Kitabı oku: «Wolken im Paradies», sayfa 2

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In der Küche mache ich mir etwas zu essen. Lege mich aufs Sofa und mache den Fernseher an. Ich schließe die Augen und schlafe ein.

4

„Warte“, ruft Luis und eilt über die Straße zum Bus auf mich zu. Seine dunklen Augen schauen mich liebevoll und traurig an. Dann umarmt er mich. Trauer und Verzweiflung machen sich in mir breit.

Wie schnell sind doch die letzten Wochen vergangen. Fast täglich bin ich zum Walhai-Ausflug gefahren. Habe Stunden mit Luis auf seinem Boot verbracht. Gelacht. Ja, ich habe viel gelacht. Die Welt stand still für uns. Für diese Stunden, die wir zusammen mit den Urlaubern auf dem offenen Meer verbracht haben. Alles andere existierte nicht in diesen Stunden. Mein Leben mit meinem Mann in Playa del Carmen. Aus dem Sinn. Und doch war unser Verhältnis bis zum heutigen, letzten Arbeitstag, immer professionell. Geflirtet haben wir, ja. Aber das war auch schon alles.

In Mexiko ist es üblich, sich mit einem Wangenkuss zu begrüßen. An einem Morgen am Bootsanleger begrüßte ich alle in einer Reihe stehenden Kapitäne. Luis stellte sich gleich an den Anfang. Dann in die Mitte und anschließend ans Ende, um mehrere Begrüßungsküsse zu ergattern. So ist er, ein charmanter Witzbold, der mich zum Schmunzeln bringt. Seine Arbeit macht er mit großer Leidenschaft, und selbst die Gäste verfallen nach kurzer Zeit seinem unwiderstehlichen Charme.

Ich schließe die Beifahrertür. Es zerreißt mir das Herz mir vorzustellen, Luis acht Monate lang nicht zu sehen. So lange dauert es, bis es wieder Ausflüge zu den Walhaien geben wird.

Victor fährt los. Luis bleibt zurück. Hinter meiner Sonnenbrille werden meine Augen feucht. Ich blicke zurück. Doch er ist schon weg. Zurück bleibt eine drückende Leere und die zuckersüße Erinnerung eines unvergesslichen Sommers.

In der Wohnung ist es ruhig und ich bin erleichtert, dass Carlos noch unterwegs ist. Kaum ist es mir möglich, meine Gefühle zu verbergen. Von daher gehe ich ihm in letzter Zeit gerne aus dem Weg. Wie soll das alles jetzt weitergehen? Luis werde ich zunächst nicht wiedersehen. Nur der Gedanke daran, jetzt von ihm getrennt zu sein, bereitet mir Bauchschmerzen. Und das, obwohl wir lediglich zusammen gearbeitet haben und uns nie privat trafen.

Eigentlich müsste ich mich jetzt bei einer neuen Agentur als Reiseleiterin bewerben, denn mit dem Ende der Walhai-Saison ist auch meine Arbeitsstelle weggefallen. Erst mal jedoch wollen Carlos und ich einen Monat Urlaub machen. In Mexiko City. Seiner Heimatstadt. Seine Familie besuchen. Der Gedanke daran, einen Monat Tag und Nacht mit Carlos und seiner Familie zusammen zu sein und ihnen eine heile Welt vorzutäuschen, bereitet mir erneut Bauchschmerzen. Wie kann ich mit Carlos zusammen sein, wenn ich mich die ganze Zeit nach Luis sehne? Der Gedanke, dass er jetzt bei seiner Ehefrau ist, machen meine Bauchschmerzen nicht besser.

In der Küche hole ich mir eine eiskalte Limonada aus dem Kühlschrank und unter der Dusche spüle ich mir das Salz aus den verblichenen, kurzen Haaren. Reinige anschließend noch meine Taucherbrille, denn die werde ich wohl vorerst nicht benötigen. In einer gemütlichen Shorts und einem pinkfarbenen Trägerhemd lege ich mich faul aufs Sofa und streichle meinen getigerten Kater, der sich schnurrend auf meinen Bauch legt. Sofort entspanne ich mich.

5

Es ist früher Vormittag. Auf meinem Bett liegt mein bunter Rucksack und aus dem Schrank suche ich ein kurzes schwarzes Sommerkleid. Dann verstaue ich noch etwas Wechselwäsche und einen Bikini. Im Badezimmer greife ich nach meiner Zahnbürste. Meine Vorfreude kann ich kaum verbergen.

Carlos kommt ins Zimmer. „Wir müssen los“, sagt er in einem ruhigen, für ihn typischen Ton.

