Kitabı oku: «Wolken im Paradies», sayfa 4
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Ein Monat in der Hauptstadt kann ganz schön lang sein. Daher beschließen Carlos und ich, eine Freundin zu besuchen, die auch Reiseleiterin in der Karibik ist und zurzeit in ihrem Elternhaus in Guanajuato Urlaub macht. Von Mexiko City sind es knapp vierhundert Kilometer, also etwa vier Autostunden. Wenn man die kostenpflichtige Autobahn nimmt.
Carlos’ Bruder leiht uns seinen eleganten schwarzen Jeep. Die Familie besitzt mehrere Autos. Neben dem Jeep noch einen SUV und einen älteren Kompaktwagen. Ohne ein Auto ist es nicht einfach, sich in dieser Riesenstadt fortzubewegen. Obwohl es ein Metrosystem, kleine Busse und an die zwei Millionen Taxen gibt. Die untere Mittelschicht ist auf diese günstigen Transportmittel angewiesen. Alle Einwohner jedoch, die sich ein eigenes Auto leisten können, meiden öffentliche Verkehrsmittel.
Als ich einmal vor Jahren die Metro in der Stoßzeit genommen habe, war sie gnadenlos überfüllt und ein Mitfahrer griff mir zwischen die Beine. Seither fahre ich ungern mit ihr. Das Bussystem ist schlimm. Es ist chaotisch und gefährlich. Da ich immer alles ausprobieren möchte, bin ich auch schon mit dem Bus gefahren. Oder habe es zumindest versucht. Eine Stunde bin ich irrend durch die Stadt gelaufen, von Haltestelle zu Haltestelle. Nach drei langen Stunden und fünf verschieden Peseros, war ich dann irgendwann an meinem Ziel. Das war das erste und letzte Mal, dass ich einen verdreckten, stinkenden Pesero in der Hauptstadt genommen habe. Wenn man sich nicht auskennt, sollte man die Peseros daher meiden. Oft wird man zudem beklaut und sollte Wertsachen lieber zuhause lassen. Taxifahren in Mexiko City stellt leider auch keine gute Alternative zum eigenen Auto da, da es schwierig ist zu erkennen, ob es sich um ein legales, registriertes Taxi, oder ein Pirata, also ein illegales Taxi, handelt. Die Piratas schlossen sich vor Jahren zu Banden zusammen und fingen an, das Verkehrsministerium mit Geldern zu bestechen, um keine Strafen befürchten zu müssen. Benutzt man eines dieser illegalen Taxis, könnte es zu dem gängigen Kidnapping-Express kommen. Dabei wird der Fahrgast mit Waffengewalt zu einem oder mehreren Bankautomaten gefahren und gezwungen, so viel Geld wie möglich abzuheben. In anderen Fällen kann die Benutzung eines Pirata sogar zu Misshandlungen wie Vergewaltigungen bei Frauen, oder Entführungen kommen.
Eine Stunde fahren wir noch durch den dichten Verkehr der in Smog eingehüllten Millionenstadt, bis Carlos endlich auf eine mehrspurige Autobahn fährt und wir die Stadt langsam hinter uns lassen. Plötzlich erscheint vor uns eine große Kontrollanlage mitten auf der Autobahn. Eine caseta de cobro. Wir müssen uns einreihen. Es ist die Autobahnmaut, die hier bezahlt werden muss. Mehrere Kassen gibt es, die parallel abkassieren, damit es nicht lange dauert. Da diese gebührenpflichtigen Autobahnen jedoch sehr teuer sind, benutzen sie auch nicht viele, und zu Staus kommt es so gut wie nie. Der Staat darf nur Gebühren für eine Autobahn des Landes erheben, wenn es eine kostenfreie Alternative gibt, die sogenannten Libres. Im Gegensatz zur teuren Autobahn sind sie jedoch häufig in schlechtem Zustand und führen über Dörfer. Man braucht daher oft viel länger, um ans Ziel zu gelangen. Und sie sind gefährlicher, da es dort zu Überfällen kommen kann, was auf den kostenpflichtigen Autobahnen so gut wie ausgeschlossen ist.
Wir fahren Richtung Norden durch eine grüne, bergige Landschaft. Auch Guanajuato liegt in einem Gebirgstal etwa zweitausend Meter über dem Meeresspiegel. Dadurch hat es ein sehr angenehmes Klima. Tagsüber ist es warm und nachts angenehm kühl.
