Kitabı oku: «Sprachliche Höflichkeit», sayfa 3
2.5 (Un)Höflichkeit im Gebrauch
Wenn man herausfinden will, was Sprecher des Deutschen unter ‚Höflichkeit‘ verstehen, dann kann man sich auf seine Intuition als kompetenter Sprecher verlassen und zusammentragen, was man selbst über das Phänomen weiß und was man über die diesbezüglichen Vorstellungen seiner Mitmenschen in Erfahrung bringen kann. Vor allem bei Letzterem kann man sich natürlich nur auf das konzentrieren, was diese Mitmenschen sagen und schreiben. Einen direkten Zugang zu ihren Gedanken oder sonst einen Weg in ihren Kopf findet man nicht. Mit einem solchen Vorgehen kann man zu guten Ergebnissen kommen. Es birgt aber auch die Gefahr, unnötig selektiv und subjektiv zu sein: Man erfasst nur, was einem schon bekannt ist und riskiert, wesentliche Aspekte, die einem in einem bestimmten Moment nicht besonders präsent sind, zu ignorieren.
Die Instrumente und Techniken der Korpusanalyse bieten hier die Möglichkeit, auf der Grundlage einer verlässlichen Datenbasis fundiertere und objektivere Aussagen zu machen und damit dem zu untersuchenden Begriff auf die Spur zu kommen – oder zumindest eine erste Spur zu identifizieren: „[…] corpus analysis offers a firm ontological basis for understanding ‚politeness‘ across languages and relational networks“ (Kádár/HaughKádár/Haugh 2013, 192). Die Ausgangshypothese für ein solches Vorgehen ist die Idee, dass sich die Bedeutung von Wörtern wie höflich und Höflichkeit aus dem Sprachgebrauch ergibt, dass ein genauer Blick darauf, wie wir die Wörter verwenden, eine gut begründete Hypothese darüber zulässt, was wir darunter verstehen. Mit Blick auf die englische Sprache verweist auch WattsWatts auf die Relevanz eines alltagssprachlichen Begriffes von Höflichkeit, indem er betont „[…] polite and politeness are lexemes in the English language whose meanings are open to negotiation by those interacting in English. Their meaning are reproduced and renegotiated whenever and wherever they are used in verbal interaction, which of course means that related terms such as rude, rudeness (dis)courteous, impolite, impoliteness etc. are also struggled over“ (Watts 2003, 13). Die Angaben zum Gebrauch von Wörtern können also kein ein für alle Mal gültiges Bild der Gebrauchsregeln und der Bedeutungsnuancen ergeben, sie stellen vielmehr eine Momentaufnahme dar, eine Fotografie des im gegenwärtigen Sprachstadium in Form von GebrauchspräferenzenGebrauchspräferenz niedergeschlagenen kollektiven Wissens einer Sprachgemeinschaft.
2.5.1 FrequenzanalysenFrequenzanalyse
Moderne Korpora bieten die Möglichkeit, mit einfachen Mitteln auf umfangreiche Textsammlungen zuzugreifen und darin nach verschiedensten Kriterien wiederkehrende Muster in der Sprachverwendung zu suchen (vgl. z.B.PerkuhnPerkuhn/KeibelKeibel/KupietzKupietz 2012). Wer, wo, wann, in welchem Kontext die hier diskutierten Wörter verwendet und welcher Höflichkeitsbegriff diesen Verwendungen zugrunde liegen könnte, lässt sich in den Korpora des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache (hier: COSMAS IICOSMAS II) und im DWDS (Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache) gut nachvollziehen.