Am Busterminal hievt Carlos seinen großen Koffer aus dem Kofferraum des Taxis. Ich schnappe mir meinen Rucksack und gebe ihm einen Kuss auf den Mund. Freundlich aber ohne Leidenschaft. So als wären wir ein altes, seit Jahrzehnten verheiratetes Paar und würden es nur noch aus Gewohnheit machen. Dann verschwindet er. Steigt ein, in einen großen komfortablen Reisebus zum Flughafen.

Ich bleibe zurück im Busterminal. Mein Blick fällt auf die riesige Anzeigetafel mit den Busabfahrten in alle möglichen mexikanischen Städte. Sogar nach Belize und Guatemala kann man von hier in einem bequemen klimatisierten Reisebus fahren. Da es in Mexiko keine Fernzüge gibt, die die Ortschaften miteinander verbinden, ist die einzige Möglichkeit zu Reisen der Bus oder das eigene Auto. Das Flugzeug können sich die meisten Mexikaner nicht leisten, obwohl es auch hier inzwischen Billigfluglinien gibt. Sie sind für die allgemeine Bevölkerung Mexikos, in dem der Mindestlohn in einigen Bundesstaaten nur um die fünf Euro pro Tag beträgt, zu teuer. Sicher ist vieles in diesem Land relativ günstig, wenn man es mit Deutschland vergleicht. Und doch, ich bezahle für meine kleine, einfache Wohnung, die abseits des Zentrums liegt, knapp dreihundert Euro im Monat. Das schaffe ich nur, weil ich als Reiseleiterin gut verdiene. An guten Tagen mit reichlich Trinkgeld können das schon mal einhundert Euro sein. Normalerweise ist es ungefähr die Hälfte. Bezahlt wird pro Tour. Bin ich krank oder im Urlaub, gibt es nichts. Da in der Nebensaison zwischen September und Dezember weniger Touristen die Region besuchen da Regenzeit ist, habe ich auch weniger Arbeit. Es ist die Zeit, in der ich und viele meiner Kollegen Urlaub machen. So wie auch jetzt, Anfang Oktober.

Zwei Wochen sind vergangen, seitdem ich Luis das letzte Mal gesehen habe. Am letzten Tag des Walhai-Ausfluges, Mitte September. Und immer wieder habe ich versucht, mich abzulenken. Mit Kinobesuchen, Freunden oder einem Strandtag. Dinge, die ich normalerweise liebend gerne mache. Doch überall wo ich war, war auch die Sehnsucht nach Luis. Sie schwebte wie eine Wolke über mir. Immer und überall. Ließ das Paradies grau erscheinen. Das Leben freudlos. Auf einmal fühlte ich mich inmitten von guten Freunden einsam. Die Gegenwart meines Mannes bereitete mir keine Freude mehr. Die spürte ich erst wieder, als der Anruf kam. Und mit ihm die Hoffnung. Luis. Ja, wir hatten unsere Telefonnummern ausgetauscht. Und er rief an.

„Es wird ein Seminar geben, um als Reiseleiter in einem Nationalpark zertifiziert zu werden. Ich werde das Seminar besuchen und habe dich auch angemeldet.“

Ich war sprachlos. Mein Herz machte einen Sprung. Dass er ohne mich zu fragen, mich einfach bei einem Seminar angemeldet hatte, störte mich keineswegs. Ganz im Gegenteil. Ich fühlte mich geehrt, wie er um ein Wiedersehen mit mir kämpfte.

„Wir sehen uns dann dort“, beendete er das Telefonat. Es war so gut wie perfekt. Das einzige Problem war nur, dass der Seminartag einen Tag nach meinem Flug nach Mexiko City stattfinden würde. Da ich jedoch noch keine neue Agentur habe, ist das Seminar genau das, was ich brauche. Es würde mir Vorteile einbringen, um eine neue Agentur zu finden. Und das sah auch Carlos ein. Also verschob ich meinen Flug um zwei Tage. Carlos jedoch fliegt wie geplant. Heute.

Ich gehe die Stufen des geräumigen Reisebusses hinauf und lasse mich in einem bequemen Sitz am Fenster nieder. Die Klimaanlage summt, und schnell wird es spürbar kalt und ich bekomme eine Gänsehaut.

Ungefähr eine Stunde später kommen wir in Cancún an. Can cún bedeutet übersetzt aus der Maya-Sprache soviel wie „Schlangennest“ oder „Ort der goldenen Schlange“. Vielleicht, weil es hier im Dschungel so viele Schlangen gibt.