Nach mehreren Autostunden auf der fast leeren Autopista sind wir am Ziel und Carlos parkt den Jeep vor dem schönen Garten des Elternhauses unserer Freundin Sofia. Sie leben außerhalb der Stadt mitten im grünen Nadelwald. Sofort steigt mir der frische Duft der Tannen in die Nase. Nach den Wochen des Dauersmogs durch stinkende Abgase wirkt die duftende Waldluft belebend und reinigend.
Wir begrüßen Sofia herzlich, und sie stellt uns gleich ihren Eltern vor. Sofia ist groß und kurvig und hat lange schwarze Locken. Man erkennt sofort die brasilianischen Gene der Mutter in ihr, die noch größer ist als Sofia. Wie auch Sofia, ist ihre Mutter eine fröhliche und sehr selbstbewusste Person. Ihr Vater wirkt angenehm ruhig. Vielleicht ist er auch einfach überwältigt, von seinen brasilianischen Power-Frauen.
Sofia führt uns in das gemütliche Gästezimmer und nach einem herzlichen, familiären Abendessen, ziehen wir uns müde zurück. Am nächsten Morgen zeigt uns Sofia die Stadt. Nachdem wir das Auto in einer Tiefgarage geparkt haben, schlendern wir zu Fuß durch das Zentrum von Guanajuato. Ich bekomme sofort das Gefühl, mich in Spanien zu befinden. Wir schlängeln uns durch enge, verwinkelte Gassen aus Kopfsteinpflaster und ich bestaune die Bauten aus der kolonialen Zeit. Heute ist in Guanajuato die Hölle los, es ist gefüllt mit feiernden Menschen. Überall gibt es Tanz- und Theateraufführungen. El Cervantino. Das berühmte Festival hat die gesamte Stadt im griff.
Wir schauen uns das Theaterstück La Llorona an. Der Legende nach handelt es sich dabei um eine Frau, die ihre Kinder an einem Fluss ertränkt haben soll. Als sie sich der grausigen Tat bewusst wurde, beging sie Selbstmord. Die Bewohner des Dorfes begruben sie, und in der darauffolgenden Nacht hörten sie am Fluss, wie eine Frau um ihre Kinder weint. Die Dorfbewohner gaben daraufhin dem weinenden Geist der toten Frau den Namen La Llorona. Viele spirituelle Mexikaner sagen, dass man sie heutzutage auch noch hören kann, und zwar meist in der Nähe von Flüssen.
Als das Theaterstück endet, ist es draußen bereits dunkel. Ich bekomme eine Gänsehaut. Irgendwie ging mir die Geschichte nah. In diesem Land habe ich gelernt, an Geister zu glauben. Mexikaner glauben ganz fest daran. Jedes Jahr feiern sie Anfang November den Día de los Muertos. An diesen Tagen kommen die Toten als Geister zu ihnen zurück. Um sie zu ehren, werden in den Häusern und auf den Friedhöfen Altare aufgestellt und geschmückt, auf denen Angehörige den Verstorbenen deren Lieblingsspeisen und Getränke anbieten. Mexikaner glauben, der Tod sei der Anfang eines neuen Lebens. Diese spirituelle Denkweise hatten schon die Urvölker der Mayas und Azteken, die bis heute das mexikanische Leben mit ihren Traditionen prägen.
Sofia spürt, dass ich Carlos gegenüber distanzierter bin. Als Carlos einige Meter vor uns geht und ich mir ziemlich sicher bin, dass er mich nicht mehr hören kann, erzähle ich Sofia von meinen Qualen. Dass ich das Gefühl habe, Carlos einfach nicht mehr zu lieben. Luis erwähne ich jedoch nicht. Carlos scheint mein distanziertes Verhalten ihm gegenüber jedoch überhaupt nicht zu interessieren. Entweder will er es nicht wahrhaben, oder es ist für ihn normal, dass man in einer Ehe einfach irgendwann distanzierter wird. So wie seine Eltern es ihm jahrelang vorgemacht haben.
Sofia sieht bedrückt aus. Sie kann mich verstehen, doch tut ihr Carlos auch leid, ist er doch ein guter Freund von ihr. Dennoch schweigt sie und behält das Geheimnis für sich.
Bevor wir Guanajuato wieder verlassen, besuchen wir am nächsten Tag noch eine inzwischen stillgelegte Silbermine. Einige Meter unter der Erde drängen wir uns durch kleine, dreckige, dunkle Schächte. Faszinierend und bedrückend zugleich, wenn man den Geschichten des Mexikaners so zuhört, der uns durch die Mine führt. Wie die Männer hier unten Knochenarbeit leisten mussten, um das Silber aus dem Gestein zu brechen. Nicht wenige gingen dabei zugrunde. Starben nicht selten an Lungenkrankheiten.