Wir möchten hier keine eingehende KorpusanalyseKorpusanalyse vornehmen, aber doch einige Daten aus den beiden Korpora präsentieren, die die Beschreibung des alltagssprachlichen Höflichkeitsbegriffs bereichern können. Neben Frequenzübersichten werden dabei vor allem die GebrauchsumgebungenGebrauchsumgebung relevant, also die Frage, mit welchen anderen Lexemen die Höflichkeitswörter signifikant häufig zusammen gebraucht werden und mit welchen sie charakteristische Komposita bilden. Eine semantische Analyse solcher Verbindungen (die hier oberflächlich bleiben muss) wird Hinweise darauf ergeben können, was Sprecher meinen, wenn sie von Höflichkeit oder Unhöflichkeit sprechen. Sie bildet das in Gebrauchstendenzen sedimentierte Wissen der Sprachgemeinschaft ab, das jedem Sprachbenutzer präsent ist – was nicht heißt, dass es sich um explizit abrufbares Wissen handelt. Im Gegenteil: In vielen Fällen sind Sprecher sich nicht darüber bewusst, dass sie bestimmte LexemverbindungenLexemverbindung bevorzugt verwenden und andere Möglichkeiten zwar zur Verfügung stehen, in den meisten Fällen aber nicht aktiviert werden.
In Cosmas II findet sich zunächst die Möglichkeit, im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) und anderen Textsammlungen die Frequenz der Lexeme und ihre historische Entwicklung zu verfolgen. Das Cosmas II-Korpus umfasst diverse Einzelkorpora mit Zeitungstexten, Protokollen von Parlamentsdebatten, literarische Texte und vielen weiteren Textsorten aus den letzten Jahrhunderten. Insgesamt sind nach Angaben des IdS ca. 9 Mrd. Wortformen erfasst. Die Suche nach allen Wortformen von höflich, unhöflich, Höflichkeit und Unhöflichkeit in allen öffentlich zugänglichen Korpora ergibt folgendes Bild:
Abb. II.3: Gebrauchsfrequenzen im COSMAS II-Korpus, Stand: 18.9.2020
Die Kurven zeigen einen auffälligen Anstieg ab den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Frequenzwerte für höflich für die 50er, 60er und 70er Jahre lagen bei 771, 1328 und 1126, um dann in den 80ern auf 1533, in den 90ern auf 9597 und schließlich im neuen Jahrtausend auf den Wert von 25735 zu steigen. Für das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sind fast 30000 OkkurrenzenOkkurrenz erfasst. Fast parallel, wenn auch auf niedrigerem Niveau, verläuft die Kurve für das Substantiv. Auch hier beginnt in den 80er Jahren eine signifikante Entwicklung: Vorher (70er Jahre) lag die Gebrauchsfrequenz bei 660, in den 80ern selbst bei 689, in den 90ern bereits bei 3945. Weniger häufig, aber ebenfalls mit ansteigender Tendenz, werden die beiden abgeleiteten Lexeme mit Negationspräfix verwendet. Auch hier sind für das Adjektiv höhere Werte zu verzeichnen als für das Substantiv.
Die Unterschiede zwischen Adjektiven und Substantiven lassen sich als Hinweis darauf interpretieren, dass die Lexeme in der Alltagskommunikation typischerweise dazu verwendet werden, Verhalten zu klassifizieren, zu werten und mit einem entsprechenden Etikett oder Label (vgl. CulpeperCulpeper 2011, 76ff.) zu versehen. Die Verwendung der Adjektive wäre damit Teil einer Art metasprachlichen Aktivität: Wer sie verwendet, der spricht über das sprachliche (und auch nicht-sprachliche) Verhalten anderer Menschen und bewertet dieses. Die Substantive treten seltener auf; das lässt sich mit der Hypothese erklären, dass abstraktere Begriffe in der nicht-wissenschaftlichen Kommunikation keine so große Rolle spielen, aber doch bemerkenswert präsent sind – vor allem in den Jahren nach 1980.
