Kitabı oku: «DSA 109: Hjaldinger-Saga 3 - Eis», sayfa 2

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Jurga reagierte nicht.

Der graue Riese näherte sich langsam, immer wieder tauchte sein klobiger viereckiger Kopf auf, immer wieder stieg sein Blas prustend in die Höhe. Seine Fluke, zwei große granitgraue Dreiecke, erhob sich träge aus dem Meer.

»Hasgar«, raunte seine Schwester. »Siehst du das?«

»Natürlich, er ist ja nicht zu übersehen.« Er legte hastig das zerschnittene Netz beiseite. »Ein Geschenk Effars! Vier oder fünf Boote werden reichen.«

»Siehst du das?«, hauchte Jurga. »Hasgar …«

Der Wal ließ sich nicht von ihnen beirren. Er setzte seinen Weg fort und würde das Fischerboot bald passieren.

Hasgar verharrte und musterte seine Schwester überrascht. Sie hatte die Augen weit aufgerissen. Tränen glänzten auf ihren Wangen. »War der Schlag auf den Kopf so heftig?« Er stieß sie an. »Setz dich, ehe du über Bord gehst! Ich rudere uns zurück. Der bringt die ganze Sippe durch den Winter.«

Der Pottwal ließ sich ein Stück weit unter Wasser sinken. Der Bulle war kräftig, bestimmt ausdauernd genug, um viele Harpunen zu ertragen und fünf oder sechs Boote zu schleppen, ehe er müde wurde.

Hasgar war noch nie bei der Waljagd dabei gewesen, es geschah nicht oft und er hatte erst vor Kurzem die Sippenrune erhalten. Vielleicht gestattete Vater es ihm heute. Nein – ganz sicher gestattet er es, wenn ich ihm die frohe Botschaft überbringe.

Abrupt wandte sich Jurga ihm zu, so als wäre ihre Benommenheit verflogen. Ihre Augen zogen sich zusammen. »Was redest du da?«

»Wir hofften auf ein Netz Fische und stattdessen macht uns das Meer dieses Geschenk! Im Dorf werden sie uns voller Dankbarkeit küssen.« Er nahm auf der Ruderbank Platz und legte sich die Riemen zurecht.

»Warte!« Jurga war mit einem Satz bei ihm. Das Boot schwankte, als sie ihm überraschend kraftvoll eines der Ruder entriss. »Das kannst du nicht tun! Das darfst du nicht!«

»Wovon redest du?« Er blickte verärgert zu ihr auf. »Wir verschwenden kostbare Zeit!«

Sie trat zurück, das Ruder fest an sich gepresst. »Schwör mir, dass du kein Wort über den Wal verlierst!«

»Du hast dir den Kopf heftiger gestoßen, als ich dachte.« Hasgar rappelte sich auf und griff nach dem Riemen. »Gib ihn mir!«

Jurga ließ nicht davon ab. Ihr Gesicht rötete sich. »Schwör es mir!«

Er riss den Riemen an sich. »Setz dich!«

Mit einem heiseren Schrei warf sie sich auf ihn und packte erneut das Ruder.

»Was ist nur in dich gefahren?« Er rang mit ihr, doch seine Schwester brachte nun eine überraschende Kraft auf. Ihr Gesicht rötete sich, sie knirschte mit den Zähnen und ihre Knöchel, die das Holz des Ruders umklammerten, wurden weiß.

Der Antjahwalaz ließ sich träge in die Tiefe sinken.

Das Boot schwankte heftiger, als die beiden ältesten Kinder Tjalfs verbissen miteinander rangen.

Mit enormer Anstrengung entriss Hasgar seiner Schwester den Riemen. »Reiß dich zusammen! Wir kentern!«

Sie stieß einen Schrei aus und sprang erneut vor.

»Schluss!« Hasgar versetzte Jurga einen Hieb mit der flachen Seite des Ruders und schickte sie zu Boden.

Sie sah zu ihm auf, ihr Gesicht vor Wut und Zorn verzogen. Sie griff nach der Bordwand.

»Bleib liegen!«, befahl er und hob drohend das Ruder. »Ich mag es nicht, den Erwachsenen herauszukehren, aber denk daran, dass ich schon die Sippenrune habe!«

Jurga zog sich empor. Ein dünner Faden Blut rann von ihrer Stirn herab. Sie presste scheinbar unzusammenhängende Worte hervor.

»Was tust du da?« Erneut hob Hasgar seine provisorische Waffe. »Wenn es sein muss, trage ich dich zurück! Willst du das?« Sie rappelte sich auf. Er hob den Riemen höher. »Jurga …«

Der Pottwal durchbrach direkt neben ihnen wieder die Wasseroberfläche, ein grauer Riese, der sie beide überragte. Prustend schoss sein Blas empor und ging auf sie nieder.