Zurück in der warmen Sonne sieht die Welt wieder anders aus. An einem kleinen Souvenirstand kaufe ich mir ein Armband aus rosafarbenen Natursteinperlen. Die Verkäufer erzählt mir, dass es Glück in der Liebe bringt. Das könnte ich wahrlich gebrauchen. Sollte es seinen Zweck dennoch nicht erfüllen, ist es zumindest hübsch anzusehen.
Zum Abschied umarme ich Sofia herzlich. Bald werden wir uns in der Karibik wiedersehen. Doch noch ist der Urlaub nicht ganz zu Ende. Wir lassen Tod und Geister hinter uns und fahren in die vielleicht schönste Stadt Mexikos.
San Miguel de Allende. Eine relativ kleine Stadt. Auch hier habe ich das Gefühl, mich im Süden Europas zu befinden. Auf dem zentralen Platz der Stadt, dem Jardin de Allende, befindet sich die im gotischen Stil erbaute Kathedrale aus dem siebzehnten Jahrhundert. Ohne Zweifel haben die spanischen Eroberer hier ihre Spuren hinterlassen.
Am späten Nachmittag treten wir dann die Heimfahrt an zurück zum Smog. Obwohl ich wunderbare Orte gesehen habe, bin ich froh, dass wir nun fahren. Noch eine weitere Woche in der Hauptstadt, bis es dann endlich auch wieder zurück in die Karibik gehen wird. Mit meinem Glücksbringer am Handgelenk.
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Es ist noch dunkel draußen. Das Bett von Carlos’ Großmutter ist hart und unbequem. Die Matratze ist so alt, dass sich der Körper seiner Großmutter eingeformt hat. Mit Rückenschmerzen quäle ich mich aus dem Bett. Es ist nahezu unmöglich, einen guten Nachtschlaf in diesem Bett zu bekommen.
Das Badezimmer ist klein und irgendwie niedlich. Baby-blau gekachelt. Ich lasse das heiße Wasser über meinen müden Körper laufen. Vor allem über meinen steifen, schmerzenden Nacken und Rücken.
Unten in der Küche ist alles ruhig. Es duftet nach frischem Kaffee. Mir ist kalt. Das Thermometer am Fenster zeigt neun Grad Celsius an. Heizungen gibt es hier keine. Dafür ist es tagsüber warm genug. Sobald sich die Sonnenstrahlen den Weg durch die graue Dunstglocke der Stadt bahnen, wird das Thermometer schnell wieder über zwanzig Grad klettern.
Carlos’ Mutter erscheint und nimmt sich wortlos einen Kaffee. Sicher hat sie mitbekommen, dass es zurzeit nicht besonders rosig zwischen mir und Carlos ist. Für sie sind Beziehungen voller Streit, Disharmonie und Frust allerdings normal. Sorgen macht sie sich daher wohl keine, nehme ich an. „Ich hole meinen Koffer“, sage ich und verschwinde nach oben.
In den frühen Morgenstunden fließt der Verkehr noch etwas besser, obwohl auch jetzt schon viel Betrieb herrscht. Wir schaffen es in einer halben Stunde zum Flughafen. Die Fahrt über herrscht Stille im Auto. Nur das Radio spielt einen Song nach dem anderen mit etwas Gequatsche zwischendurch.
Meine Schwiegermutter stoppt den SUV am Eingang des Terminals für Inlandflüge. Während Carlos unsere Koffer aus dem geräumigen Kofferraum hievt, umarmt mich meine Schwiegermutter kurz aber freundlich zum Abschied. Irgendwie spüre ich, dass ich sie nie wiedersehen werde.
Im riesigen Flughafen-Terminal von Mexiko City tobt das Leben. Noch ist es dunkel draußen, noch keine sechs Uhr morgens und doch sind schon unglaublich viele Menschen unterwegs. Lange Schlangen haben sich bereits vor den Schaltern gebildet. Wir stellen uns in die Menschenschlange und warten. Und wenn mich eines an Flughäfen nervt, dann das Warten. Warten aufs Check-in. Warten aufs Boarding. Einfach immer nur warten. Eine gefühlte Ewigkeit.