Die zeitliche Entwicklung kann insgesamt sicher nicht nur damit erklärt werden, dass für die letzten Jahrzehnte mehr Texte erfasst worden sind. Sie deuten vielmehr darauf hin, dass Höflichkeit und Unhöflichkeit in immer weiter steigendem Ausmaß zum Gegenstand von Diskussionen und Reflexionen werden. Die statistischen Angaben bestätigen eindeutig den Eindruck, den auch viele Beobachter des deutschen Buchmarktes haben: Werke über Höflichkeit, Ratgeber, Benimmbücher, Etikette-Leitfäden und Ähnliches haben in den letzten Jahren Hochkonjunktur. Ganz offensichtlich gibt es in der Gesellschaft um die Jahrtausendwende ein starkes Bedürfnis, über angemessenes und unangemessenes Verhalten nachzudenken und zu diskutieren. Das bedarf sicher einer vertiefenden Analyse im Zusammenhang mit der Beschreibung allgemeinerer gesellschaftlicher Tendenzen. Wir werden das Thema wieder aufgreifen. Hier sei noch einmal darauf hingewiesen, dass die Angaben aus der Frequenzanalyse auch nicht überbewertet werden sollten; es handelt sich immer nur um absolute Zahlen, nicht um relative Frequenzen. Eine im Vergleich zu früheren Zeiten höhere Anzahl erfasster Texte aus den letzten Jahrzehnten verfälscht das Bild.
2.5.2 KookkurrenzanalysenKookkurrenzanalyse
Die Korpusanalyse ergibt nicht nur rein quantitative Angaben über Gebrauchsfrequenzen, sondern ermöglicht auch einen Einstieg in eine qualitative Auseinandersetzung mit der Frage, was Sprecher unter ‚Höflichkeit‘ verstehen. Einen ersten Eindruck davon kann man sich verschaffen, wenn man untersucht, mit welchen Lexemen Höflichkeit häufig kombiniert wird, mit welchen Wörtern es in Komposita verwendet wird, welche Wortbildungsformen besonders häufig auftreten oder aus anderen Gründen auffällig sind.
Die Kookkurrenzdatenbank (BelicaBelica 2001ff.) erlaubt es zunächst, die häufigsten Kookkurrenzpartner der hier zur Diskussion stehenden Lexeme zu identifizieren und damit die Grundlage für ein GebrauchsprofilGebrauchsprofil zu schaffen, das wiederum wichtige Hinweise darauf geben kann, was SprecherInnen unter dem jeweiligen Begriff verstehen. Typische Verwendungsmuster werden damit als Verweis auf charakteristische Denkmuster aufgefasst. Die Datengrundlage für diesen Ansatz ist ein virtuelles Korpus, das auf dem DeReKo basiert und einen Umfang von ca. 2,2 Milliarden laufenden Textwörtern aufweist. Die Ergebnisse der Recherche werden hier als wordle dargestellt (www.wordle.net). Für Höflichkeit ist die Liste der relevanten KookkurrenzpartnerKookkurrenzpartner lang. Eine Beschränkung auf die ca. 20 im Umfeld des Wortes am häufigsten auftretenden Lexeme ergibt sich folgendes Bild:
Abb. II.4: Kookkurrenzprofil von Höflichkeit. wordle-Darstellung, Datengrundlage Belica 2001ff., Stand: Mai 2017
Gezeigt wird, wie häufig die angegebenen Wörter zusammen (im Abstand von höchstens 5 Lexemen vor und nach dem Referenzwort) mit Höflichkeit verwendet werden. Die Schriftgröße spiegelt die Frequenz der gemeinsamen Verwendung wider. Der häufigste Kookkurrenzpartner ist also ausgesucht – ein Attribut, mit dem unterstrichen wird, dass höfliches Verhalten in verschiedenen Abstufungen auftreten kann: Es unterscheidet sich zuerst einmal von ganz normalem, nicht-höflichem Verhalten und kann dann auch noch einmal verfeinert werden zu besonders elaborierten Formen. Ein Beispiel (wie alle anderen Beispiele in diesem Abschnitt aus dem COSMAS-Korpus. Die dort angegebenen Quellenverweise werden übernommen.):
(1) Selbst sehr viel jüngeren Kollegen schreibt er mit ausgesuchter Höflichkeit (NZZ14/MAR.02438).