Erschrocken sank Hasgar auf die Knie. Die Welle erfasste das Boot, es neigte sich zur Seite.

Er sah zu Jurga auf, die einfach nur dastand und den Wal anstarrte. Der Antjahwalaz ließ sich langsam wieder unter Wasser sinken. Sie streckte die Hand aus, reckte sich ihm entgegen, so weit sie konnte, doch ihre Fingerspitzen erreichten ihn nicht. Ein verzückter Ausdruck lag in Jurgas Gesicht, eine Träne rann über ihre Wange. Der Meeresriese glitt an ihnen vorbei.

»Jurga, was ist nur in dich gefahren?«

Ein Schatten fiel auf sie.

»Vorsicht!«, stieß er hervor.

Die Fluke des Wals kam herab und traf krachend auf ihre Nussschale.

Hasgar wurde emporgeschleudert und landete im Wasser. Aufschlag und Kälte betäubten seinen Leib. Es wurde still und dunkel um ihn herum, tausende Luftblasen umtanzten ihn.

Hastig orientierte er sich, fand Licht, zwang sich dazu, seine tauben Glieder zu bewegen und Schwimmzüge zu machen.

Ein graues Ungetüm zog an ihm vorbei. Außer Reichweite, aber mächtig genug, dass ihn der Sog erfasste und mitzureißen drohte. Ein langgezogenes Knirschen erfüllte seine Ohren, vibrierte in seinen Knochen und betäubte seinen Schädel. Er schrie und stieß einen Schwall von Luftblasen hervor.

Irgendwie gelang es ihm, seine Arme und Beine dazu zu bringen, sich zu regen, und strebte hastig dem Licht entgegen. Prustend durchbrach er die Wasseroberfläche, kehrte zurück ins graue Zwielicht und sog die kalte Luft in seine Lungen.

Das Boot trieb mit dem Kiel nach oben. Hasgar hielt darauf zu. Wassertretend, eine Hand an den rauen Planken des Fischerbootes, sah er sich um.

Der feine Nebel hatte sich verflüchtigt und ein leichter Wind war aufgekommen, der die Oberfläche des Meeres kräuselte. Am Horizont ragten die Berge empor, die ihm den Weg zurück nach Hause wiesen.

»Jurga?« Er hustete, seine Augen glitten suchend umher.

Über ihm kreisten Gletschermöwen und verspotteten ihn höhnisch. Ein Stück entfernt trieb eines ihrer Ruder.

Sein Herz setzte einen Schlag aus. Wie lange ist sie schon unten? Ich habe sie verletzt! Hat sie das Bewusstsein verloren? Er holte tief Luft und ließ sich wieder in das kalte dunkle Wasser sinken. Blinzelnd blickte er umher. Gib sie mir zurück, Effar! Sie ist keine Opfergabe!

Da war nichts. Keine Bewegung, so weit seine Augen die düstere Welt unter der Meeresoberfläche durchdringen konnten.

Er durchbrach wieder die Oberfläche. »Jurga!«, schrie er heiser über das Wasser hinweg. »Jurga!«

Nur das Kreischen der Möwen antwortete ihm.

***

Hasgar eilte auf das Langhaus seiner Familie zu, Jurgas leblosen nassen Leib in den Armen. Grani und Tola blickten auf. Sie spielten mit den Holzfiguren, die er ihnen letzten Winter geschnitzt hatte: ein Wolf, ein Bär, ein Blutbüffel.

Die Zwillinge verstanden zunächst nicht und starrten ihre älteren Geschwister überrascht an. Dann trat Schrecken in ihre Gesichter.

»Hol Vater, Tola!«, befahl Hasgar seiner kleinen Schwester keuchend. Die Kälte hielt ihn nun fest im Griff. Seine Lungen schmerzten. »Grani, lauf zum Heiler! So schnell du kannst!«

Der Knabe starrte ihn aus großen Augen an. »Was ist mit …«

»Sofort!«

Er gehorchte und rannte los, so rasch ihn seine kurzen Beine nur trugen. Tola eilte bereits mit wippenden Zöpfen davon.