Ich erinnere mich, als wir vor drei Wochen Anfang Oktober bei Carlos’ Großmutter eingeladen waren. Ich kannte bis dahin nur die Mutter seiner Mutter. Jetzt lernte ich auch die Mutter seines Vaters kennen. Seine jüdische Großmutter. Der Anlass war die Feier des jüdischen Neujahres, des Rosch ha-Shana, dass immer zu dieser Jahreszeit stattfindet. Und wir waren nicht die einzigen Gäste in ihrer kleinen Wohnung. Neben Carlos’ Eltern und Geschwistern kamen zudem seine jüdischen Cousins und Cousinen, Tanten und Onkel. Die Wohnung seiner Großmutter befand sich in dem schicken Stadtteil Polanco, in dem viele wohlhabende Juden leben. Sie bestand aus einem Schlafzimmer, einem kleinen Badezimmer, einer kleinen Küche und einem Wohnraum, den der große Esstisch so gut wie ausfüllte. Wir mussten so um die fünfzehn Personen gewesen sein. Gezählt habe ich sie nicht. Es war eng, aber irgendwie auch gemütlich. Fröhlich unterhielten sich alle und es gab viel zu viel Essen. Typisch jüdisches Essen natürlich. Das erste Mal, dass ich es probierte. Es war lecker, doch irgendwie hatte alles eine süße Note. Das Brot wurde in Honig getaucht und der Reis enthielt süßes Trockenobst. Selbst im aus Fleisch hergestellten Kugel tummelten sich kleine süße Rosinen. Und als dann auch noch Honigkuchen aufgedeckt wurde, konnte ich keinen Bissen mehr runterbekommen. Mir wurde erklärt, dass beim Neujahrsfest um ein süßes neues Jahr gebeten und in vielen Speisen Honig statt Salz genommen wird.
Carlos’ Cousins hatten alle ungepflegte Bärte, die sie sich wegen eines Todesfalles in der Familie seit Wochen nicht rasieren durften. Sie interessierten sich für mich als neues Familienmitglied. Gaben mir das Gefühl, willkommen zu sein, obwohl ich nicht dem jüdischen Glauben angehöre. Als Carlos’ Großonkel von seiner Zeit in Auschwitz erzählte, wurde mir unbehaglich. Bevor er nach Mexiko auswanderte, lebte er mit seiner Familie nämlich in Polen.
Ich wusste nicht, wie ich auf seine Geschichte reagieren sollte. Was angebracht wäre, zu antworten. Also sagte ich nichts und hörte einfach nur zu. Als Carlos’ jüdische Familie plötzlich anfing, auf jiddisch zu sprechen, staunte ich nicht schlecht. Noch nie hatte ich die Sprache zuvor gehört. Niemals hatte ich damit gerechnet, diese tausend Jahre alte Sprache verstehen zu können. Dass sie meiner Muttersprache Deutsch so sehr ähnelt. Auch Carlos staunte nicht schlecht, als ich seiner Familie auf Deutsch antwortete, und sie mich verstanden. Wir eine amüsante Unterhaltung auf jiddisch-deutsch führten. Es war ein fröhliches Familienfest, das ich so schnell nicht vergessen werde.
Das Flugzeug ist bereit zum Boarden. Endlich. Wir gehen durch den Tunnel ins Innere der Maschine und ich setze mich an einen Fensterplatz. Es ist ein bewölkter Tag. Flughafenmitarbeiter in neongelben Westen weisen eine Maschine nach der anderen zum Rollfeld, damit sie starten können. Inzwischen hat mich der Hunger gepackt, und ich packe das Käse-Sandwich aus, das ich mir während der Wartezeit im Terminal gekauft habe. Zufrieden genieße ich mein Frühstück, während sich unser Flugzeug langsam in Bewegung setzt. Carlos hat sich Stöpsel ins Ohr gesteckt und hört Musik aus seinem iPod. In drei Stunden werden wir wieder in der Karibik sein. Ich frage mich, wann ich Luis wiedersehen werde und ob ich es schaffe, mich von Carlos zu trennen und ihm die Wahrheit zu sagen.
Während sich in meinem Kopf die Fragen überschlagen, bahnt sich die Maschine rüttelnd den Weg durch die graue Wolkendecke hinauf in den blauen Himmel.
11
Als sich die gläsernen Türen des Flughafenterminals öffnen, stößt mir eine feucht-schwüle Luft entgegen. Mir wird warm ums Herz. Mario, ein langjähriger Freund von Carlos, wartet schon auf uns. Er hat vor wenigen Jahren ein Busunternehmen gegründet, das ihm inzwischen eine Menge Geld einbringt. In Kleinbussen bringt er Urlauber vom Flughafen zum Hotel und wieder zurück. Die Reiseveranstalter beauftragen ihn mit diesem Service, den viele Pauschaltouristen ja inklusive gebucht haben. Gerade eben hat Mario Urlauber am Flughafen abgeliefert. Sein Bus ist jetzt leer, und er muss zurück nach Playa del Carmen. Also nimmt er uns mit.