Der Höflichkeit wird hier eine Eigenschaft zugeordnet, die wiederum auf ihren Ausnahmestatus verweist: Das Verhalten, das so qualifiziert wird, kann als eine Option unter vielen anderen angesehen werden. Die Wahl dieser Option durch den Handelnden ist das Ergebnis von Reflexion und Selektion. Sie wird von einem Beobachter oder einer Beobachterin, der/die dieses Adjektiv wählt, ausgesprochen positiv bewertet. Offensichtlich geht der Autor/die Autorin dieser Passage davon aus, dass es für den Umgang mit jüngeren Kollegen ein angemessenes Maß von Höflichkeit gibt, dass die betreffende Person dieses Maß aber regelmäßig überschreitet. Das scheint bemerkenswert zu sein.
Weitere Attribute zu Höflichkeit, die häufig auftreten, sind diplomatisch, vollendet und übertrieben. Das erste assoziiert Höflichkeit mit einem Bereich, in dem der Umgang mit anderen Personen als extrem delikat, aber auch wichtig empfunden wird und in dem alle Beteiligten sehr genau abwägen, was sie wie zum Ausdruck bringen. Ein/e DiplomatIn spricht nicht so, wie ihm/ihr der Schnabel gewachsen ist und sagt nicht, was er oder sie wirklich denkt – so ist es wohl auch mit der Höflichkeit. Die beiden anderen Adjektive verweisen darauf, dass es offensichtlich ein ziemlich genau bestimmbares Maß an Höflichkeit gibt, das in einer bestimmten Situation aufgewendet werden sollte. Trifft jemand dieses Maß genau, dann verhält er sich vollendet; es besteht aber auch die Gefahr, es zu überschreiten, dann ist man übertrieben höflich.
Wörter wie Gebot, gebieten oder Regel als Kookkurrenzpartner weisen darüber hinaus darauf hin, dass es in den Augen vieler SprecherInnen eine Art Verpflichtung gibt, die es vorschreibt, in bestimmten Situationen ein bestimmtes (nämlich höfliches) Verhalten an den Tag zu legen. Die Art dieser Verpflichtung oder ihrer Grundlage bleibt jedoch zunächst unspezifiziert.
Ansonsten zeigt die Abbildung eine große Zahl von Substantiven, die in der unmittelbaren Nachbarschaft von Höflichkeit signifikant häufig gebraucht werden. Hier wäre es wünschenswert, anhand von Beispielen jeweils vertiefen zu können, ob Substantive in einer additiven, alternativen oder adversativen Verbindung auftreten. Die Korpusdaten würden das ermöglichen; wir begnügen uns hier aber mit einem etwas oberflächlichen Eindruck. Der ergibt, dass sich zwei größere Gruppen von Substantiven herauskristallisieren: zum einen solche, die sich auf Teilaspekte von Höflichkeit beziehen, zum anderen Lexeme, die alternativ, fast synonym zum Referenzwort verwendet werden können, also eng verwandte Begriffe bezeichnen. Zur ersten Gruppe gehören z.B. Pünktlichkeit (besonders wichtig), Freundlichkeit, Respekt, Hilfsbereitschaft, Rücksichtnahme oder Bescheidenheit. Wer sich durch solche Eigenschaften auszeichnet, hat (jedenfalls im deutschsprachigen Kontext) gute Chancen, von seinen Mitmenschen als höflich eingestuft zu werden. Der gemeinsame Nenner dieser Eigenschaften liegt wohl in der Aufmerksamkeit, die einem Interaktionspartner entgegengebracht wird sowie in der Einbeziehung der Interessen und Bedürfnisse des Partners in die eigenen Handlungen.