Hasgar duckte sich unter dem niedrigen Türrahmen und trat ein. Es roch nach Rauch, Wärme schlug ihm entgegen. »Schnell!«, rief er. »Sie braucht Hilfe! Jurga braucht Hilfe!«

Die in der weiten Halle arbeitenden Frauen und Männer sahen auf. Hjalda eilte sofort auf sie zu. Ihre Augen weiteten sich, als sie Jurgas blasses Gesicht sah. Rasch wischte sie sich ihre Hände am Rock ab und legte prüfend eine auf die Stirn ihrer Stieftochter. »Leg sie hier ans Feuer! Was ist passiert?«

Er schüttelte den Kopf. »Etwas griff das Boot an – ein Hai, denke ich. Sie fiel ins Wasser …«

Man räumte ihnen einen Platz an der Feuerstelle frei. Jemand warf ein Fell auf den Boden und Hasgar legte seine Schwester behutsam darauf ab.

»Rasch!«, befahl Hjalda. »Helft mir, ihr die nasse Kleidung auszuziehen. Holt Decken aus meiner Kammer!«

Er trat einen Schritt zurück und atmete schwer, seine Glieder schmerzten, salziges Wasser tropfte von seinem Haar herab und über sein Gesicht. Dennoch gab es nur einen Gedanken in seinem Kopf: Wenn sie stirbt, ist es meine Schuld.

Hjalda sah kurz auf. »Du wirst dir den Tod holen! Geh und beschaff dir etwas Warmes zum Anziehen.«

Er starrte seine Schwester an. Jurga wand sich, als Hjalda und die Übrigen ihr Beinlinge und Wams auszogen. Ihre Augen waren geschlossen, die Augäpfel dahinter zuckten und rollten umher. Sie presste halblaute Worte hervor, heiser und kehlig. Ihre blasse Haut glänzte vor Schweiß.

»Fieber«, stellte ihre Stiefmutter überrascht fest. »Sie glüht geradezu. Am Morgen ging es ihr doch gut.« Sie prüfte ihren Hinterkopf mit der Hand. Blut klebte an ihren Fingern. »Sie ist verletzt.«

Hasgar nickte nur stumm.

Man trug Wolldecken herbei und Hjalda bemühte sich, Jurga zuzudecken, auch wenn sich das Mädchen immer noch wand, die Decken von sich schob und die helfenden Hände sofort wieder wegschlug. Jemand legte Hasgar eine Decke über die Schultern. Er ließ den Blick nicht von seiner Schwester.

»Was ist passiert?« Tjalf trat in die Halle ein und eilte zur Feuerstelle. Tiefe Furchen zogen sich durch das wettergegerbte Gesicht des Hersirs.

Tola lugte zwischen den Umstehenden hervor, sie starrte ihre ältere Schwester aus weit aufgerissenen Augen an.

Hasgar rang mit sich. »Ein Hai hat unser Boot angegriffen – ein großer Brackhai, denke ich. Sie hat sich den Kopf angestoßen und stürzte ins Wasser.« Das ist nicht gelogen.

Der Hersir schob die Versammelten beiseite und trat nach vorne. »Was sagt sie da?«

Hjalda beugte sich über Jurga. Sie erstarrte, runzelte die Stirn. Dann winkte sie ab. »Sie ist verwirrt, sicher vom Schlag auf den Kopf. Es ist nichts.«

Tjalf kniete neben seiner Frau nieder. Kopfschüttelnd musterte er seine älteste Tochter. »Du solltest auf sie aufpassen, Hasgar«, knurrte der Hersir.

»Es geschah alles so schnell«, murmelte er.

Tjalf zog behutsam Jurgas Decke wieder höher.

»Nicht!« Sie riss die Augen auf. Ihre Pupillen waren stark geweitet und glänzten im Licht des Feuers. »Nicht! Die Insel …« Sie keuchte. »Siehst du die Insel? Der Tempel …«

Ihr Vater fasste sie fest bei den Schultern. »Jurga, hörst du mich?«

»Es brennt … frisst mich auf!« Sie wand sich unter seinem Griff, trat und schlug um sich. »Nicht! Wir müssen weg! Weg von hier! Sie kommen!«

»Jurga!«

»… musst mir zuhören … zwei Dinge habe ich noch zu tun …«

Tjalf schüttelte sie. »Kind! Beruhige dich!«

»Nein! Was du nicht verstehst, wird sie durchschauen«, stieß sie gehetzt hervor. Dann erstarrte Jurga und blickte zu ihrem Vater auf. »Schick mich … zurück«, raunte sie, »zu … ihm. Unter das Meer.« Sie sank wieder auf ihr Lager, krampfhaft atmend. Ihr Gesicht war gerötet, ihre Lippen blau, ihr ganzer Leib bebte und zuckte. Tjalf hatte Mühe, sie festzuhalten.

»Drawina steh uns bei«, stieß der Hersir hervor. Er schloss kurz die Augen und senkte den Kopf. Er sah aus wie ein Mann, der sich lange Zeit vor einer schweren, nicht rückgängig zu machenden Entscheidung gedrückt hatte und dem nun die Hände gebunden waren.