Carlos unterhält sich die gesamte Fahrt über lebhaft mit seinem Freund. Ich bin froh, mich nicht unterhalten zu müssen, denn meine Gedanken sind woanders. Einen Monat ist es nun her, dass ich ins Flugzeug nach Mexiko City gestiegen bin. Einen Monat, seit ich das letzte Mal etwas von Luis gehört habe. Ich schließe die Augen und genieße die kühle Luft der Klimaanlage im Bus.
Nach einer Stunde fahrt biegen wir dann in unsere ruhige Straße ein. Die Sonne brennt vom Himmel und es ist grell. Ich kneife meine Augen zusammen, mein Kopf fängt an zu dröhnen. Aus meinem Rucksack hole ich meine Sonnenbrille heraus. Beim Aussteigen stößt mir ein Schwall heißer Luft entgegen.
Carlos schließt die Wohnungstür auf. Nach einem Monat ohne zu Lüften hat sich ein muffiger Geruch in der Wohnung ausgebreitet. Sofort öffne ich alle Fenster und stelle die Deckenventilatoren auf die höchste Stufe. Eine Klimaanlage haben wir nur im Schlafzimmer. Und die pustet nur stinkende, muffige Luft in den Raum. Also benutzen wir sie so gut wie nie.
Ich fange an, die Wohnung von oben bis unten sauber zu machen. Etwas, was ich gerne mache. Dabei kann ich meinen Gedanken freien Lauf lassen. Eine Art innere Ruhe überkommt mich, sobald alles schließlich sauber und ordentlich ist. Erst dann kann ich mich selber auch ausruhen und entspannen.
Carlos dagegen verschwindet in sein Arbeitszimmer, ohne auch nur zu fragen, ob er mir beim Putzen helfen könne. Er schaltet den Computer an. Nichts hat sich geändert. Nur dass ich jetzt weiß, was ich machen muss.
12
Noch habe ich mich nicht dazu entschieden, das Bett zu verlassen, obwohl die hellen Sonnenstrahlen schon eine ganze Weile durch die Gardinen schimmern. Schnurrend kuschelt sich mein tigerfarbener Kater an mich. Carlos arbeitet fast täglich, und das finde ich jetzt sehr angenehm. Seine Gegenwart ist erdrückend. Er tut weiterhin so, als wäre alles in Ordnung. Ist es für ihn ja wahrscheinlich auch. Woher soll er von meinem Gefühlschaos wissen, wenn ich es ihm nicht erzähle? Und dass ich kühl und abweisend zu ihm bin, ist ihm wohl egal. Ist er ja selber. Ständig verkriecht er sich in sein Arbeitszimmer. Das war früher nicht so.
Als wir uns vor drei Jahren kennenlernten, verliebten wir uns schnell. Jede Minute, die es uns möglich war, verbrachten wir miteinander. Gingen ins Kino oder Sushi essen. Zu Freunden. An freien Tagen unternahmen wir immer irgendetwas. Einmal sind wir für zwei Nächte nach Tulum gefahren. Besuchten die Maya-Ruinen, die sich in einer traumhaften Lage über den Klippen direkt am Meer befinden. Tulum ist im Gegensatz zu Playa del Carmen eine recht kleine Stadt. An Mangrovenwäldern und noch nahezu unberührten Strandabschnitten vorbei, führt eine kleine Straße durch Tulums sieben Kilometer lange Hotelzone hindurch. Sie steht im krassen Gegensatz zur monströsen Hotelzone Cancúns, die für den Massentourismus geschaffen wurde. In Tulum sind die Hotels klein, und jedes hat seinen ganz persönlichen Stil. Es sind häufig Individualtouristen, die Land und Leute kennenlernen möchten, die es nach Tulum verschlägt. Mit Carlos übernachtete ich in einer zeltähnlichem Hütte direkt am Strand. Fährt man die Straße der Hotelzone weiter geradeaus, kommt man direkt in den Nationalpark Sian Kaan. Sian Kaan ist Maya und bedeutet „Ort, wo der Himmel geboren wurde“. Ein wunderschöner Name für einen wunderschönen Ort. Auf einer Landzunge führt er über eine Sandstraße durch tropische Trockenwälder und Mangroven hindurch. Auf der einen Seite die Lagune, auf der anderen die Küste des karibischen Meeres. Es ist die Heimat vieler Seevögel, aber auch Jaguare und Pumas sind in diesen Wäldern zuhause. Am Ende der Landzunge, etwa vierzig Kilometer