Die zweite Gruppe besteht aus drei Substantiven: Umgangsform, Anstand, Manieren. Auch damit werden Formen des Eingehens auf Mitmenschen bezeichnet. Es wird interessant sein zu fragen, wie zwischen diesen Substantiven und Höflichkeit differenziert werden kann, ob es sich tatsächlich um Quasi-SynonymeQuasi-Synonym handelt oder ob sich im Gebrauch Unterschiede herausstellen.
Etwas überraschend ist der Bezug auf einen Kontinent: das Adjektiv asiatisch gehört zu den 20 am häufigsten verwendeten Kookkurrenzpartnern von Höflichkeit. Offensichtlich werden die Umgangsformen von Menschen, die aus asiatischen Ländern stammen, als prototypische Formen von Höflichkeit empfunden.
Der erste Blick auf die Verwendung von Höflichkeit hat sicher keine großen Überraschungen ergeben. Erstaunlich ist höchstens, was hier nicht auftaucht: Wörter wie Etikette oder Knigge sind offensichtlich als Kookurrenzpartner nicht so wichtig wie die anderen – das kann als erster Hinweis darauf interpretiert werden, dass die kodifizierte Version von Höflichkeit für den alltagssprachlichen Begriff gar nicht die große Rolle spielt, die ein Beobachter erwarten könnte. Was ebenfalls fehlt, sind Hinweise auf kritische oder gar negative Einstellungen gegenüber der Höflichkeit, die etwa in der Verbindung mit Lüge oder Unaufrichtigkeit zum Ausdruck kommen könnten. Die Daten verweisen erst einmal darauf, dass diese Aspekte quantitativ nicht besonders relevant sind.
Für das Adjektiv ergeben sich diese Kookkurrenzen:
Abb. II.5: Kookkurrenzprofil von höflich. wordle-Darstellung, Datengrundlage Belica 2001ff., Stand: Mai 2017
Auffällig ist zunächst, dass die Liste kein einziges Substantiv enthält, sondern vor allem Verben und das eine oder andere attributiv gebrauchte Partizip. Offensichtlich wird das Attribut höflich weniger Personen oder Objekten zugeschrieben, sondern hauptsächlich Handlungen. Die Übersicht ist also keine Antwort auf die Frage, wer oder was häufig als höflich angesehen wird, sondern auf die, was man signifikant häufig höflich tut. Hier fällt auf, dass sehr viele Kookkurrenzpartner Verben sind, die kommunikative Handlungen oder Sprechakte beschreiben. Das ist der Fall bei formulieren, ausdrücken, bedanken, grüßen, antworten oder bitten. Das bestätigt die Intuition, dass es bei Höflichkeit in vielen Fällen um eine Begleiterscheinung kommunikativer Handlungen geht. Man ist also normalerweise nicht einfach nur höflich, sondern vollzieht eine andere sprachliche Aktivität und modelliert sie so, dass sie nicht nur ihr primäres kommunikatives Ziel erreicht (etwas formulieren, um etwas bitten usw.), sondern noch einen zusätzlichen Effekt hat: Die Handelnden werden von ihre Umgebung auch noch als höflich angesehen. Der Grund dafür ist eine Art „subsidiäre Zusatzhandlung“ (Lüger 2014, 43), die der Haupthandlung einen besonderen Akzent verleiht.
Die potentiell höflich vollzogenen Sprechhandlungen sind zum Teil solche, die in der Interaktion delikat sein können, für deren Vollzug kommunikatives Fingerspitzengefühl und diplomatisches Geschick notwendig sind. Jemanden um etwas bitten stellt beispielsweise einen Eingriff in die Handlungsfreiheit der Adressaten dar. Diese können nach einer Bitte nicht einfach das tun oder lassen, was sie getan hätten, wenn sie nicht freundlich dazu aufgefordert worden wären, etwa jemandem sein Fahrrad zu leihen. Sie müssen sich zumindest mit der Bitte auseinandersetzen und eine geeignete Antwort darauf finden. Sprechhandlungen wie Bitten werden deswegen in der Höflichkeitstheorie als gesichtsbedrohende Handlungen (face threatening acts)gesichtsbedrohende Handlung (face threatening act) bezeichnet. Diese Eigenschaft von Sprechhandlungen wird im Kapitel über wissenschaftliche Höflichkeitsbegriffe und entsprechende Theorien eine wichtige Rolle spielen. Vorerst mag der Hinweis darauf reichen, dass Bitten oder auch Grußaktivitäten sensible Momente in der Kommunikation sind, die für SprecherInnen immer das Risiko mit sich bringen, die HörerInnen zu verletzen oder – um es salopp auszudrücken – ihnen auf den Schlips zu treten.