Cancún gehört heute zu einer der meistbesuchten Städte der Welt, mit jährlich über sechs Millionen Touristen aus dem Ausland. Viele wohlhabende Mexikaner haben hier ihren einen zweiten Wohnsitz, den sie vor allem über die Weihnachts- und Osterfeiertage nutzen. Cancún besteht zum Einem aus der luxuriösen Hotelzone, der Zona Hotelera, die sich auf einem zwanzig Kilometer langen Landstreifen befindet. Wie ein Halbkreis umschließt sie die große Lagune Nichupté. An beiden Enden ist der Landstreifen mit dem Festland verbunden.

Zum Anderen besteht Cancún aus dem Stadtzentrum, welches sich auf dem Festland befindet, und durch das wir jetzt durchfahren. Hier leben die meisten Einwohner in verschiedenen Stadtvierteln. Von privaten, abgezäunten Wohnanlagen mit edlen Villen, bis zu dreckigen und gefährlichen Vierteln, mit ungepflegten, einstöckigen kleinen Häusern, die Wand an Wand gebaut sind, hat Cancún so gut wie alles zu bieten. Im Jahr 2010 lebten hier schon über eine halbe Million Menschen. Eine große Nummer, wenn man bedenkt, dass vor nur einem halben Jahrhundert hier so gut wie nichts existierte. Einzelne kleine Fischerdörfer an der Küste waren neben den Mayas, die in kleinen Dörfern noch immer den dichten Urwald besiedeln, die einzige Zivilisation dieser Region. Anfang der Siebzigerjahre hatte die mexikanische Regierung dann die geniale Idee, diese Region zu einem pompösen Urlaubsort zu verwandeln. Für den Menschen eine tolle Sache. Für Flora und Faune dagegen eher nicht. Der Landstreifen, der damals noch eine Insel war, wurde durch einen künstlichen Damm mit dem Festland verbunden. Auf ihm entstand ein Luxushotel neben dem anderen. Für die Bauarbeiter errichtete man einfache Wohnungen abseits der Hotelzone, auf dem Festland. Der Urwald musste großen Stahlbauten weichen. Tiere wurden aus ihrem Lebensraum vertrieben. In rasanter Geschwindigkeit wurde gebaut und gebaut. Nach Wohnungen folgten Supermärkte, Schulen, Universitäten und große Einkaufszentren. Die Stadt musste funktionieren. Kathedralen oder einen zentralen Platz gibt es hier nicht. Cancún wurde erschaffen, um Mexiko Geld einzubringen. So wurde in kurzer Zeit aus einem unberührten Paradies eine weltweit beliebte Touristenhochburg.

Die Sonne brennt gnadenlos vom wolkenlosen Himmel, als ich aus dem Reisebus aussteige. Mein abgekühlter Körper beginnt langsam wieder warm zu werden. An der großen Hauptstraße ist die Hölle los, überall sind Menschen unterwegs. Autos hupen. Combis in heruntergekommenen Zuständen stauen sich an der Haltestelle. Menschen drängeln, steigen ein und aus. Alles wirkt chaotisch.

Ich stelle mich zur Menschenansammlung an den Straßenrand und warte. Sicher hätte ich auch ein Taxi nehmen können, doch ich habe es nicht eilig. Zudem spare ich so ein paar Pesos. Die Luft stinkt nach Abgasen. Es ist nicht einfach, in dem Gewusel den richtigen Combi zu finden und schnell hineinzuspringen, bevor er weiterfährt. Nach zehn Minuten schaffe ich es. Auf der Windschutzscheibe eines Combi steht in schwarzen Buchstaben PUERTO JUAREZ geschrieben. Durch die seitliche offene Schiebetür mache ich einen Satz in den Bus, als er kurz quietschend anhält. Dabei muss ich mich ducken, da die Decke sehr niedrig ist. Ich gebe dem Fahrer fünf Pesos. Der Bus ist voll. Es ist heiß und stickig und riecht unangenehm nach Schweiß. Da die Schiebetür während der Fahrt offen bleibt, zirkuliert die Luft im Bus etwas und macht den Gestank und die Hitze erträglicher. Aus den Boxen der Stereoanlage dröhnt mexikanische Rap-Musik. Der Busfahrer ist ein junger Mann, vielleicht gerade neunzehn Jahre alt. Ich muss mich gut festhalten, um nicht durch den Bus geschleudert zu werden. Die wilde Fahrt dauert nicht lange. Nach kaum zehn Minuten hält er an, und mit einem Sprung bin ich wieder draußen.

