Erzählungen müssen darüber hinaus in ihrem Kontext gelesen werden: Die Epoche, um die es in den Büchern geht, zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass Gesellschaften in vielerlei Hinsicht komplexer geworden sind und dass das Alltagsleben der Individuen in einem viel höheren Maße mit dem von anderen Menschen verwoben ist als dies noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall war. Die Anzahl der zwischenmenschlichen Kontakte mit Unbekannten im alltäglichen Leben hat sich erhöht. Das führt naturgemäß zu mehr Spannungen, Problemen und Krisen. Wo der Radverkehr zunimmt, entstehen beispielsweise Konkurrenzsituationen zwischen RadfahrerInnen und AutofahrerInnen bzw. FußgängerInnen. Diese entladen sich dann manchmal in Konflikten, die auch auf unhöfliche Weise ausgetragen werden. Es ist aber sicher übertrieben, daraus abzuleiten, dass wir einer Art Epidemie der Unhöflichkeit beiwohnen.

 Klagen über den Verfall der Umgangsformen lassen sich soziologisch ziemlich genau verorten und entspringen dem Interesse bestimmter gesellschaftlicher Gruppen sowie deren Anspruch auf kulturelle Hegemonie. Gärtner/Roth (2013, 23) zitieren zustimmend die Bemerkung des Journalisten Andreas Altmann: „Bisweilen überkommt mich das Gefühl, daß der Prolo die Weltherrschaft übernommen hat.“ Ähnlich kommt im obigen Zitat Mießgangs Verweis auf die Proleten aller Länder daher. Höflichkeit und Unhöflichkeit werden also als vorherrschende Verhaltensdispositionen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen vorgestellt: Unhöflichkeit ist proletarisch, Höflichkeit bürgerlich (auch wenn das nicht explizit gesagt wird). Diese Argumentation legt den Verdacht nahe, dass gutbürgerliche Autoren die Umgangsformen der eigenen sozialen Gruppe zur einzig richtigen und sinnvollen Version erklären und alles, was davon abweicht, diskreditieren. Die Debatte um Höflichkeit wird zu einem Mittel in der innergesellschaftlichen Auseinandersetzung um Normen und Standards. Dieser Zusammenhang muss noch vertiefend diskutiert werden.

 Die von solchen Autoren beschriebenen und in Zusammenhang mit der Kultur der Unhöflichkeit gestellten Phänomene sind sehr heterogen. Es geht, um nur einige Stichworte zu nennen, um Bereiche wie Kommunikation in Massenmedien (Unhöflichkeiten in TalkshowTalkshows, Castingshows, Shitstorms im Internet und „digital rudenessdigital rudeness“), Straßenverkehr (aggressive AutofahrerInnen usw.), Politik (rüde Umgangsformen bis hin zu körperlichen Auseinandersetzungen in Parlamenten), Mode (Jeans und Turnschuhe werden in immer mehr Kontexten getragen), Erziehung (Respektlosigkeit in Schule und Universität) oder Organisation von Arbeit und Konkurrenz in der Wirtschaft („Ellenbogengesellschaft“, MobbingMobbing, Formen der Austragung von Konflikten in Unternehmen). Kann man wirklich sagen, dass das alles mit (Un)Höflichkeit zu tun hat und dass der angebliche Verfall der Höflichkeit das geheime Zentrum all der hier angedeuteten negativen Entwicklungen in der Gesellschaft ist? Vielleicht liegt hier auch eine Überbewertung von Höflichkeit vor. Es mag durchaus plausibel sein, dass durch das Ausbleiben oder Wegfallen von Höflichkeit gesellschaftliche Konflikte verstärkt werden; es ist aber zweifelhaft, ob solche Entwicklungen allein auf veränderte Kommunikationsgewohnheiten heruntergebrochen werden können.