Auf den ersten Blick verhält es sich mit den anderen genannten Verben allerdings anders. Formulieren und ausdrücken bezeichnen keine besonders delikaten Sprechhandlungen und wenn man sich bei jemandem bedankt, geht man kaum das Risiko ein, das z.B. mit einer Bitte, einer Aufforderung oder auch einem Kompliment verbunden ist. Hier wird es sich lohnen, mithilfe einiger Beispiele etwas genauer hinzuschauen:
(2) Das Mädchen aus Brisbane hatte ihr Anliegen in einem Brief höflich formuliert: „Allerliebster Wissenschaftler“, leitete sie ihr Schreiben ein (NUN14/JAN.00937 Nürnberger Nachrichten, 11.01.2014, 28).
(3) Amnesty International betrachtet Mohamed Abdullah al-Roken als gewaltlosen politischen Gefangenen, der nur aufgrund der friedlichen Wahrnehmung seiner Rechte und seiner Arbeit als Verteidiger inhaftiert ist. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Präsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate und fordern Sie ihn auf, Mohamed Abdullah al-Roken unverzüglich und bedingungslos freizulassen und das gegen ihn verhängte Urteil aufzuheben (NUN14/APR.01348 Nürnberger Nachrichten, 11.04.2014, 27).
(4) Umso lustiger wirkt die Behauptung der Anwälte der Gefeuerten, die Banker könnten weiter beschäftigt werden, weil das Vertrauen zu ihrem Arbeitgeber nicht gestört sei. Damit das so bleibe, habe man sich bemüht, die Schriftsätze besonders höflich zu formulieren. Nur wegen des Wunsches ihrer Mandanten, weiterbeschäftigt zu werden, so die Juristen, ‚sollen hier deutlichere Worte zu dem Vorgehen der Beklagten […]‘ (Z13/DEZ.00258 Die Zeit online, 19.12.2013).
Formulieren ist ein transitives Verb. Man formuliert immer etwas: ein Anliegen, einen Brief oder einen Schriftsatz. Die Beispiele zeigen, dass die Kombination von formulieren und dem Adverb höflich so gut wie immer darauf verweist, dass das Objekt der Formulierung im soeben angesprochenen Sinn eine gesichtsbedrohende Handlung darstellt. Ein Anliegen (Beispiel 2) hat viele Ähnlichkeiten mit einer Bitte. Der Brief, um den es im Beispiel (3) geht, ist eine Aufforderung, noch dazu an einen Repräsentanten eines fremden Staates gerichtet und in (4) geht es um rechtliche Aktionen von Mitarbeitern gegen ihren Arbeitgeber, also um Handlungen, die nicht nur, aber auch das Gesicht des Adressaten bedrohen. Höflich formuliert wird also vorzugsweise dann verwendet, wenn eine einfache Formulierung zu Problemen auf der Beziehungsebene führen könnte. Wenn jemand sagt, der Autor habe, höflich gesagt, Unsinn geschrieben, dann gibt er damit deutlich zu verstehen, dass er eigentlich der Meinung ist, eine stärkere Formulierung wäre angemessener, diese aber nicht wählt, um niemandem zu nahezutreten. Höflichkeit ist hier also eine Art prophylaktische Einschränkung oder Abschwächung einer Handlung, die ohne diesen Zusatzaspekt das kommunikative Gleichgewicht zwischen den handelnden Personen gefährden würde.
