Kitabı oku: «Wolken im Paradies», sayfa 3
Die Sonne steht hoch am Himmel. Es ist Mittag und heiß. An einem hölzernen Bootssteg betreten wir die Insel. Nur Biologen und Parkangestellte dürfen hier über Nacht bleiben, in einem für sie errichteten Besucherzentrum. Touristen kommen nur mit einem gebuchten Tagesausflug mit uns Reiseleitern und einer geführten Tour auf die Insel. Pro Tag sind die Besucherzahlen begrenzt. Der Grund dafür ist, die Unberührtheit der Insel mit ihrer Flora und Fauna zu schützen.
Ich folge mit den anderen Seminarteilnehmern dem Biologen, der das Seminar leiten wird. Acht Reiseleiter sind wir insgesamt. Alle leben hier in der Karibik in Cancún oder wie ich, in Playa del Carmen. Und so wie auch ich sind die meisten schon seit mehreren Jahren hier. Wir kennen uns von anderen Ausflügen, haben schon zusammen gearbeitet. Sind Freunde geworden. Ein Italiener, eine Holländerin, eine Schweizerin und mehrere Mexikaner.
Wir gehen einen kleinen Trampelpfad entlang und gelangen nach wenigen Gehminuten zu einer Lagune. Mücken attackieren uns gnadenlos. Von einem kleinen hölzernen Steg aus beobachten wir ein Cocodrilo, wie es langsam die Lagune durchquert. Es ist ein Spitzkrokodil, vielleicht drei Meter lang. In den Mangroven um uns herum ziehen währenddessen Fregattvögel ihre Jungen auf. Ein lautes buntes Gegacker ist das hier. Contoy ist berühmt für seine Fragatas. Die Männchen sind leicht an ihrem aufgeblasenen, roten Kehlsack zu erkennen. In den Bäumen der Mangroven um die Lagune herum brüten sie. Da sie Koloniebrüter sind, brüten hier viele Vögel eng beieinander. Als tropische Vögel sind sie an keine bestimmte Brutzeit gebunden, und man kann sie das ganze Jahr dabei beobachten. Alle zwei Jahre wird ein Ei gelegt. Das ist relativ wenig für einen Vogel. Dafür können sie wiederum fünfundzwanzig Jahre alt werden. Über uns gleiten einige von ihnen am blauen Himmel. Fregattvögel sind perfekte Flieger und können wochenlang, ohne landen zu müssen, dahingleiten. Sogar schlafen sie währenddessen immer mal wieder für wenige Minuten. An Land wird der Schlafverlust dann nachgeholt. Bekannt sind Fregattvögel vor allem aber dafür, andere Vögel zu überfallen, um ihnen die hart erbeutete Beute zu klauen. Dieses Verhalten brachte ihnen auch ihren Namen ein. So wurden sie nämlich mit den Überfällen der Fregatten von Piraten verglichen. Alles das passiert aus der Luft. Wenn sie jedoch mal selber den Fisch aus der Lagune erbeuten, müssen sie aufpassen, dabei nicht nass zu werden. Ihre Federn würden sich vollsaugen und ein weiterfliegen schwierig bis unmöglich machen.
Während uns der Biologe weitere interessante Details der Vögel erklärt, welche wir dann eines Tages den Urlaubern erzählen werden, beobachte ich, wie unter uns in der Lagune Pfeilschwanzkrebse am seichten Grund entlangwandern. Lebende Fossile nennt sie der Biologe. Und so sehen sie wahrhaftig auch aus. Es scheint, als wäre die Zeit hier vor Langem stehen geblieben.
Nachdem wir den kleinen Pfad durch das grüne Dickicht zurückgehen und uns erneut mir zahllosen Stechmücken anlegen, gelangen wir an einen Aussichtsturm. Er ist aus Stein und damit relativ robust gebaut, da hier immer mal wieder starke Tropenstürme und Hurrikans über die Insel fegen. Bei der Hitze ist der Aufstieg schweißtreibend. Oben angekommen weht dann aber eine angenehme Brise als Entschädigung, und der Ausblick lässt die Anstrengung schnell vergessen. Contoy ist eine eher schmale, dafür aber eine relativ lange Insel. Dichte Palmenwälder und Mangrovenbäume zieren sie. Auf der gegenüberliegenden Seite der Traumbucht brechen sich die Wellen an den Felsen und das Meer hat einen dunkelblauen Ton. Auf dieser Seite geht es zum Golf von Mexiko, und würde man immer geradeaus fahren, würde man auf Kuba stoßen. Ich drehe mich um und schaue in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Klitzeklein erkenne ich Isla Mujeres am Horizont. Unter mir blicke ich auf die dunkle Lagune, an der wir die Fragatas beobachtet haben.