Tjalf erhob sich. Seine Stimme klang rau. »Es reicht.« Er wies auf seine Tochter. »Achte darauf, dass sie sich nicht verletzt, Hjalda. Lass sie nicht aus den Augen, bis der Heiler hier ist.«

Hasgar schloss zu seinem Vater auf, der mit entschlossenen Schritten zur Tür marschierte. »Was geschieht nun? Was hast du vor?«

»Was ich schon vor zwei Wintern hätte tun sollen«, raunte Tjalf. Er wandte sich um und sah zu seiner Tochter. Schmerz und Verzweiflung standen in seinen Augen. »Ich rufe den Saithaman, damit er den bösen Geist, der deine Schwester plagt, endlich austreibt.«

»Warte!« Hasgar griff nach seinem Arm. »Das kannst du nicht tun!«

Tjalfs Gesicht verfinsterte sich. »Warum nicht? Weiß mein Sohn, dessen Sippenrune noch frisch ist, besser als sein Hersir und Vater, wie ich mich um meine Tochter und um meine Sippe zu kümmern habe?«

Hasgar zog unsicher seine Hand zurück. »Sie wird es nicht wollen. Sie sagt doch immer, dass es kein böser Geist ist. Wenn wir abwarten, bis sie …«

»Genau das redet ein bösartiger Geist denen ein, die er in Besitz genommen hat!«, fuhr sein Vater auf. »Du hast sie gehört – er ist es, der ihr ständig diese Flausen eingibt! All das Gerede vom Meer! Er lockt sie zu sich! Ich will meine Tochter zurück.«

»Was, wenn es schiefläuft? Eine Austreibung kann sehr gefährlich sein.«

»Glaubst du, ich weiß das nicht? Was denkst du, warum ich so lange gezögert habe?« Tjalf atmete tief durch. »Wenn du erst Hersir bist, wirst du verstehen. Jetzt hol dir etwas Trockenes zum Anziehen, oder ich verliere dich auch noch an ein Fieber.« Er wandte sich ab und trat ins Freie.

Hasgar sah zu Jurga. Hjalda hielt sie fest und bemühte sich, sie durch leises Zureden zu beruhigen.

Seine Schwester war viel zu lange unter Wasser gewesen. Es war ein Wunder, dass sie noch lebte. Jemand hatte sie geschützt, und ein böser Geist tat so etwas nicht. Etwas anderes war hier am Werk.

»Nicht!« Jurga wand sich auf dem Lager am Feuer. »Sieh nicht hin!«

Er senkte den Kopf und wandte sich ab.

Kapitel 1

Hjaldingafjord, Brajan 2120 IZ

Hjaldingafjord, das Herz Hjaldingards, der Ort, an dem Yoldra einst die stolzen Sippen der Hjaldinger einte, stand in Flammen.

Xelias taumelte durch den Qualm, den Gestank von Brand und verkohltem Fleisch in der Nase. Die Schwaden schmeckten nach Tod. Die Hitze brachte seine Haut zum Glühen und raubte ihm den Atem.

Glaiwa hatte sich bereits mit Grausen abgewandt und war hinter den Horizont geflohen. Sie wollte nicht mit ansehen, was sich nun in Hjaldingafjord abspielte.

Faravid packte Xelias am Arm. »Weiter! Wir dürfen hier nicht verharren!« Er zog ihn hastig mit sich in eine Gasse zwischen zwei Langhäusern. »Still!«

Eine Gruppe Myrmidonen mit im Feuerschein glänzendem Rüstzeug eilte vorbei. Ihre Rüstungen waren bunt bemalt, das Rot darauf war aber keine Farbe.

Xelias wagte es nicht, sich zu regen oder auch nur zu atmen. Er klammerte sich an seine schlichte Axt wie ein Ertrinkender an ein Stück Holz. Seine Muskeln schrien vor Schmerz, seine Lungen protestierten. Sein Fuß – dort, wo ihn der Armbrustbolzen durchschlagen hatte – pochte in Agonie.

Die Myrmidonen liefen weiter. Das Scheppern ihrer Rüstungen verhallte.

Faravid atmete auf und senkte seine eigene Axt. »Los!«

Xelias humpelte hinter ihm her. »Wohin denn?«

»Sicherlich sammeln sich alle, die noch aufrecht stehen, bei Ullbjerns Halle, um die Angreifer zurückzuschlagen.« Der junge Skalde lugte um die nächste Ecke. »Sie haben uns auseinandergetrieben wie Wölfe die Schafsherde. Hoffen wir, dass Ullbjern besonnen genug war, sich zurückzuziehen. Seine Halle lässt sich besser verteidigen als die verwinkelten Gassen.«

Sie wagten es, den Schutz des Langhauses zu verlassen, und eilten weiter – so rasch, wie es Xelias schmerzender Fuß und die Beinverletzung, die Faravid durch die Kentema eines Myrmidonen erlitten hatte, nur erlaubten.