Etwas anders verhält es sich mit danken:
(5) Dieser Studio-Auftritt war sehr überschaubar: Nadine Schellenberger durfte im ZDF-Jahresrückblick bei Moderator Hape Kerkeling am Sonntagabend einen Blumenstrauß entgegen nehmen und einmal höflich „Danke“ sagen. Das war es dann auch schon (M11/DEZ.04221 Mannheimer Morgen, 13.12.2011, 25).
(6) Kekilli: Vielleicht. Vielleicht ist deutsch, auf die Bühne zu gehen, höflich zu sein, allen zu danken, keinen zu vergessen. Ich war froh, dass ich meine Agentin nicht vergessen habe (U10/OKT.03753 Süddeutsche Zeitung, 23.10.2010, 23).
In diesen Beispielen wird keine Sprechhandlung beschrieben, die im vorliegenden Fall höflich vollzogen wurde, sondern eine, die als solche, als Sprechakt, mit dem Attribut höflich versehen wird. Es geht um Personen des öffentlichen (Medien-)Lebens, die etwas bekommen, Blumen oder einen Preis, und sich dafür bedanken. Das wird als höflich eingestuft. Die Höflichkeit ist hier also nicht ein Aspekt, eine Begleiterscheinung einer anderen Handlung, sondern eine Qualität der Handlung selbst oder die primäre Handlung. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass es hier in der Tat nicht um potentiell gesichtsbedrohende Handlungen geht, die durch Höflichkeit abgemildert würden. Sicher wäre es ein Affront, sich nicht zu bedanken, wenn man Blumen bekommt. Trotzdem hat Höflichkeit in diesen Fällen nicht den Charakter einer sekundären, begleitenden, abmildernden oder subsidiären Zusatzhandlung.
Zusätzlich sind in der Liste der Kookkurrenzen auch nicht-sprachliche Handlungen vertreten. Auch diese sind offensichtlich nicht in Analogie zu gesichtsbedrohenden Handlungen wie Bitten zu sehen: Man kann eine Bitte mehr oder weniger höflich oder auch unhöflich formulieren; man kann aber kaum mehr oder weniger höflich oder gar unhöflich lächeln oder applaudieren. Auch diese Handlungen sind als solche höflich und enthalten Höflichkeit nicht als zusätzlichen Aspekt. Es geht also auch in diesen Fällen nicht um die Abmilderung von gesichtsbedrohenden Handlungen. Wenn man von einem Publikum sagt, es applaudiere höflich, dann verweist das eher darauf, dass der Applaus unter Umständen nicht aufrichtig gemeint ist, dass er nur deswegen gespendet wurde, weil das in der Situation eben so Usus ist und deswegen erwartet wird. Höflich wäre hier in etwa gleichbedeutend mit konventionell vollzogen.
Wagen wir eine erste Zusammenfassung der Befunde: Höflich und unhöflich werden offenbar weniger als Attribute von Personen verstanden denn als Qualifizierung von Verhaltensweisen und Handlungen, insbesondere solchen, die eine potentielle Gefahr für das Gesicht der Gesprächspartner darstellen. Es gibt hier aber signifikante Ausnahmen. Ein besonders wichtiger Aspekt scheint darin zu liegen, dass Höflichkeit kein Bestandteil des normalen Ablaufs von Kommunikation ist, dass sie nicht unbedingt erwartbar ist. Sehr präsent ist auch ein Verweis auf Regeln oder Konventionen, die der Höflichkeit zugrunde liegen. Wenn diese Regeln respektiert werden, dann wird das Verhalten der betreffenden Personen als sozial angemessen eingestuft, nicht aber unbedingt als ehrlich oder aufrichtig. Insgesamt kommt der Höflichkeit aber eine deutlich positive Bewertung zu, sie wird assoziiert mit Aufmerksamkeit, Wertschätzung und in Verbindung mit der Ehre gesehen. Darüber hinaus verweisen die Kookkurrenzen auf zahlreiche Teilaspekte der Höflichkeit und spiegeln damit die Komplexität des Themas wider.