Beim Verlassen des Aussichtsturms spüre ich meinen knurrenden Magen. Seit dem Frühstück, und das bestand lediglich aus einigen wenigen Melonenscheiben, die mir Luis mitgebracht hatte, hat dieser nichts mehr bekommen. Da kommt es mir sehr gelegen, dass es jetzt Mittagessen gibt. Und zwar am Strand. Unter einem hölzernen Pavillon mit Palmblattdach qualmt die offene Feuerstelle, auf der ein großer Fisch vor sich hin brutzelt. Er wird auf eine traditionelle Art der Region mit Achiote mariniert, einem Annattostrauch. Die roten Samen der Früchte werden als Gewürz über den Fisch gerieben. Sie geben dem Fisch einen würzigen Geschmack und eine rote Farbe.
Mit verschwitzten Gesichtern sind die Mexikaner dabei, das Buffet aufzustellen. Neben dem herrlich würzig duftenden Fisch gibt es noch gegrillte Hähnchenschenkel, weißen Reis und einen großen gemischten Salat. Ich fülle mir großzügig auf und lasse es mir schmecken. Inzwischen haben auch die Urlauber auf den langen Holzbänken Platz genommen und genießen das Mahl. Zu Trinken gibt es gekühlte Erfrischungsgetränke in unterschiedlichen Farben und Geschmacksrichtungen und kaltes Bier. Mir reicht stilles Wasser.
Auf der Rückfahrt setze ich mich vorne auf das Sonnendeck vor die Absperrung auf einen kleinen Vorsprung. Luis setzt sich zu mir. Während ich den lauwarmen Fahrtwind im Gesicht spüre und leicht hin und her schwanke, blicken wir auf den blauen Horizont, der vor uns liegt. Es ist der wohl schönste Platz auf dem Katamaran. Ich genieße es, in Luis’ Nähe zu sein. Obwohl wir nur Freunde sind, fühlt es sich ganz besonders an. Der unangenehme Moment am Abend zuvor scheint Lichtjahre in der Vergangenheit zu liegen. Wir reden, machen Witze und sind einfach nur glücklich. Am Horizont erscheint nach und nach wieder die Silhouette der modernen Hochhäuser des Festlands. Sie kommen viel zu schnell auf bedrückende Weise immer näher. Morgen geht mein Flug in die Hauptstadt zu meinem Mann. Heute Abend wird Luis wieder bei seiner Frau sein. Wann werden wir uns wiedersehen? Das immer näher kommende Festland verwandelt sich in eine Wand voller Sorgen.
Wir verabschieden uns schnell. Als wäre es das Normalste überhaupt. Die Anderen wissen nichts von uns. Dürfen nichts wissen. Luis hat eine Familie. Ich einen Ehemann. Und der ist mit fast allen meiner Kollegen befreundet, die heute dabei waren. Und die Besitzer des Katamarans, die dieses Seminar organisiert haben, sind gute Freunde von Luis. Und seiner Frau. Bis auf den Kuss gestern im Hotel ist ja auch gar nichts passiert.
Langsam beginnt sich unser Kleinbus in Bewegung zu setzen. Durch das Fenster blicke ich traurig zurück zum Katamaran, der nun Kurs auf Isla Mujeres nimmt. Wie gerne wäre ich jetzt dort an Bord. Ich schließe die Augen und spüre zum ersten Mal am heutigen Tag, wie müde ich eigentlich bin. Als unser Fahrer hinter Cancún die Autobahn nach Playa del Carmen nimmt, schlafe ich ein.
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Was ist nur mit mir los? Normalerweise bin ich sehr organisiert und bei Terminen generell zu früh. Doch jetzt bin ich wirklich unter Zeitdruck. Ich stehe vor meiner Wohnungstür und halte kurz inne. Im Kopf gehe ich nochmals alles durch, was ich definitiv nicht vergessen darf. Ich denke, ich habe an alles gedacht und lasse die Tür ins Schloss fallen. An der Straße halte ich ein Taxi an, das mich zum Busterminal fährt. Zehn Minuten später sind wir da und ich zahle dem Fahrer dreißig Pesos und hole meinen Koffer aus dem Kofferraum. Für Anwohner gibt es einen besonderen Taxitarif. Touristen dagegen müssen oft das Dreifache bezahlen. Ständig muss ich mit den Taxifahrern diskutieren, da sie es mir oft nicht glauben, dass ich auch zu den Einwohnern gehöre. Als deutsche Blondine halten sie mich für eine Touristin, oder hätten es zumindest gerne, da es für sie mehr Einnahmen bedeuten würde.