Eine brennende Kugel, einem stürzenden Stern gleich, fiel brüllend vom Himmel, erhellte für einen Moment die umstehenden Häuser und schlug ein Stück weit vor ihnen ein. Schreie hallten heran, neue Feuerbrände loderten gierig fauchend empor.

Xelias verharrte, blickte sich um. »Gibt es noch einen anderen Weg?«

Faravid wies in eine schmale Gasse. »Dort entlang …«

Ein dunkler Schatten mit Flügeln, einem gewaltigen Vogel gleich, fiel auf sie. Xelias packte seinen Begleiter und zog ihn mit sich, in den Schutz einer Hauswand. Der Schatten flog brummend über sie hinweg.

Xelias stützte sich schwer atmend an der Wand ab. »Wo sind die Aldangara?« Er lugte die Straße hinab. Leblose Körper lagen darauf verstreut – nur bei einigen davon handelte es sich um totes Vieh. Die Leichname waren verkohlt und kaum wiederzuerkennen.

»Die Imperja?« Faravids Hand zitterte, als er nach der Wunde an seinem Bein tastete. Immer noch rann Blut an seiner Wade herab.

»Antimelia hat uns Truppen ihres Hauses versprochen. Wir brauchen ihre Soldaten.«

»Wenn du mich fragst, war das ein Trick – eine Täuschung, damit wir uns sammeln und hier auf die Imperja warten. Bestimmt wollte sie sogar verhindern, dass zu viele Leute Jurga über das Meer folgen.« Er winke Xelias. »Gehen wir.«

Sie hasteten zwischen den Langhäusern hindurch. Weiter vorne erhob sich auf einem Hügel im Zentrum von Hjaldingafjord die Halle von Ullbjern Eirikssun. Doch das gewaltige Reetdach stand nun in hellen Flammen, nur die gekreuzten goldenen Drachengiebel ragten noch daraus hervor und trotzten dem Feuer.

Xelias trat hinter Faravid ins Freie.

»Firns Speer!«, stieß der Skalde aus.

Tote und Verletzte säumten die Wege, die zur Halle führten. Myrmidonen in glänzenden Panzern, über denen kleine Wimpel emporragten, bedrängten die Verteidiger. Immer wieder fiel ein Imperi, gefällt von einer mächtigen hjaldingschen Axt, doch es trat sofort ein anderer in die Bresche, die Kentema in beiden Händen.

Inmitten der verbissen streitenden Hjaldinger stand Ullbjern Eirikssun, Hersir der Groa-Sippe, die mit goldenen Knotenbändern versehenen hohen Tore seiner Halle im Rücken. Er schwang Laujakweldiz mit einer solchen Leichtigkeit, als hätte die Schlacht gerade erst begonnen und würde nicht bereits seit einem halben Tag toben. »Rondris’ Kralle!« Die Flammen glänzten auf den mit silbernen Bändern verzierten Klingen der Doppelaxt und auf den goldenen Armreifen an seinen mit unzähligen Runen übersäten Armen, von denen jede von einem bezwungenen Gegner oder einer erfolgreichen Seefahrt kündete. Wann immer Laujakweldiz herabfuhr, spaltete sie einen Schädel, trennte einen Arm vom Leib eines Myrmidonen oder verpasste einem bemalten Insektenpanzer eine furchtbare Delle. Und jedes Mal gellte Ullbjerns Schlachtruf über die Kämpfenden hinweg: »Groa!«

Xelias starrte den Hersir einige bange Herzschläge lang reglos an.

»Er wird sie alle eigenhändig erschlagen!«, stieß Faravid hervor.

Xelias’ Blick fiel auf eine zusammengekrümmte Gestalt, die an der Ecke eines Langhauses hockte. Ein Vargaz stand über ihr. Das Fell des Halbwolfs war struppig und Blut glänzte darin im Feuerschein.

Xelias’ Herz machte einen Sprung. »Firnvild!« Er hastete auf sie zu.

Wrekar, der Vargaz, wirbelte herum. Seine blutbesudelten Lefzen enthüllten seine Zähne.

Xelias schrak zurück und hob hastig die Hände. Der Halbwolf gab ein warnendes Grollen von sich, das tief aus seiner Kehle aufstieg.