Man könnte die Analyse der Korpusdaten beliebig vertiefen. Wir haben versucht, einen kleinen Einblick in das Wissen über Höflichkeit zu geben, das sich im Wortschatz der deutschen Sprache und in den Tendenzen seiner Verwendung in alltäglichen Kontexten manifestiert. Dabei hat sich zuerst einmal gezeigt, dass das Reden über Höflichkeit ganz offensichtlich einer diachronischen Entwicklung unterliegt: Es gibt historische Momente oder Epochen, in denen dies besonders häufig praktiziert wird, und es gibt Epochen, in denen das Thema keine oder eine untergeordnete Rolle spielt. Wir leben aktuell in einer Welt, in der vergleichsweise intensiv über dieses Thema gesprochen wird. Dieses Datum kann man unterschiedlich deuten: Man kann davon ausgehen, dass es auf eine besondere Bedeutung des Themas verweist, dass Menschen also besonderen Wert darauf legen, auf eine Weise miteinander umzugehen, die sie als höflich einstufen. Oder man kann darin ein Kompensationsphänomen sehen: Weil der Umgang miteinander in der Realität alles andere als höflich ist, wird besonders intensiv darüber nachgedacht und geredet, was Höflichkeit ist und sein kann. Eine Deutung schließt die andere dabei nicht aus, es ist auch möglich, beide zu kombinieren.
Wichtig ist es, hier noch darauf hinzuweisen, dass aus dem kurzen Überblick hervorgeht, wie stark Höflichkeit in ein komplexes und in sich heterogenes Netzwerk von anderen Wörtern und Begriffen eingewebt ist. SprecherInnen, die diese Lexeme verwenden, wissen sehr genau, dass es etwas mit Pünktlichkeit, Anstand, Toleranz oder Freundlichkeit zu tun hat, um nur einige Beispiele zu nennen. Im Gebrauch kann jeder kompetente Sprecher und jede kompetente Sprecherin auch unterscheiden, welches der Wörter in einem bestimmten Kontext angemessen ist. Schwieriger würde es sicherlich, wenn man SprecherInnen bitten würde, genau zu definieren und damit explizit zu machen, was sie unter ‚Höflichkeit‘ verstehen. Aber das ist auch nicht die Aufgabe eines noch so kompetenten Sprechers oder einer kompetenten Sprecherin. Um Definitionen hat sich die Wissenschaft zu kümmern.
Die Bewertung von Höflichkeit scheint im Allgemeinen sehr positiv zu sein. Sie wird wohl als notwendige und wünschenswerte Eigenschaft von sprachlichen und kommunikativen Aktivitäten angesehen und auch auf verschiedenen Ebenen (Handlung, Formen) verortet. Der Verdacht der Unaufrichtigkeit höflicher Handlungen oder, genauer gesagt, eine negative Bewertung aufgrund der Unaufrichtigkeit ist zwar erkennbar, scheint aber auf dieser Ebene kein zentrales Element zu sein. Zur Bewertung gehört auch die Tatsache, dass im Sprachgebrauch durchaus zwischen Höflichkeit und Etikette unterschieden wird. Die beiden Substantive weisen ein sehr unterschiedliches Kookkurrenzprofil auf; das deutet darauf hin, dass Sprecher ziemlich genau wissen, was das eine und was das andere ist. Ganz offensichtlich betrachten sie Höflichkeit als eine Verhaltensdisposition, die mehr ist als das Befolgen von Regeln, die in irgendeinem normativen Dokument von mehr oder weniger obskuren und mehr oder weniger klar autorisierten Autoritäten vorgeschrieben werden.