Die Eingangshalle des Busterminals ist belebt, und ich stelle mich in die Menschenschlange vor einer der Kassen an. Ich habe Glück, und kurze Zeit später sitze ich in einem großen, gemütlichen Reisebus. Doch glücklich bin ich nicht. Liegt da wohl ein Unterschied im „Glück haben“ und „glücklich sein“. Irgendwie ist es mir ja eigentlich auch egal, ob ich den Flieger kriege oder nicht. Ich will ja gar nicht fliegen.
Eine Stunde später fährt der Reisebus auf den Parkplatz des Flughafenterminals. Ich ziehe meinen pinken Koffer hinter mir her und blicke auf die riesige Anzeigetafel am Eingang, auf der die Abflüge aufgelistet sind. Schnell gehe ich weiter zum Schalter, um meinen Koffer aufgeben zu lassen. Der Schalter ist leer, ich scheine die Letzte zu sein. Mit meiner Bordkarte in der Hand gehe ich dann mit schnellen Schritten auf die Sicherheitskontrolle zu. Die Menschen haben sich hier zu einer langen Schlange angesammelt. Nur langsam geht es voran. Ungeduldig schwanke ich von einem Bein auf das andere. In aller Ruhe werden Gürtel abgenommen, Taschen durchsucht und Babynahrung in spezielle Gefäße gefüllt. Vor mir ist eine Familie. Die Mutter klappt den Buggy zusammen und hievt ihn auf das Laufband. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis ich endlich an der Reihe bin. Schnell packe ich meinen Rucksack auf das Laufband und gehe durch den Detektor. Er piept. Eine Sicherheitsbeamtin winkt mich zu ihr. Sie tastet mit einem Handdetektor meinen Körper ab. Auf und ab. War wohl mein Bauchnabelpiercing. Als sie dort mit ihrem Gerät vorbeikommt, piept es wieder. Schließlich wirkt sie zufrieden und macht einen Schritt zurück. Ich darf endlich gehen. Doch von gehen kann jetzt keine Rede mehr sein. Ich muss rennen. Wenn ich es noch schaffen will.
Eine Dame steht hinter dem Schalter und starrt auf einen Computerbildschirm. Als sie aufschaut, gebe ich ihr meine Bordkarte ohne etwas zu sagen, da ich komplett aus der Puste bin. Sie lächelt mich freundlich an. „Glück gehabt.“ Hinter mir sperrt sie den Eingang mit einem Absperrband ab.
Die Maschine fliegt kurz nach dem Start eine Schleife, und ich blicke auf die pompösen Hochhäuser der Zona Hotelera. Schneeweiße Sandstrände, und ein Meer aus Hunderten verschiedener Blautönen glitzert mir entgegen. Kurz vor der Küste ist das Meer kristallklar und leuchtet in einem hellen Türkis. Dann sehe ich Luis’ Zuhause. Friedlich und wunderschön liegt es dort mitten im karibischen Meer. Ein kleines idyllisches Paradies. Auf der einen Seite brechen dunkelblaue Wellen vor felsigen Klippen. Auf der anderen Seite schimmert das türkisfarbene Meer vor weißen, mit Kokospalmen gesäumten Sandstränden. Mein Herz wird schwer beim Anblick der Insel. Wie ein Magnet fühle ich mich zu ihr hingezogen.
Ich beginne, über Luis nachzudenken. Über das, was er mir alles in den letzten Tagen erzählt hat. Dass vor sieben Jahren seine Frau mit den Kindern nach Mérida gezogen ist. Dreihundert Kilometer weg von ihm und der Insel. Er blieb alleine zurück auf der Insel, wo er seine Arbeit. Seine Familie besuchte er an den Wochenenden, und die Schulferien verbrachten sie alle gemeinsam auf der Insel. Seine Kinder sollten gute Schulen besuchen. Und die sind auf der kleinen Insel rar. Nun, das war laut Luis der Grund des Umzuges. Die Ehe ging trotz der Distanz weiter. Von einer Trennung war nie die Rede. Und doch, Luis hatte hier und da immer mal eine Affäre. Ich frage mich, ob seine Frau davon wohl wusste. Vor wenigen Monaten ist sie wieder in das gemeinsame Haus der Insel gezogen, da ihre Kinder nun fast erwachsen sind und alleine zurecht kommen. Ob sie wohl glücklich sind? Luis meidet das Thema. Ich stelle ihn mir vor, wie er nach einem langen Arbeitstag nach Hause kommt und seine Frau liebevoll begrüßt. Ihr von seinem Tag erzählt und sie gemeinsam zu Abend essen. Sie mit seinem unwiderstehlichen Charme zum Lachen bringt.