Mein Rücken ist nassgeschwitzt von der schwülen Tropenluft und dem schweren Rucksack, als ich mich ans Ende einer langen Menschenschlange stelle. Vor wenigen Minuten hat die Fähre von der Insel angelegt, und nun kommt uns ein Menschenschwall entgegen. Passagiere, die in die Stadt wollen.

In einem kleinen Laden am Anleger kaufe ich mir eine Fahrkarte. Nur Hinfahrt. Schließe mich dann den Menschen an, die langsam Einer nach dem Anderen, die Fähre betreten. Viele Urlauber sind dabei, mit schweren Koffern, an denen noch der Klebestreifen mit den Buchstaben CUN vom Flug befestigt ist. Aber auch Einheimische mit großen Kisten voller Lebensmittel oder anderen Artikeln. Sie haben den Besuch in der Stadt für einen Großeinkauf genutzt. Es herrscht eine lebhafte Stimmung. Vor mir ist eine größere Gruppe von US-Amerikanern. Laut plappern sie auf Englisch, als wären sie alleine auf der Welt. Hinter mir weint ein Baby. Die Mutter trägt es in einem Tuch auf dem Rücken, dass sie sich um den Oberkörper gewickelt hat. Fast selber noch ein Kind. Sie ist klein und dunkelhäutig. Hat schwarze lange Haare und dunkle, traurige Augen. Ihr weißes Kleid ist mit bunten Blumenmustern bestickt. Man erkennt sofort, dass es Handgemacht ist.

Leicht schwankt die gelbe-blaue Fähre hin und her, als ich sie über die hintere Rampe betrete. Ich gehe die Treppe hinauf zum Sonnendeck und suche mir einen Platz. Natürlich sitzen hier oben in der glühenden Mittagshitze nur Touristen, die sich gerne freiwillig grillen lassen. Einheimische bevorzugen dagegen den klimatisierten Bereich darunter. Trotz Hitze bleibe ich dennoch sitzen, denn für die herrliche Aussicht über das glitzernde karibische Meer nehme ich den ein oder anderen Schweißtropfen gerne in Kauf. In etwas Entfernung strahlen die luxuriösen Hochhäuser der Zona Hotelera um die Wette.

Die Fähre legt ab, und es lässt sich schon die Silhouette der Insel in der Ferne erkennen. Die Blautöne der Karibik schwanken zwischen einem leuchtenden Türkis und einem grünlichen Dunkelblau. Zügig und relativ ruhig fahren wir auf die Insel zu, die nach und nach Gestalt annimmt. Es gibt keine Hochhäuser wie auf dem Festland. Kleine Hotels und offene Restaurants mit Palmblattdächern zieren das Bild von Isla Mujeres. Und Boote. Schnellboote und Jachten liegen an hölzernen Bootsstegen. Plötzlich drosselt die Fähre ihre Geschwindigkeit. Die Insel ist jetzt ganz nah und es herrscht viel Verkehr auf dem Wasser. Große Katamarane fahren mit lauter Musik und tanzenden Gästen an Bord an uns vorbei. Party-Katamarane. Kleine Holzboote liegen an einem kleinen Korallenriff vor der Insel, während die Gäste im Wasser schnorcheln. Und dann bahnt sich da noch eine große Autofähre ihren Weg zum Festland, während zwei Verrückte auf ihren Jet-Skis vorbeirauschen.

Ich gehe die Rampe hinunter und betrete den großen Betonsteg. Das erste Mal, dass ich Isla Mujeres betrete. Während der Walhai-Ausflüge habe ich nur den Strand der Insel kennengelernt. Nun bin ich endlich hier, und das, mit einem Kribbeln im Bauch. Wird wohl an der Aufregung liegen. Irgendwo auf dieser Insel lebt Luis. Mit seiner Frau.

Im Zentrum der Insel herrscht großer Trubel. Viele Tagesausflügler sind unterwegs. Überall wo man hinblickt gibt es Souvenirläden und kleine bunte Restaurants. Es gibt italienisches, vegetarisches und natürlich mexikanisches Essen. Viele Lokalitäten bieten frische Smoothies aus Früchten und Gemüse an. Vorsichtig überquere ich die einspurige Hauptstraße, auf der wohl mehr offene Golfwagen als normale Autos fahren. Einheimische rauschen auf ihren Mopeds die engen, grau gepflasterten Straßen entlang.