von Tulum entfernt, liegt das kleine Fischerdorf Punta Allen. Nicht einmal fünfhundert Einwohner zählt es. Auch in Punta Allen habe ich schon Ausflüge geleitet. Mit Jeeps sind wir hierher gefahren. Andere Fahrzeuge sind auf der mit Schlaglöchern übersäten Sandstraße nicht zu empfehlen. Im Fischerdorf haben wir dann kleine Holzboote gemietet und sind drei Stunden durch die Kanäle der Lagune gefahren. Es ging vorbei an Vogelinseln bis hin zum Korallenriff, wo geschnorchelt wurde. Ein schöner und doch anstrengender Ausflug, da ich nicht selten mit bis zu dreißig deutschen Urlaubern alleine unterwegs war. Nur ein Mechaniker unterstützte mich, für alle Fälle. Jede Vierergruppe bekam einen Jeep, den einer von ihnen selber fahren musste. Ich fuhr voraus und alle anderen in einer Karawane hinterher. Von Playa del Carmen bis Punta Allen. Jede Strecke dauerte dabei an die drei Stunden. Einmal gab es einen Unfall, bei dem das angemietete Boot, mit sechs Gästen an Bord, kenterte. Eine große Welle schoss ins Innere und kippte das Boot kieloben. In Punta Allen gab es natürlich kein Krankenhaus, und so musste ich die teilweise unter Schock stehenden Urlauber von einer Ärztin vor Ort notdürftig behandeln lassen und sie dann mit Platzwunden und Knochenbrüchen in das einhundert Kilometer entfernte Playa del Carmen fahren. Immer schön langsam die Schotterpiste entlang.
Ich schließe meine Augen. Möchte einfach nur weiterschlafen. Der Realität so lange wie möglich entweichen. Doch der Sonnenschein erhellt inzwischen da gesamte Schlafzimmer und das Konzert der Zanates reißt mich aus meiner Traumwelt heraus. Holt mich zurück in die Wirklichkeit. An Weiterschlafen ist nicht mehr zu denken und ich stehe auf.
Nach einer belebenden Dusche streife ich mir ein luftiges Sommerkleid über, nehme meine Handtasche und verlasse die Wohnung. Ich öffne das Tor vor dem Haus und lasse den Motor von Carlos’ Auto an. Ein kleiner dunkelblauer Peugeot. Er selber hat sich einen weißen Kleinbus von Toyota gekauft, den er an Agenturen für Tagesausflüge vermieten möchte. Möchte es Mario nachmachen. Morgens fährt er mit ihm zur Arbeit. So kann ich das Auto nutzen.
In Playa del Carmen sind die Straßen wie auf einem Schachbrett angeordnet. Anstelle von Namen haben sie Nummern. 36. Straße Süd zum Beispiel. Ein Navigationssystem ist daher nicht notwendig, verfahren fast unmöglich. Geteilt wird die Stadt durch eine große Bundesstraße, die sich von Norden nach Süden durch die gesamte Riviera Maya zieht. Auf der einen Seite der Bundesstraße gelangt man zum Meer und zur berühmten Strandpromenade, der 5ta Avenida. Ein Gebäude reiht sich an das andere. Eine beliebte Wohngegend, da fast alles zu Fuß zu erreichen ist. Dementsprechend teuer ist sie. Unbebaute Dschungelflächen gibt es hier keine. Auf der anderen Seite der Bundesstraße geht es in den Urwald. Nun ja, so war es einmal. Inzwischen reihen sich auch hier die Gebäude dicht aneinander. Immer weiter wird gebaut, immer mehr dichter Urwald verschwindet und wird durch Straßen, edle Einkaufszentren, riesige Supermärkte, Krankenhäuser, Schulen, Tankstellen und private Wohnanlagen mit Swimmingpools ersetzt. Meine Wohnung befindet sich auch auf dieser Seite.
Vor nur fünfzig Jahren war Playa, wie wir es liebevoll nennen, nur ein kleines Fischerdorf mit knapp zweihundert Einwohnern. Der Tourismus-Boom erreichte es dann aber auch, und heute gilt Playa als die mexikanische Stadt mit dem höchsten Bevölkerungswachstum. Sie stand sogar schon im Guinness Buch der Rekorde als die am schnellsten wachsende Stadt der Welt. So richtig weiß man daher nie genau, wie viele Einwohner sie jetzt gerade hat. Im Jahr 2010 waren es zumindest einhundertfünfzigtausend.