Meine Wangen werden feucht. Die Tränen lassen sich nicht mehr aufhalten. Ich schaue durch das Fenster auf die dichte Wolkendecke unter mir. Wie ein kuscheliger Watteberg verbirgt sie den Blick auf das mir so ans Herz gewachsene Land. Ich schließe die Augen und träume vom Meer.
Mehrere Stunden dauert der Flug über das große Land. Langsam verschwindet die Wolkendecke unter uns. Das flache Land ist einer bergigen Landschaft gewichen. Die Schneedecke des Vulkans Popocatépetl glitzert im Sonnenlicht. Mitten in einem von hohen Bergen umgebenen Tal ruht eine graue Dunstwolke. Unter ihr befindet sich eine der größten Städte der Welt. Ein eingekesseltes Meer aus Beton.
Auch wenn Mexiko City gerne als ein Moloch beschrieben wird, fasziniert es mich. Während die Mayas auf der Halbinsel Yucatán leben, sind es im Tal von Mexiko die Azteken. Sie gründeten im Jahr 1345 die Stadt Tenochtitlán, auf dessen Boden sich heute die Hauptstadt befindet. Damals umgab sie ein großer See, der Texcoco-See. Als die Spanier Mexiko eroberten, war Tenochtitlán das damalige Machtzentrum der Azteken mit ihrem Herrscher Moctezuma. Bei ihrer Ankunft verschlug es ihnen den Atem. Die Stadt war für damalige Verhältnisse riesig und protzte mit prächtigen Bauten. Es gab schöne Steinhäuser und sogar Dämme, die die Wasserwege regulierten. Hatten die spanischen Eroberer doch damit gerechnet, ein primitives, im Urwald lebendes Volk anzutreffen. Mit einer modernen großen Stadt, wie es sie auch in Europa schon gab, hatten sie nicht gerechnet. Nach blutigen Auseinandersetzungen unterwarfen sich die Azteken den Spaniern schließlich. Dies war nur möglich, da die spanischen Eroberer von der indianischen Bevölkerung des Umlandes Unterstützung bekamen. Zudem waren sie im Besitz von Feuerwaffen und schleppten europäische, für das indianische Volk unbekannte Krankheiten ins Land, an denen viele Azteken starben. Mit den Jahren zerstörten die Spanier alles, was sich die Azteken mühevoll erbaut hatten. Wo einst prächtige Pyramiden standen, bauten die streng katholischen Spanier Kirchen. Als sie mehr Platz brauchten, fingen sie an, den flachen Texcoco-See zuzuschütten. Und das ist heute zu einem großen Problem geworden. Viele der Gebäude sacken über die Zeit langsam ab. Zudem liegt Mexiko City in einem Erdbebengebiet und der weiche Untergrund der Stadt verstärkt die Stoßwellen noch zusätzlich, was verheerende Folgen haben kann. So kamen bei einem Erdbeben im Jahr 1985 über zehntausend Hauptstadtbewohner ums Leben. Eine viertel Million wurde obdachlos. Carlos war damals gerade elf Jahre alt. Er gehörte mit seiner Familie zu den Glücklicheren, deren Häuser unbeschädigt blieben. Doch traumatisch war das Ereignis dennoch für ihn. Das Chaos in den zerstörten Stadtteilen und der nach einigen Tagen eintretende Todesgeruch verfolgt ihn bis zum heutigen Tag.
Die Maschine landet pünktlich auf dem riesigen Flughafen. Beim Heraustreten aus dem Sicherheitsbereich entdecke ich Carlos neben anderen fremden Menschen stehend. Als er mich sieht fängt er an zu strahlen. Ich schäme mich dafür, mich nicht zu freuen und zwinge mich zu einem gequälten Lächeln. Hat er meine schlechte Laune doch nicht verdient.
Die Luft riecht nach Abgasen und meine Augen fangen an zu brennen, sobald wir das klimatisierte Flughafengebäude verlassen. Das Atmen durch die Nase schmerzt. Im Gegensatz zur feuchten Karibikhitze ist das Klima hier in den Bergen angenehm warm und trocken. Nachts kann es sogar sehr kalt werden, da die Stadt zweitausend Meter über dem Meeresspiegel liegt.