Die Fußgängerzone ist klein, und schon nach fünf Minuten Fußweg stehe ich vor den Klippen auf der anderen Inselseite. Hier ist das Meer rau und verliert sich in einem dunklen Blauton in der Ferne am Horizont. Ich spüre die milde Brise im Gesicht und atme tief durch. Die Wellen klatschen an die Klippen, kaum zwei Meter unter mir. Da der letzte Hurrikan hier vor einigen Jahren alles weggespült hat, wurde eine kleine steinerne Schutzmauer errichtet und davor ein breiter Fußweg, auf dem ich mich jetzt befinde. Für eine Weile setze ich mich auf die Mauer und blicke sehnsüchtig auf den Horizont. Dort draußen habe ich unvergesslich schöne Momente erlebt. Mit Luis. Dort haben wir uns kennengelernt. Ich spüre eine tiefe Sehnsucht in mir. Wie ich diese Momente vermisse. Wie ich ihn vermisse. So sehr, dass ich an nichts anderes mehr denken kann. Und jetzt bin ich auf seiner Insel. Seinem Zuhause. Er ist so nah und doch so fern.

In der Fußgängerzone kaufe ich mir einen belegten Bagel. Seit dem Frühstück hatte ich nichts mehr gegessen, und mein Magen knurrt wie verrückt. Die kleine Fußgängerzone ist sehr idyllisch. Ich spüre das typisch bunte mexikanische Leben, das in den großen Städten der Karibik bereits vom Massentourismus überschattet wird. Während sich in Cancún die meisten Einwohner erst vor wenigen Jahrzehnten aus Mexiko City oder anderen Orten dort niedergelassen haben, sind die meisten Inselbewohner schon seit vielen Generationen hier. Als auf dem knapp zwölf Kilometer entfernten Festland nur dichter Dschungel zu erkennen war, gab es auf Isla Mujeres dagegen bereits Zivilisation. Schon seit Tausenden von Jahren wird die Insel von Mayas genutzt. Dann, vor ungefähr fünfhundert Jahren, eroberten sie die Spanier und während der letzten Jahrhunderte wurde sie immer wieder von Piraten für kürzere und längere Aufenthalte genutzt. Übersetzt bedeutet Isla Mujeres die Insel der Frauen. Als ihr Entdecker gilt bis heute Francisco Hernández de Córdoba, der als erster Spanier die Insel betrat. Hunderte Jahre vor Christi erbauten die Mayas auf der Südspitze einen kleinen steinernen Tempel zu Ehren ihrer Göttin Ixchel, die Göttin der Fruchtbarkeit, des Mondes und der Medizin. Durch den Fund von steinernen Frauenfiguren und Schmuck auf der Südspitze der Insel, wo sich noch heute der kleine Maya-Tempel befindet, bekam die Insel angeblich ihren Namen. Vielleicht von spanischen Eroberern, vielleicht von Piraten. Auch die Piraten haben ihr Erbe auf der Insel gelassen. Der berühmte Pirat Fermin Mundaca ließ vor über einhundert Jahren ein riesiges Anwesen erbauen, das man noch heute als Villa Mundaca besichtigen kann. Andere berühmte Piraten haben ihre letzte Ruhestätte auf dem kleinen Friedhof der Insel gefunden. Mein Blick fällt auf die grauen Gräber aus Beton, die oberirdisch dicht aneinandergereiht sind. Die gesamte Region liegt auf einer Kalksteinplatte. Tiefe Löcher zu graben ist daher extrem schwierig. Erde gibt es kaum.

In einem einfachen zentralen Hotel miete ich mir ein kleines Zimmer im ersten Stock. Das Gebäude ist lila angestrichen und macht einen gepflegten Eindruck. Meinen Rucksack streife ich ab und lasse mich auf das weiche Bett fallen.

Nach einem Blick auf mein Handy wird meine Enttäuschung groß, und mir wird bewusst, wieso ich einen Tag vor dem Seminar auf die Insel gekommen bin. Sicher nicht, um die Schönheit der Insel zu bewundern. Hatte er mich nicht eingeladen? „Komm auf die Insel damit ich sie dir zeigen kann“, waren seine exakten Worte. Habe ich da vielleicht etwas falsch verstanden?

Frustriert bin ich. So sehr, dass ich keine Lust mehr habe, das Hotelzimmer heute noch zu verlassen. Hatte ich mich doch so gefreut, ihn endlich wiederzusehen. Einen ganzen Tag mit ihm zu verbringen. Ohne Arbeit.

Die Sonne steht schon tief am Horizont, und der Himmel verfärbt sich blutorange. Ich beschließe, eine Dusche zu nehmen. Als ich mich abtrockne piept mein Handy. Jetzt habe er Zeit. Er kommt, schreibt er. Mein Herz fängt wild an zu rasen.