Die Ampel wird grün, und ich fahre auf die andere Seite der Bundesstraße. Ein enormer Supermarkt über zwei Etagen erscheint am Straßenrand. Immer wieder muss ich abbremsen, da die Straßen mit Topes ausgestattet sind. Angeblich die einzige Möglichkeit, Mexikaner zum Langsamfahren zu bringen. Zumindest ist es effizient. Macht leider auf Dauer die Autos kaputt. Was wohl wiederum die Autoindustrie erfreut. Und wohl auch ein Grund ist, warum es hier so viele Autos mit Automatikgetriebe gibt. Ständig muss man bremsen, beschleunigen, bremsen, beschleunigen und wieder bremsen. Ich bin die ganze Zeit am Schalten und mein kleiner blauer Franzose stöhnt. Je weiter ich mich vom Zentrum und der Strandpromenade entferne, desto verwahrloster wirkt die Gegend. Müll sammelt sich am Straßenrand. Die Wandfarbe der Häuser bröckelt herunter. Wohnungen in diesem Teil der Stadt sind günstiger. Überfälle und Diebstähle keine Seltenheit.
Ich parke das Auto am Straßenrand. Gehwege sind praktisch nicht vorhanden. Sie sind teilweise so schmal, dass gerade mal eine Person darauf gehen kann.
Vor einem weißen Gebäude bleibe ich stehen. Die große Holztür ist verriegelt. Klingeln gibt es keine. Mit meinem Handy rufe ich Sara an. Lasse sie wissen, dass ich vor ihrer Haustür stehe. Hat man kein Handy, muss man rufen. Und zwar laut.
Sara macht mir auf. Gemeinsam gehen wir die Treppen hoch und kommen auf einen überdachten Gang, von dem aus mehrere Wohnungen abgehen. Ich folge ihr in ihre kleine Wohnung. Sie besteht aus einem Wohnbereich mit einer kleinen Küchenecke, einem Schlafzimmer und einem Duschbad. Sara wohnt hier alleine.
Kennengelernt haben wir uns bei den Ausflügen zu den Walhaien, wo auch Sara als Reiseleiterin gearbeitet hat. Sie spricht sechs Sprachen, und das fließend. Geboren in Indien wurde sie als Säugling von Belgiern adoptiert, wo sie auch aufwuchs. Nun lebt sie schon seit vielen Jahren in der Karibik. Ihr Leben hat sie dem Reisen und Abenteuer gewidmet. Viele Länder durfte sie schon ihr Zuhause nennen. Auf Anhieb verstanden wir uns prächtig und freundeten uns schnell an. Ich erzähle ihr von meinem Urlaub in Mexiko City und meinem Liebes-Dilemma. Dass ich mit dem Gedanken spiele, mich von Carlos zu trennen. Sara hört mir zu. Sie hat eine Idee.
Wir verlassen ihre Wohnung und fahren immer weiter nach Norden. Als wir am Stadtrand ankommen, fahre ich in eine Wohnanlage. Alle Häuser sind hier praktisch identisch. Kleine einfache Zwei-Etagen-Häuser mit einer kleinen Rasenfläche davor. Einige Besitzer haben ihrem Haus einen persönlichen Touch gegeben, indem sie zum Beispiel das Haus gelb angestrichen oder die Einfahrt zu einer Garage umfunktioniert haben. Es dämmert langsam, und die Blauraben halten ihr abendliches Zwitscherkonzert. Zu Hunderten sammeln sie sich in den Bäumen pünktlich zum Sonnenuntergang, wenn das Himmelsblau in ein leuchtendes Rosarot übergeht.
Wir klopfen an die Haustür. Eine schlanke Frau mit grauen langen Haaren öffnet uns. Ihr Gesicht braun gebrannt und faltig. Sie ist sicher schon über fünfzig, schätze ich. Und doch macht sie einen jung gebliebenen und sehr agilen Eindruck.
Freudig begrüßt sie uns, und wir setzen uns alle an einen weißen Tisch im Wohnraum. Die Wohnung wirkt kahl und hell. Alles ist sehr klein. Irgendwie trist. Möbel hat sie kaum. Dann holt sie einen Stapel Karten hervor. Behutsam mischt sie sie. Gespannt schaue ich ihr dabei zu. Sie bittet mich, das gleiche zu tun. Also nehme ich den dicken Stapel an mich. Mische ihn. Bin dabei jedoch nicht besonders geschickt und ständig fällt mir eine Karte aus der Hand. Schließlich gebe ich ihr den gemischten Stapel zurück. Sie legt die Karten verdeckt auf den Tisch, und ich soll mir nun sieben aussuchen. Mit der linken Hand. Denn die ist für die Emotionen zuständig. Nicht für den Verstand. Gesagt, getan.