Wir fahren auf einer mehrspurigen, dicht befahrenden Straße. Die Ledersitze sind kühl und durch die Klimaanlage strömt trockene kalte Luft ins Wageninnere. Mexikaner lieben Klimaanlagen. Je kälter desto besser. Heiß ist es draußen nicht, doch die Fenster werden aus Sicherheitsgründen nicht geöffnet. Überfälle und Kidnappings stehen auf der Tagesordnung. Also wird alles verriegelt, was man verriegeln kann. Als Carlos an einer Kreuzung vor einer roten Ampel hält, rennen sofort Jugendliche mit Putzeimern zum Auto und machen die Scheiben sauber. Ein anderer jongliert währenddessen mit Bällen. Auf der anderen Seite der Kreuzung speit ein junger Mann Feuer. Kurz bevor die Ampel grün wird packen sie in Windeseile ihre Sachen zusammen und laufen von Auto zu Auto. Grün. Carlos lässt sein Fenster ein paar Zentimeter herunter und gibt dem Jungen, der seine Windschutzscheibe in einer Rekordzeit gereinigt hat, eine Münze. An der nächsten Kreuzung erwartet uns ein ähnliches Bild. Doch noch bevor die Jungs die Möglichkeit haben, noch einmal zu putzen, weist Carlos sie mit einer Handbewegung ab. Mexiko City ist sicher die Stadt mit den saubersten Windschutzscheiben.
Als wir weiterfahren bleiben die Jugendlichen zurück am Straßenrand, um auf die nächste Rotphase zu warten. Ihre Kleidung ist verdreckt und voller Löcher. Sicher kommen sie aus den Armenvierteln der Stadt. Oft gibt es dort noch nicht einmal fließendes Wasser. Die unzureichenden hygienischen Bedingungen legen zudem den Grundstein für viele Krankheiten. Sie tun mir leid. Der Weg aus der Armut fast unmöglich. Da sie arbeiten gehen müssen, um das Überleben der Familie zu sichern, kommt die Schule oft zu kurz oder wird einfach gar nicht besucht. Viele Jugendliche werden daher irgendwann kriminell. So können sie ohne Schulabschluss oder Studium vielleicht doch noch den Weg aus der Armut schaffen. Indem sie zum Beispiel für die berühmten mexikanischen Kartelle Drogen verkaufen oder sogar zu Sicarios werden. Auftragsmördern.
Überall in Mexiko City trifft man auf Reichtum und Armut. Luxusautos mit verdunkelten Scheiben gefolgt von Leibwächtern in ihren massiven SUVs. Bettelnde Frauen mit Kindern an den Straßenrändern. Der Verkehr ist dicht und zieht sich wie ein breiter Fluss durch die Stadt. Mehrspurige Straßen, so groß wie Autobahnen, werden tagtäglich von Millionen von Menschen genutzt. Um den Verkehr zu entlasten, wurden Straßen in Form von Brücken errichtet, die sich kilometerlang, über die schon vorhandenen mehrspurigen Straßen, über die Stadt ziehen. Überall sind Menschen auf den Beinen. Ein großes hektisches Wirrwarr. Immer wieder stockt es, und Carlos muss langsam fahren. Wir kommen durch einen teuren Stadtteil mit edlen Markenläden und verglasten Wolkenkratzern mit Helikopterlandeplätzen auf den Dächern. Kurze Zeit später ändert sich das Bild schlagartig und die Häuser werden kleiner und machen einen verwahrlosten Eindruck. Im Untergeschoss haben sie große Rollläden, die morgens hochgezogen werden und ein kleiner Laden erscheint. Hier wird alles angeboten, was irgendwie Einnahmen bringen könnte. Handy-Ersatzteile, nachgemachte Markenklamotten, viel Krimskrams halt. An einem Stand werden Hunderte, vielleicht sogar Tausende von CDs angeboten, alle illegal gebrannt. Luftlinie gemessen sind es vom Flughafen bis zu Carlos’ Elternhaus knapp zwanzig Kilometer. Wir sind dennoch über eine Stunde unterwegs. Immer wieder stockt der Verkehr.