Firnvild regte sich nicht. Ihr Speer lag neben ihr, Blut sickerte aus einer Wunde an ihrer Seite. Ihr sommersprossiges Gesicht war geschwärzt, ihre Augen geschlossen. Ein Verband war fest um ihre Wade geschlungen.

Xelias’ Brust zog sich zusammen wie eine kalte Faust, die ihn packte. »Firnvild?« Er wagte es, einen weiteren Schritt zu machen.

Der Halbwolf setzte zum Sprung an.

»Wrekar, nein!« Firnvild sah auf und hob die Hand. Ihre Stimme war rau und bebte. »Nein!«

Der Vargaz wandte sich ihr sofort wieder zu, schnupperte kurz an ihrer zitternden Hand, dann leckte er sie winselnd ab.

Xelias wagte es, neben ihr niederzuknien. Auch Faravid trat näher, ließ den Halbwolf aber nicht aus den Augen.

Erschrocken griff Xelias nach ihrer Wunde. »Du bist verletzt!«

Ullbjerns Tochter stieß seine Hand beiseite. »Dachte, du bist schon längst weggerannt«, presste sie hervor und verzog schmerzerfüllt das Gesicht.

Ein Kommando hallte laut von den Langhäusern wider. Die Myrmidonen wichen zurück, sammelten sich und schlossen ihre Reihen. Dutzende ihrer Kameraden blieben leblos liegen.

Der Hersir reckte grimmig Laujakweldiz empor – die ›Löwendämmerung‹. »Habt ihr denn schon genug, ihr Kindsfäuste? Ich werde gerade erst warm!«

Hinter ihm nährten sich die Flammen an seiner Halle, fraßen sich durch das alte Holz, das vielen Generationen seiner Familie ein Zuhause gewesen war. Fünf weitere Frauen und Männer standen immer noch aufrecht, wenn auch schwer atmend, aus unzähligen Wunden blutend und kaum in der Lage, ihre Waffen zu heben. Xelias erkannte Serkaz unter ihnen, den breitschultrigen Krieger mit dem zu Zöpfen geflochtenen roten Bart, der fast ebenso viele Kriegerrunen trug wie Ullbjern.

Die Myrmidonen regten sich nicht. Wie Statuen standen sie da, der Feuerschein spiegelte sich auf ihren Rüstungen wider.

Der Hersir der Groa spuckte verächtlich aus. Mit den Flammen hinter ihm erschien sein Haar mehr als jemals zuvor wie die Mähne eines Löwen. »Kehrt besser zu eurem dreiäugigen Kuninga zurück, solange ihr das noch mit erhobenem Haupt tun könnt!«, schleuderte er den Soldaten entgegen. »Sagt ihm, dass Ullbjern Eirikssun noch immer steht, dass er Havars Axt trägt und niemanden passieren lässt, der die Halle seiner Ahnen betreten will! Er muss schon selbst herkommen und sie sich holen, wenn sie ihm so wichtig ist!«

Die Myrmidonen blieben stumm, die Kentemen in Händen und ihre Spitzen auf die schwer atmenden Hjaldinger gerichtet. Auf ein knappes Kommando hin öffnete sich ihre Formation. Sie bildeten eine Gasse.

Wrekar, der Vargaz, knurrte.

Drei weitere Krieger schälten sich aus dem Rauch hervor. Sie überragten die imperialen Soldaten um mehr als einen Schritt. Sie bewegten sich geschmeidig, lediglich leichte Rüstungen schützten ihre muskulösen Leiber. Ihr rotgoldenes Fell, durchzogen von schwarzen Streifen, glänzte matt im Feuerschein. Unruhig peitschten ihre Schwänze den Boden.

Xelias hatte noch nie einen mit eigenen Augen gesehen, doch es gab keine Zweifel daran, womit sie es zu tun hatten. Sein Mund war staubtrocken. »Tighrir«, stieß er hervor. Er wagte es nicht, seine Stimme zu erheben. »Die Tigergarde des Thearchen!«

Faravid duckte sich hastig hinter die Hausecke. »Die was?«

»Tighrir«, zischte Xelias. Er suchte nach dem richtigen Begriff im Hjaldingschen. »Tigramaniz!«

Die drei Tighrir passierten gelassen das Spalier, das die Myrmidonen gebildet hatten. Die Soldaten blickten stumm geradeaus. Die Tigergestaltigen trugen Schwertlanzen. Blut klebte an den Klingen und an ihren Rüstungen. Ihre Brustplatten zierten drei Augen auf schwarzem Grund – das Zeichen des Hohen Hauses, dem der Thearch angehörte.