 Solche Argumentationen immunisieren sich gegen Einwände, indem sie Momente, in denen sich traditionelle Höflichkeit tatsächlich weiter durchzusetzen scheint, auch wieder in einem negativen Licht präsentieren: Mießgang beschreibt auch das Phänomen, dass KundInnen in Geschäften in den letzten Jahren immer freundlicher begrüßt und bedient werden, dass die MitarbeiterInnen von Einzelhandelsbetrieben durchschnittlich höflicher sind als noch vor wenigen Jahren. Auch das wird aber kritisch als Gespenst der guten Laune klassifiziert, das in der Arbeitswelt umgeht, als „Wellnessvirus“ oder als „Lächelmaske“ (vgl. Mießgang 2013, 105), die wiederum Teil der Konstruktion einer Fassade sind: „Die auf den ersten Blick erfreuliche Anhebung des Höflichkeitsniveaus in jenen gesellschaftlichen Kontaktzonen, wo Verkäufer und Konsument aufeinandertreffen, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als besonders perfide Form der Missachtung des Gegenübers“ (Mießgang 2013, 106). Den KundInnen wird etwas vorgespielt, was in Wirklichkeit nicht existiert. Höflichkeit wird zu einer Art Lüge, die zu verurteilen ist und die dann in einer folgenden Passage auch explizit in die Nähe von Prostitution gerückt wird.

Zwar können in der populärwissenschaftlichen Debatte keine begrifflichen Differenzierungen erwartet werden. Doch leidet aus sprachwissenschaftlicher Sicht die Diskussion auch darunter, dass Höflichkeit ganz offensichtlich mit verschiedenen Facetten von (z.B.) Respekt, Anstand, Freundlichkeit, Rücksichtnahme, Umgangsformen identifiziert wird. Der Höflichkeitsbegriff bleibt deswegen schwammig und beliebig. Es muss eine Aufgabe der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen sein, den Begriff besser zu konturieren, in einen wissenschaftlichen Zusammenhang zu rücken und genauer zu sagen, wovon eigentlich die Rede ist. Eine differenziertere Darstellung zur Höflichkeit ist von Rainer ErlingerErlinger vorgelegt worden (2016a). In Abgrenzung zum Begriff der Etikette wird der Wert einer wertlosen Tugend von seinen „Rändern“ her (u.a. Mode, Beruf, Internet, Religion) in seiner gesellschaftlichen Bedeutung eingekreist.

Insgesamt zeigen die öffentlichen und vorwissenschaftlichen Ausführungen über Höflichkeit, die hier exemplarisch betrachtet wurden, dass es sich um ein gesellschaftlich virulentes Thema handelt, welches einiges an Streitpotential mit sich bringt. Höflichkeit ist umstritten: Man kann darüber diskutieren, welche Verhaltensweisen höflich sind und welche nicht, man kann aber auch über die Funktion bzw. den Stellenwert von Höflichkeit in der sozialen Interaktionsoziale Interaktion streiten. Nicht zuletzt sind Tendenzen in der Entwicklung von Höflichkeit Gegenstand von Debatten. Es handelt sich um ein Thema, das für Individuen geeignet ist, um sich zu positionieren und von anderen abzugrenzen.

Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich aber kein klarer Begriff von Höflichkeit. Als höflich wird es bezeichnet, wenn man jemandem die Tür aufhält, PartnerInnen nicht unterbricht, grüßt, lächelt, freundlich ist, sich entschuldigt, sich richtig anzieht, die richtige Anrede wählt, Kommandoton vermeidet und vieles andere mehr. Der alltagssprachliche Höflichkeitsbegriff ist sehr stark an einer Idee von Etikette, von „To-do-AnweisungenTo-do-Anweisungen“ orientiert, also an Normen und Regeln. Es gibt nur einige wenige Versuche, Höflichkeit als darüber hinaus gehendes Organisationsprinzip des gesellschaftlichen Zusammenlebens und grundlegendere Verhaltensdisposition aufzufassen. Aber: auch da, wo (wie in den Publikationen der Knigge-Gesellschaft) betont wird, dass Höflichkeit viel mehr ist als das Befolgen von vorgegebenen Prozeduren für die Bewältigung bestimmter Situationen, bleibt immer unklar, was mit diesem Mehr genau gemeint ist.

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