Als das Estadio Azteca vor uns erscheint, eines der größten Fußballstadien der Welt, sind wir fast da. Wir biegen ab in eine kleinere Straße und halten schließlich vor einer Schranke. Der Wachmann grüßt Carlos mit einem leichten Kopfnicken, und die Schranke geht hoch. Es ist eine ruhige Straße mit großen schattenspendenden Bäumen. Der Rummel der Großstadt scheint weit weg, wobei wir uns mittendrin befinden. Vor jedem der schönen Villen ist eine meterhohe Mauer, auf der Stacheldrahtzaun und Glasscheiben das Überklettern erschweren sollen.
Bevor es hier einen Wachmann und eine Schranke gab, als Carlos noch ein kleiner Junge war, drang eines Morgens eine bewaffnete Bande in sein Elternhaus ein. Sie drohten mit Pistolen, die Kinder zu entführen und umzubringen, sollten die Eltern sich weigern, ihre Wertsachen herauszugeben. Körperlich blieben sie unverletzt. Und doch bin ich mir sicher, dass das traumatische Erlebnis bei jedem von ihnen seine Spuren hinterlassen hat. Erschreckenderweise sind sie nicht die einzige Familie, der so etwas passierte. Nein, es scheint normal zu sein. Hier. In diesem Moloch. Das Einzige, was sich seither geändert hat, ist, dass sie nun einen Wachmann haben. Und eine Schranke.
Carlos parkt den schwarzen Jeep vor dem Haus seiner Eltern. Wir steigen aus. Er öffnet das Tor und ein großer heller Labrador-Hund springt ihm entgegen. Ich gehe die Stufen am Haus hinauf zum großen Hauseingang. Hinter der Tür befindet sich ein Museum. Nun ja, zumindest empfinde ich es so. Der Eingangsbereich protzt mit einer eleganten, altmodischen Sofagarnitur. In den Schränken glänzt teures Porzellangeschirr, und an den Wänden hängen wertvolle Gemälde. Bis auf einen lachsfarbenen Teppich im Wohnzimmer ist das Haus mit einem glänzenden Marmorboden ausgestattet. Ich gehe am Gästebad vorbei einige Stufen nach oben in den Essbereich. Ein sehr langer dunkelbrauner Esstisch mit edlen Holzstühlen ziert das Zimmer, von dem es in einen kleinen Garten geht. Dieser elegante Raum wird nur zu besonderen Anlässen genutzt. Gegenüber befindet sich die geräumige Wohnküche, in der ein großer runder Esstisch aus Holz steht. Hier spielt sich prinzipiell das Leben im Haus ab. Ich setze mich. Die Haushälterin ist gerade mit Kochen beschäftigt. Es riecht nach Bohnen, Zwiebeln und Reis. Als sie die Schnitzel aus Schweinefleisch in die Pfanne gibt, zischt das Öl. Meine Schwiegermutter tritt in die Küche und begrüßt mich freundlich mit einer Umarmung. Ihre dominante und forsche Art ist mir irgendwie unheimlich. Wenn hier im Haus jemand das Sagen hat, dann sie. Und das bekommt auch der Vater von Carlos zu spüren. Wobei sich Carlos’ Mutter schon von ihm trennen wollte. Als sein Vater jedoch vor seinen Kindern und seiner Frau mit einer Pistole an der Schläfe androhte, sich das Leben zu nehmen, sollte sie sich scheiden lassen, wurde das Thema Trennung zunächst einmal auf Eis gelegt. Und daran hat sich bis heute auch nichts geändert. Eine ganz normale Familie halt.
Seit wenigen Jahren wohnt auch Carlos’s Großmutter bei ihnen. Die Mutter seiner Mutter. Seinem Vater gefällt das nicht, aber sie hat halt das Sagen. Er könne sich ja von ihr trennen, spottet sie gehässig. Will er ja nicht. Also muss er es schlucken. Ob er will oder nicht. Dazu kommt noch, dass Carlos’ Großmutter streng katholisch ist, während sein Vater aus einer jüdischen Familie stammt. Den traditionsbewussten, katholischen Eltern von Carlos’ Mutter gefiel das natürlich gar nicht. Doch meine Schwiegermutter war schon damals ein selbstbewusster Mensch, der sich von anderen nichts sagen ließ. Auch nicht von ihren eigenen Eltern. Also konvertierte sie zum Judentum und heiratete ihre große Liebe.
Irgendwie ist Carlos daher mit einem Gemisch beider Religionen groß geworden. Weder dem Judentum noch dem Katholizismus fühlt er sich jedoch zugehörig. So glaubt er an Vieles, aber Religionen sind ihm ein Dorn im Auge. Carlos hat noch zwei Brüder, die beide noch im Elternhaus leben.