Ullbjerns grimmiger Ausdruck schwand. Er senkte Laujakweldiz und nickte langsam, so als erkannte er, dass ein Moment gekommen war, auf den er lange gewartet hatte. Er straffte sich und wies mit der Axt auf die Neuankömmlinge. »Das ist schon besser. Endlich nehmt ihr mich ernst.«

Der Tighror in der Mitte der Dreiergruppe hob seine Schwertlanze. Ein mächtiger Backenbart zierte seine Wangen, also schien es sich wohl um einen Mann zu handeln – auch wenn Xelias das nicht mit Sicherheit sagen konnte. Er fletschte die Zähne. Muskeln, so dick wie Schiffstaue, spannten sich unter seinem schwarzgelben Fell.

»Wir können hier nicht bleiben«, setzte Xelias leise an, doch Firnvild winkte energisch ab.

Ullbjern hob die Doppelaxt, sodass der Tighror sie besser sehen konnte. »Dies ist die Klinge, die Uskur, den Löwenhäuptigen erschlug. Die Waffe, die das Volk der Hjaldinger von Unterdrückung und Knechtschaft befreite. Sie trinkt noch mehr Tyrannenblut, ehe ich den Weg in die nächste Welt antrete! Dein Fell wird mir als Umhang dienen, wenn ich in Hraiwagard einziehe, deine Knochen werde ich als Trophäe vorzeigen!«

Firnvild unterdrückte einen entsetzten Laut. Faravid warf ihr einen warnenden Blick zu.

Der Anführer der Tighrir warf sich gedankenschnell nach vorne, seine beiden Begleiter folgten ihm. Mit wenigen Sätzen erreichten sie die fünf letzten Krieger rund um den Hersir. Ein Hjaldinger wich gewandt einer Schwertlanze aus. Ein anderer wurde mit Urgewalt davon geschleudert und schlug ein Stück weit entfernt auf. Serkaz hob seine Axt und stellte den Anführer der Tighrir. Dieser parierte flink seinen Hieb und wischte ihn geradezu lässig mit der Pranke beiseite.

»Groa!«, schrie Ullbjern den Tigramaniz den Namen seiner Sippe entgegen und hob erneut die Axt. »Groa!«

»Vater«, presste Firnvild mühsam hervor und zog sich an der Hauswand empor. »Wir müssen ihm helfen.«

»Nein!« Xelias packte hastig ihren Arm. »Diesen Kampf können wir nicht gewinnen! Selbst Ullbjern nicht!«

Sie schüttelte seine Hand ab, ihre grünen Augen sprühten Funken. »Teigherz!«, schleuderte sie ihm entgegen. »Lauf zurück zu deiner Imperi-Mutter und versteck dich hinter ihrer Schürze, wenn du Angst hast!«

Laujakweldiz kam erneut herab. Der Tighror wich zur Seite aus und lenkte sofort die Schwertlanze gegen seinen Gegner. Sie fuhr über Ullbjerns Bein. Der Hersir stieß einen Schmerzensschrei aus, packte aber geistesgegenwärtig nach dem Schaft der Lanze. Mit der anderen Hand ließ er die schwere Doppelaxt auf den Tighror herabfahren. Die Klinge drang tief in dessen Brust.

Die zwei anderen Tigramaniz kamen auf die verbliebenen Verteidiger der Halle herab wie die Sense auf überreifes Korn. Die umstehenden Myrmidonen beobachteten reglos, wie die Tigergardisten die Hjaldinger niedermachten. Einer hob unter triumphierendem Brüllen einen abgetrennten Kopf empor, von dem Blut herabrann.

Xelias packte Firnvilds Arm, gerade als die junge Hersirstochter den Schatten des Langhauses verließ. »Nein!«

Sie setzte zu einer zornigen Erwiderung an, dann erstarrte sie.

Der Anführer der Tighrirgarde trieb Ullbjern mit einem Prankenhieb zurück zu den Toren der Halle. Krallen, so lang wie Dolche, fuhren über die Brust des Hersirs der Groa-Sippe. Blut schoss aus den Wunden hervor.

Das Feuer tauchte Ullbjerns Gesicht in rotes Licht. Er fand sich mit dem Rücken gegen das Tor wieder. Sein Schmerzensschrei ging im Fauchen der Flammen unter, die sein Langhaus gierig auffraßen.

Der Tighror holte mit der Lanze aus.

Firnvild stieß einen langgezogenen Schrei aus, der von Wut und Trauer und Entsetzen kündete.

Ein Kommando gellte durch die Nacht. Die Myrmidonen wandten sich zu ihnen um.