Aufgeregt setze ich mich auf den weißen Plastikstuhl vor meiner Hoteltür. Von hier habe ich einen Blick auf die Einfahrt des Hotels, die auf die kleine Straße führt. Es scheint eine Ewigkeit zu dauern, bis schließlich ein knatternder, blauer Motorroller in die Einfahrt fährt. Als der Fahrer den Helm abnimmt, erkenne ich den schwarzen Lockenkopf von Luis. Ich beobachte ihn, wie er die beleuchteten Treppen nach oben geht. Noch hat er mich nicht gesehen. Mein ganzer Körper bebt vor Aufregung. Dann treffen sich unsere Augen. Luis lächelt mich an. Als er mich ein wenig tölpelhaft umarmt, spüre ich seine Nervosität. Im kleinen Hotelzimmer erklärt er mir, dass er verschwitzt sei und sich duschen müsse. Etwas verdutzt beobachte ich ihn dann dabei, wie er sich vor mir entblößt und ins Badezimmer verschwindet, ohne dabei die Tür hinter sich zu schließen. Als er fertig ist kommt er zurück ins Zimmer und stellt sich splitternackt vor mich. Denkt er wirklich, ich wäre auf die Insel gekommen, um mit ihm ins Bett zu steigen? Natürlich habe ich Gefühle für ihn. Aber ich möchte Carlos nicht betrügen. Plötzlich fühle ich mich unglaublich naiv. Was will ich hier eigentlich? Luis ist Latino. Natürlich muss er denken, dass ich Sex will, wenn ich ihn alleine in einem Hotelzimmer treffen möchte. Wobei man dafür wahrscheinlich noch nicht einmal ein heißblütiger Latino sein muss.

„Wollen wie eine Runde mit deinem Moped drehen? Du wolltest mir doch die Insel zeigen, oder?“, werfe ich in den Raum.

Der milde Fahrtwind streichelt mein Gesicht. Im Dunkeln leuchten die Straßenlaternen in einem matten Gelb und weisen uns den Weg. Links tief unter uns die Klippen. Das Mondlicht glitzert über der endlos scheinenden pechschwarzen Karibik. Außer dem Rauschen des Meeres höre ich nur das stetige Knattern des Mopeds. Es ist stockdunkel, als Luis an der Südspitze der Insel den Motorroller zum Stehen bringt. Wir steigen ab und gehen den dunklen Pfad an den Klippen entlang. Vorbei an der steinernen Statue der Fruchtbarkeitsgöttin. Hier am Ende der Insel befinden sich neben den Ruinen des Maya-Tempels lediglich steile Klippen. Die Sicht ist atemberaubend. Auf der einen Seite sieht man die eleganten Hochhäuser der Zona Hotelera, wie sie majestätisch um die Wette glitzern. Auf der anderen Seite spiegelt sich das Meer aus Sternen auf der dunklen Wasseroberfläche.

Wir setzen uns auf eine Bank. Und reden und reden. Ich bin glücklich. Nach und nach vergeht auch meine Nervosität. Luis scheint es ähnlich zu gehen. Verliebt schaut er mich an. Es ist ihm anzusehen, wir sehr er sich nach einer Umarmung sehnt. Einem Kuss. Doch wir bleiben auf Distanz. Trauen uns nicht. Vielleicht weil wir beide wissen, dass es nicht richtig wäre.

Auf dem Rückweg fahren wir durch Wohngebiete. Wie wohl sein Haus aussieht, frage ich mich. Ob er hier in der Nähe wohnt? Natürlich frage ich nicht. Wohnt er da doch mit seiner Frau zusammen. Und das Thema ist heute Abend ein Tabu.

Inzwischen ist es gespenstig ruhig geworden auf der Insel. Die Tagesausflügler sind allesamt zurück auf dem Festland. Nur hier und da spielen noch Kinder am Straßenrand während ältere Menschen vor ihren Häusern sitzen und sich unterhalten. Plötzlich hält Luis vor einem Hauseingang, vor dem eine alte Dame sitzt. Er steigt vom Moped und begrüßt sie mit einem Kuss auf die Wange. Ich folge ihm leicht irritiert.