Ich sage meiner Schwiegermutter, ich möchte zunächst einmal meinen Koffer ins Zimmer bringen. Eine gute Ausrede, um etwas Ruhe zu bekommen. Also trage ich meinen Koffer die Treppen hoch. Auf der ersten Etage befindet sich das übertrieben große Schlafzimmer der Eltern. An ihm schließt sich ein Ankleidezimmer und das private Badezimmer der Eltern an. Vom großen Doppelbett aus blickt man durch eine gläserne Fensterwand auf die grüne Baumkrone. In der Ecke des Raumes hängt ein großer Plasmabildschirm an der Wand. Ansonsten wirkt der mit Teppich ausgelegte Raum leer und kalt.
Auf der letzten Etage befinden sich drei Schlafzimmer, zwei davon mit privatem Bad. Eines davon gehört den erwachsenen Brüdern von Carlos. Auf jeder Seite steht ein Bett, und an der großen Wand hängt ein moderner Plasmabildschirm mit der neuesten Hightech-Ausstattung. Der kleinste der Brüder hat eine eigene Firma, mit der er solche Elektroanlagen in Luxus-Villen installiert und damit einen Haufen Geld verdient. Trotzdem wohnt er noch immer im Elternhaus. Vielleicht aus Bequemlichkeit, vielleicht aber auch, weil er noch Single ist, und nicht alleine sein möchte.
Carlos’ Großmutter bewohnt das zweite Zimmer mit Bad, welches mal das Kinderzimmer von Carlos war. Da er der Älteste der Brüder ist, hatte er ein Anrecht auf ein Einzelzimmer. Ein weiteres kleines Zimmer, aber ohne Bad, ist als Gästezimmer hergerichtet. Während wir zu Besuch sind, schlafen wir jedoch in Carlos’ altem Zimmer und seine Großmutter im Gästezimmer.
Carlos’ Großmutter ist eine freundliche und noch sehr agile alte Dame. Sie ist mir weitaus sympathischer als meine Schwiegermutter. Immer ist sie fröhlich und unterhält sich gerne, während ihre Tochter stets grimmig dreinschaut. Der Tod ihrer Eltern führte zu einem Familienkrieg zwischen den Geschwistern. Es ging um das Erbe ihrer wohlhabenden Eltern. Letztendlich wurde alles verkauft und ausgegeben. Die Geschwister sind bis zum heutigen Tage zerstritten. Das, was Carlos’ Großmutter blieb, befindet sich in seinem ehemaligen Kinderzimmer. Ein großes Doppelbett, welches das Zimmer fast komplett ausfüllt. Zwei edle Holzkommoden, übersät mit Bilderrahmen und Schmuckkästchen, und ein großer goldener Spiegel, der an der Wand hängt. Die alte Tapete ist übersät mit katholischen Symbolen in Form von Bildern und Kreuzen. Ich fühle ich erschlagen von ihnen, als ich das Zimmer betrete. Erschöpft lasse ich mich auf das harte Bett fallen und atme tief durch.
8
Heute ist mein einunddreißigster Geburtstag. Das einzige Geschenk, das ich mir von Herzen wünsche, wäre ein Anruf oder eine Nachricht von Luis. Doch nichts. Ich frage mich ernsthaft, ob er das Interesse an mir verloren hat. Wobei er mir ja nie direkt mitgeteilt hat, was er eigentlich von mir möchte und für mich empfindet. Falls das überhaupt der Fall sein sollte.
Seit einer Woche bin ich nun mit Carlos in der Hauptstadt. Ich versuche, mir meine schlechte Laune nicht anmerken zu lassen. Doch es ist zwecklos. Carlos fragt mich ständig, was denn los sei. Ihm von Luis zu erzählen kommt natürlich nicht infrage. Also ringe ich nach Erklärungen. Sage ihm, dass ich denke, wir verstehen uns einfach nicht mehr gut, und ich möchte mal eine Zeit lang alleine sein. Es ist zumindest nicht gelogen. Ich habe nur ein klitzekleines Detail weggelassen.
Doch mein Versuch, Carlos davon zu überzeugen, dass wir uns trennen sollten, scheint nicht zu fruchten. Er nimmt mich einfach nicht ernst. Geht überhaupt nicht auf mich ein. „Ja ja“ antwortet er immer nur gelangweilt. Zumindest hält er sich keine Pistole an den Kopf und droht sich umzubringen.