Die Frau breitet anschließend meine ausgesuchten sieben Karten auf dem Tisch vor mir aus. Dreht sie um, sodass Motive erscheinen. Merkwürdige Motive. Ich habe keine Ahnung, was die Motive bedeuten. Sie schaut mich an, und ich bin gespannt, was sie mir sagen wird. Weiß sie doch nichts von mir.
„Ich sehe eine starke Liebe“, beginnt sie. „Zwei Kinder. Ein Junge und ein Mädchen. Der Mann liebt dich. Seine Gefühle für dich sind echt. Aber er hat Angst.“
Ich bin verblüfft und erleichtert. War doch genau das meine schlimmste Befürchtung, dass Luis nur mit mir spielt. Ich gehe einfach mal davon aus, dass mit der starken Liebe Luis gemeint ist. Und doch, was ist mit Carlos?
„Was ist mit meiner Ehe?“
„Ich sehe keine Ehe, keine andere Beziehung. Das bedeutet, dass sie nicht mehr existiert, sie ist tot. Möchtest du, dass die neue Liebe leben kann, so musst du den Tod der Ehe akzeptieren und mit ihr abschließen.“
Ich war nicht erstaunt über diese Erkenntnis. Spüre ich doch schon seit Langem, dass meine Ehe am Ende ist. Meine Gefühle zu Carlos abgestorben sind.
„Wenn du noch Fragen hast, dann stell sie und zieh eine Karte. Sie wird uns die Antwort geben.“
Ich überlege. Und doch ist es im Prinzip nur eine Frage, die mich wie verrückt Tag und Nacht verfolgt.
„Wird sich Luis scheiden lassen?“
Erneut mische ich die Karten. Atme tief durch. Nehme eine und lege sie offen auf den Tisch. Mir läuft ein eiskalter Schauer den Rücken herunter. Bei den meisten Karten sagen mir die Motive nichts. Doch diese ist anders. Vor mir erblicke ich das Zeichen des Gerichts. Die Frau schaut mich blinzelnd an. „Ich sage dir ja, ihr werdet zusammen kommen und eine Familie gründen.“
13
Vor Sonnenaufgang hat Carlos das Haus verlassen. Wie immer zur Arbeit. In den vergangenen sieben Tage haben wir uns kaum gesehen. Erst am Abend wird er wiederkommen. Als ich das Hupen von der Straße höre, schaue aus dem Fenster. Sie sind da. Es geht los. Mein Körper bebt vor Energie und Lebenslust.
Zwei Tage ist es her. Nachts kurz vorm Einschlafen lagen Carlos und ich, wie so oft in letzter Zeit, schweigend nebeneinander im Bett. Wieder mal aufs Neue versuchte ich, mit ihm zu reden. In der Hoffnung, er würde mich ernst nehmen.
„Ich ziehe aus. Muss meinen Kopf frei bekommen und mir klar werden, was ich möchte. Du weißt genau wie ich, dass wir nicht mehr glücklich miteinander sind.“
„Ja gut. Mach was du willst“, brummte er desinteressiert, weder wütend noch traurig. Er drehte sich zur Seite und schlief ein. Natürlich hatte ich mir mehr erhofft. Aber ein schlechtes Gewissen brauche ich jetzt sicher nicht zu haben. Zumindest habe ich es versucht. Wieder mal.
Die Schweißtropfen rannen dem dicken Mexikaner das Gesicht herunter, als stünde er unter einer Dusche. Eine Wohnung ohne Pflanzen ist für mich wie eine Wohnung ohne Leben. Dass diese in schweren steinernen Übertöpfen ihr Zuhause haben, findet der braun gebrannte Mexikaner sicher nicht besonders vorteilhaft. Er stöhnt. Seinen dünnen Sohn hat er als Unterstützung mitgebracht. Er selber scheint trotz des opulenten Bierbauchs ein kräftiger Kerl zu sein. Muskelmasse eventuell darunter verborgen. Er nimmt einen großen Schluck aus der Zwei-Liter-Colaflasche. Seine pechschwarzen Haare sind klatschnass.
„Du hättest mir vorher sagen sollen, dass du schwere Übertöpfe aus Stein hast“, grummelt er. Es ist geschafft und ich gebe ihm sein Geld. Als er das großzügige Trinkgeld bemerkt, bekomme ich doch noch ein zurückhaltendes Lächeln zu sehen.
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