Ullbjern senkte den Blick, sah auf den Schaft der Schwertlanze. Sie hatte seinen Körper durchdrungen und steckte auf der anderen Seite in dem mit goldenen Knotenbändern verzierten Türblatt des Langhauses. Laujakweldiz, die Waffe Havars, mit der er einst den löwenhäuptigen Uskur erschlug, fiel dumpf zu Boden.

Der Hersir der Groa-Sippe tastete mit zitternden Händen nach der Lanze, doch das Leben rann nun mit jedem Herzschlag aus ihm heraus. Sein Blick traf den seiner Tochter. Er bewegte die Lippen. Blut quoll hervor.

Die Myrmidonen setzten sich in Bewegung.

Firnvild riss sich von Xelias los und hob den Speer. Mit einem wütenden Schrei rannte sie den Imperja entgegen. Wrekar überholte sie mit weiten Sätzen und stürzte sich mit heiserem Bellen auf die gepanzerten Krieger.

»Xelias!« Faravid schloss zu ihm auf. »Wir sitzen in der Falle!«

Alarmiert wandte er sich um.

Myrmidonen traten auch zwischen den brennenden Langhäusern hervor und hielten langsam auf sie zu.

Die Tore von Ullbjerns Halle stürzten um und rissen den Hersir mit sich zu Boden. Das Feuer loderte hell und gierig in den Himmel. Der Anführer der Tighrir stand reglos vor dem Inferno, ein dunkler Umriss vor dem Flammen, und blickte auf Ullbjerns Leichnam hinab.

Die Myrmidonen drangen auf Faravid und Xelias ein.

Xelias hob seine Axt. Das Herz schlug ihm bis zum Hals.

Dann waren die gepanzerten Krieger heran.

***

Als Erstes verspürte er Schmerzen. Dann kam Verwunderung darüber, dass er überhaupt etwas spüren konnte.

Wie aus weiter Ferne drangen Worte zu ihm durch. »… am Leben?«

Xelias zwang sich, die Augen zu öffnen. Alles drehte sich um ihn herum. Bin ich in Hraiwagard? Warum empfinde ich dann Schmerz? Bin ich etwa ein Draugar? Empfinden Wiedergänger Schmerz?

Etwas Feuchtes, Raues fuhr ihm durch das Gesicht. Schlagartig fand er zu sich. Er hustete und krümmte sich.

Wrekar, der Vargaz, winselte leise. Seine Lefzen stanken nach Blut, in seinen Augen spiegelte sich Feuerschein wider.

»Ich fragte, bist du noch am Leben?«

Er wandte den Kopf. Eine hoch aufragende Gestalt blickte auf ihn herab. Kleine graue Augen musterten ihn. Sie lagen im Schatten einer bleich glänzenden Halbmaske aus Knochen, in die ein drittes Auge aus irisierendem Opal eingelassen war.

Kalter Schreck durchzuckte ihn. Ein Optimat! »Verzeihung, ich wollte nicht …« Xelias blinzelte und richtete sich etwas auf. Erneut zog Schmerz durch seinen Schädel. Er fasste sich an den Hinterkopf und stieß auf warmes Blut.

Der hagere Mann, zu dem die grauen Augen und die Triopta gehörten, trat näher. Er ignorierte das warnende Grollen des Vargaz, ergriff Xelias ohne viel Federlesens am Arm und zog ihn auf die Beine.

Xelias gab einen Schmerzenslaut von sich und packte ganz unzeremoniell das Gewand des Optimaten, um nicht sogleich wieder zu Boden zu stürzen. Der Schwindel erfasste ihn und eine aggressive Übelkeit stieg in ihm auf. Er sog die Luft in seine Lungen. Es roch nach Blut, Schwelbrand und verkohltem Fleisch.

Der Optimat war nicht allein – fünf weitere Gestalten in langen Roben umstanden ihn. Dunkelheit umgab sie, auch wenn in der Ferne Feuersbrünste loderten. Die Flammen erhellten die Nacht und reckten sich dem Nachthimmel entgegen.

Xelias wurde bewusst, dass er den Mann immer noch berührte. Hastig zog er die Hand zurück und senkte den Blick. »Entschuldigung, ich …«

»Es ist nicht Zeit für Reden«, fuhr ihm der Angesprochene harsch ins Wort. »Wer bist du?« Er beherrschte Hjaldingsch mehr schlecht als recht, mit einem gestelzten Akzent. »Dein Name?«

»Ich spreche Eure Sprache, Exzellenz«, presste Xelias in Imperial hervor. »Mein Name ist Xelias.« Er stockte. Wenn der Zauberer erfährt, dass ich gar kein echter Hjaldinger bin, sondern nur ein Gassenjunge aus Trivina, was dann? »Arnarssun«, ergänzte er rasch. »Xelias Arnarssun.«