Ich gehe ins Zimmer und setze mich auf das riesengroße, sehr unbequeme Bett der Großmutter. Lautlos rollen mir die Tränen über die Wangen als plötzlich die Tür aufgeht und Carlos vor mir steht. Überrascht schaut er mich an.
„Was ist los? Warum weinst du? Ist was passiert?“, fragt er mitfühlend. Dann erscheint auch noch seine Mutter im Türrahmen. Klar, ich könnte ihnen jetzt beiden sagen, dass ich weine, weil ich mich in einen anderen Mann verliebt habe und diesen ganz schrecklich vermisse und es ganz furchtbar finde, mit ihnen meinen Geburtstag hier in Mexiko City verbringen zu müssen. Ich frage mich, wie sie wohl reagieren würden. Mich hochkant aus dem Haus werfen?
Normalerweise bin ich der Meinung, dass Ehrlichkeit das Fundament einer gesunden Beziehung darstellt. In diesem Moment entscheide ich mich dennoch für eine Lüge. Ich nenne es mal Notlüge. Denn keinem wäre mit der Wahrheit geholfen. Luis wäre noch immer bei seiner Frau und Carlos und seine Mutter am Boden zerstört. Also höre ich mich etwas von Zahnschmerzen sagen. Als würde da eine andere Person für mich sprechen. Sofort bekomme ich eine mitleidige Umarmung von Carlos und eine Telefonnummer der Zahnärztin meiner Schwiegermutter in die Hand gedrückt. Dann ruf ich da mal an. Zumindest bin ich so für ein paar Stunden alleine. Nachdem beide das Zimmer verlassen haben, rufe ich meine Freundin Ana an.
Ana habe ich vor einem Jahr in Playa del Carmen kennengelernt. Und zwar durch ihren Freund, einen Arbeitskollegen von mir. Auf einer Party am Strand hat er sie mir vorgestellt. Sofort waren wir uns sympathisch. Wir trafen uns wieder, und über die Zeit ist eine gute Freundschaft entstanden. Ana lebt schon seit mehreren Jahren mit ihrem Freund und ihrer kleinen Tochter in der Karibik. Aufgewachsen ist sie jedoch in der Hauptstadt, und somit eine typische Chilanga. Mehrmals im Jahr fliegt sie nach Mexiko City, um ihre Eltern zu besuchen. Und wie das Schicksal es so will, ist sie genau jetzt in ihrem Elternhaus zu Besuch. Und gar nicht weit von Carlos’ Elternhaus entfernt. Ich habe somit die perfekte Möglichkeit, diesem anstrengenden Urlaub mit meinem Mann für ein paar Stunden zu entfliehen und ihn mit Ana zu verbringen. Glücklich ist Carlos darüber nicht, denn er hat ein Treffen mit seinen Freunden organisiert. Ich bitte ihn jedoch, alleine zu fahren. Zähneknirschend gibt er nach und fährt los. Eine Stunde später steht dann Ana in ihrem Auto vor dem Haus und hupt einmal kurz. Glücklich sprinte ich die Stufen hinunter und umarme meine Retterin. Dank ihr entkomme ich dem goldenen Käfig für einige Stunden.
Zunächst schlendern wir durch ein modernes Einkaufszentrum. Hinter gläsernen Fassaden gibt es hier alles, was das Herz begehrt. Solange man es sich leisten kann. International bekannte Markennamen haben hier, neben kleinen Boutiquen und Beautysalons, eine Filiale. Frauen mit heller Hautfarbe und häufig auch blondierten Haaren, kommen einem entgegen. Vielleicht sind es Frauen mit reichen Ehemännern aus Politik oder Wirtschaft. Zu Hause haben sie Angestellte, die sich um Kochen und Putzen kümmern. Die Kinder haben eine Niñera.
Ana und ich lassen uns in einem Friseursalon die Haare schneiden und schlendern eine Weile einfach so durchs Centro Comercial.
Anschließend fahren wir dann zum Essen zu ihren Eltern. Ihre Mutter bewundere ich zutiefst. Trotz der Multiple Sklerose, durch die sie seit Jahren an den Rollstuhl gefesselt wird, ist sie ein lächelnder und liebenswerter Mensch. Ihr Vater widmet sich klaglos ihrer Pflege, sobald er von der Arbeit kommt. Es tut gut, in einer so herzlichen Familie zu sein und deren Wärme zu spüren. Und nicht mehr lügen zu müssen. Ana und ihre Mutter hören mir zu. Geben mir Ratschläge. Heute ist der erste Tag, seit ich in der Hauptstadt angekommen bin, an dem ich mich nicht einsam fühle.