„Meine Mutter“, erklärt er mir. „Mutter, das ist eine Arbeitskollegin“, erklärt er der alten Dame. Ich spüre ihre prüfenden Blicke. Ihre kurzen Haare sind schneeweiß und ihr helles Gesicht voller Falten. Obwohl sie schon an die achtzig Jahre alt sein wird, macht sie noch einen sehr agilen Eindruck. Und sie redet gerne und viel. Wie ein Wasserfall strömen die Wörter aus ihrem fast zahnlosen Mund. Langsam folge ich den beiden in ihre kunterbunte Wohnung. Die Wände sind in knalligen Farbtönen bemalt und überall steht, hängt oder liegt irgendetwas. Es wirkt chaotisch und doch gleichzeitig irgendwie gemütlich. Schon eine ganze Weile spüre ich meine Blase drücken und entscheide mich dazu, sie zu fragen, ob ich ihre Toilette benutzen dürfe. Sie bejaht dies, und erleichtert schließe ich im kleinen Badezimmer die Tür hinter mir. Während ich mich pinkeln höre ich, wie sie ihren Sohn in einem strengen Ton fragt, was ich hier mit ihm mache. Nun ja, Luis ist verheiratet, und die konservativen mexikanischen Männer haben keine weiblichen Freunde. Das ist mir schon klar. Doch möchte ich denn nur eine Freundin von ihm sein?

Es ist fast Mitternacht, als Luis seinen knatternden Motorroller vor meinem Hotel abstellt. Ich gebe ihm meinen Helm zurück. Nervös schaut er mich an. „Soll ich mit raufkommen?“, fragt er mich.

„Ja“, höre ich mich überraschend sagen, bevor ich überhaupt darüber nachdenken kann. Als wäre es nicht meine eigene Stimme gewesen. Ich schließe die Tür zu meinem Hotelzimmer auf. Bevor ich eintreten kann, packt mich Luis am Arm und küsst mich leidenschaftlich. Ich erstarre. Eiskalt läuft es mir den Rücken herunter. Etwas ist nicht richtig. Fühlt sich nicht richtig an. Nein. Ich mache einen Schritt zurück. Schaue ihn freundlich an. „Es tut mir leid Luis, aber ich kann nicht. Nicht hier und nicht jetzt.“

Aufgewühlt lege ich mich auf mein Hotelbett. Ich weiß, ich habe die richtige Entscheidung getroffen und ihn abgewiesen. Ich fühle mich erneut unglaublich naiv. Mein Herz sehnt sich nach Luis, doch mein Verstand sagt mir immer wieder, dass ich verheiratet bin. Und Luis eine Familie hat. Es ist ein Kampf zwischen Herz und Geist. Heute hat mein Verstand gewonnen. Glücklich bin ich damit dennoch nicht und mache in dieser Nacht kein Auge zu. Unruhig wälze ich mich hin und her. Bis die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages durch die hellen Gardinen schimmern, und mich von meiner Qual erlösen. Trotz Müdigkeit bin ich froh, endlich aufstehen zu können.

Unter der Dusche lasse ich kühles Wasser an meinem Körper herunterlaufen. Die Müdigkeit nimmt ab. Ich ziehe mich an und packe alles wieder in meinen Rucksack. Ins Hotelzimmer werde ich nicht mehr zurückkehren.

An der Straße vor dem Hotel warte ich. Es ist fast Sieben, als ich in der Ferne ein bekanntes Knattern höre, das langsam immer lauter wird.

„Ich muss mich bei dir für letzte Nacht entschuldigen. Es ist mir sehr unangenehm was passiert ist.“

Ich bin überrascht. Und erleichtert. Hatte doch eigentlich ich das schlechte Gewissen. Ihn abgewiesen zu haben. Nun entschuldigt sich Luis jedoch bei mir.

„Alles gut“, antworte ich und schwinge mich fröhlich hinter ihn auf den blauen Motorroller.

6

Wir gehen den Bootssteg entlang. Die meisten Crew-Mitglieder sind schon eifrig damit beschäftigt, das Deck und die Sitzbänke des gelben Katamarans zu reinigen.

Luis und ich setzen uns in den vorderen Bereich mit Blick auf die Lagune. Sie ist umgeben von Mangroven, aus denen überall weitere Bootsanleger herausragen. Schicke Schnellboote und wunderschöne Segelschiffe warten hier auf ihren Ausflug. Das Wasser ist ruhig und in einem dunkelgrünen Ton. Bei strahlend blauem Himmel zwitschern vergnügt die Vögel. Es ist Seminartag. Und es wird ein heißer werden.

Die Dieselmotoren des Katamarans heulen auf. Langsam fährt er durch das trübe Wasser der Lagune auf einen kleinen Kanal zu, der auf das karibische Meer führt. Über das Meer zum Festland, wo schon eine Ansammlung von Tagesausflüglern wartet. Mit ihnen auch mehrere Reiseleiter und Seminarteilnehmer. Als alle an Bord sind, legen wir wieder ab und fahren nun eine Weile parallel zur Küste Richtung Norden. Wie auch die Fähre hat dieser Katamaran ein Sonnendeck und darunter einen überdachten Bereich. Dieser ist jedoch offen und somit nicht klimatisiert. Auf den hintereinander gereihten weißen Sitzbänken haben sich die meisten der Gäste niedergelassen. Nur wenige sitzen oben in der glühenden Hitze. Leicht schwankend bewegt sich der Katamaran schließlich aufs offene Meer zu. Dann verstummen die Motoren abrupt. Vor uns liegt das zweitgrößte Korallenriff der Welt. Ein guter Grund, für einen Sprung ins Wasser.

Eine farbenfrohe, faszinierende Welt voller Leben erwartet mich. Überall um mich herum tummeln sich bunte Fische. Ein giftiger Feuerfisch schwimmt vorbei. Man erkennt diese exotischen Fische leicht an ihren vielen auffälligen Brustflossenstacheln und dem bräunlich-weißen Streifenmuster. Eigentlich gehören diese wirklich schön aussehenden Skorpionfische in den Indopazifik und ins Rote Meer und nicht in die Karibik. Irgendwie haben sie dann doch ihren Weg hierher geschafft, wahrscheinlich mit menschlicher Hilfe. Sie verbreiten sich rasant, da sie im karibischen Meer kaum natürliche Feinde haben, und das führt so langsam zu einem Ungleichgewicht der Meeresbewohner in dieser Region. Was von der Natur sinngemäß eingerichtet wurde, bringen wir Menschen halt gerne durcheinander. Dass dieses egoistische Verhalten auf langer Sicht auch Nachteile für uns haben wird, scheint viele Menschen nicht zu interessieren.

Majestätisch schwimmen drei graue Stachelrochen an mir vorbei. Geschütz, unter einem steinernen Vorsprung des Korallenriffs, ruht ein zwei Meter langer Ammenhai auf dem sandigen Meeresgrund. Ich scheine ihn nicht zu interessieren. Sonnenstrahlen glitzern durch die Wasseroberfläche hindurch und bringen die vielen unterschiedlichen Korallen zum Leuchten. In diesem Moment gibt es keine Sorgen und keinen Kummer. Mein Kopf hört auf zu arbeiten und meine Seele hat Frieden. Es ist, als existiere nichts außerhalb dieser bezaubernden Unterwasserwelt. Die Zeit steht still.

Zurück auf dem Katamaran geht die Fahrt weiter und ein kleiner grüner Fleck am blauen Horizont nimmt langsam Gestalt an. Umrandet vom türkis leuchtenden Meer erscheint sie vor uns wie ein Postkartenmotiv aus dem Paradies. Fragatas gleiten über unsere Köpfe hinweg. Kormorane dümpeln im Wasser, und Pelikane stürzen sich im Sturzflug auf die Fische unter der Wasseroberfläche. Vogelgezwitscher ertönt in den schönsten Klängen und wird lauter, je näher wir der grünen Paradiesinsel kommen. Contoy.

Der Katamaran fährt in eine Bucht, und ein weißer Sandstrand kommt zum Vorschein. Hinter ihm wiegen sich meterhohe Kokospalmen leicht im Wind. Das kristallklare Wasser ist ruhig und glitzert in hellen Blautönen in der Mittagssonne. Ab und zu taucht eine Tortuga kurz zum Luftholen auf. Sobald sie uns sieht, taucht sie erschrocken schnell wieder ab. Meeresschildkröten sind faszinierende Lebewesen. Hier begegnen einem vor allem die Suppenschildkröte und die unechte Karettschildkröte. Sie bevölkerten die Erde schon bevor es Dinosaurier gab. In den Sommermonaten legen sie ihre Eier am Strand. Nur dazu kommen sie einmal im Jahr aus dem Wasser heraus. Und zwar nachts, wenn alles dunkel ist. Helle beleuchtete Strände an Hotelanlagen sind ein Problem für die Schildkröten, sie verwirren sie in der dunklen Nacht und schrecken sie ab. Aus dem Grund sind Orte wie diese unbewohnte Insel so wichtig. Schlüpfen die kleinen süßen Babymeeresschildkröten, müssen sie so schnell es geht über den Strand ins Meer gelangen, um nicht von Vögeln gefressen zu werden. Nur fünf Prozent überleben das erste Lebensjahr. Nach dreißig Jahre sind sie geschlechtsreif und legen ihre eigenen Eier. Dazu kehren sie an ihren Geburtsort zurück. Wie sie das nach dreißig Jahren schaffen, obwohl sie inzwischen Tausende von Kilometern entfernt sind, ist bis heute ein ungelöstes Rätsel.

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