Kitabı oku: «DSA 109: Hjaldinger-Saga 3 - Eis», sayfa 3
»Du sprichst unsere Sprache sehr gut – für einen Sohn Hjaldingards.« Der Optimat nickte. »Palomelios te Aldangara.« Er hatte sein langes graues Haar im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden. In der Rechten hielt er einen verzierten, klobigen Stab, der bleich in der Dunkelheit schimmerte. Seine Hände waren altersfleckig, aber kräftig. Auch seine Begleiter trugen Zauberstäbe.
»Aldangara?« Xelias’ Verstand benötigte einen Moment, ehe er begriff. »Ihr seid endlich hier! Schnell! Wie müssen …« Er sah sich hastig um.
Sie standen irgendwo zwischen schwelenden eingestürzten Langhäusern im Zentrum von Hjaldingafjord. Wenn die unförmigen Umrisse dort drüben die Halle Ullbjerns waren, dann befand er sich nicht weit von dem Ort entfernt, an dem die Myrmidonen sie gestellt hatten.
Palomelios fasste ihn am Arm – so fest, dass er aufstöhnte. Erneut ignorierte der Optimat Wrekars warnendes Grollen. »Uns bleibt keine Zeit, Xelias Arnarssun. Ist dir diese Ansiedlung vertraut? Kennst du die Umgebung, die Türme des Morgens im Westen?«
»Die Bergatun?« Er nickte hastig. »Ja.« Die dunklen Umrisse der Erschlagenen lagen zwischen den Häusern verteilt. Angst und Panik schnürten seine Brust zusammen. »Habt Ihr hier eine junge Frau gesehen, Exzellenz? Rotes krauses Haar … Oder einen Mann, einen Skalden, der …« Er machte einen Schritt und stöhnte auf. Sein verletzter Fuß wollte ihn nicht tragen.
Der Magier musterte ihn skeptisch. »Du kannst kaum aufrecht stehen. Zeig uns nur den Weg, beschreibe uns rasch, wie der Hafen dieser Siedlung aufgebaut ist.«
»Ich kann stehen!«, protestierte Xelias. »Und es ist kein Hafen, eher ein Anleger. Warum fragt Ihr? Was plant Ihr?«
Palomelios zögerte kurz. »Die Myrmidonen haben die Überlebenden deines Volkes zusammengetrieben und bereiten sie darauf vor, verschifft zu werden. Wenn wir uns beeilen, vermögen wir sie vielleicht noch zu retten.«
Xelias’ Augen flogen zu den Leichen. Keine davon erinnerte ihn an Firnvild oder Faravid. »Ich weise Euch den Weg. Greifen Eure Truppen von Land an? Habt Ihr Schiffe, Exzellenz?«
Der Optimat schüttelte den Kopf. »Die anderen … Der Rest von uns wird für eine Ablenkung sorgen. Das gibt uns die Gelegenheit, die Gefangenen zu befreien und in Sicherheit zu bringen. Rasch, uns bleibt nicht mehr viel Zeit!«
Einer der Zauberer reichte Xelias eine Axt. »Du kannst damit umgehen?«
»Natürlich. Ich bin ein Hjaldinger.« Er hinkte hastig weiter, der Axtgriff in seinen Händen gab ihm ein wenig Trost. Wrekar blieb an seiner Seite. »Wie viele Überlebende gibt es, Exzellenz? Ich nahm nicht an, dass sie auch nur einen am Leben lassen.«
»Viel mehr, als du denkst«, brummte der Optimat, der ihnen mit weit ausholenden Schritten voranging.
Sie bahnten sich einen Weg durch die schwelenden Ruinen. Sie stießen auf keine Soldaten. Am Ufer war Lichtschein zu sehen.
»Vorsicht«, warnte Palomelios und duckte sich. »Und halte deinen Hund unter Kontrolle!«
Xelias blinzelte in das Licht der zahlreichen Wachfeuer.
Auf dem flachen Strand, der zum Wasser hinabführte, und auf den sonst immer die Langschiffe hinaufgezogen wurden, saßen und hockten Hunderte Hjaldinger. Viele der Krieger hatte man in Ketten geschlagen und miteinander durch Fesseln verbunden, einige lagen verletzt oder bewusstlos auf dem Boden. Kinder kauerten weinend bei den Erwachsenen, die tröstend die Arme um sie gelegt hatten – sicherlich waren nicht alle davon ihre eigenen.
Dutzende Myrmidonen in bunt bemalten Rüstungen umstanden die Überlebenden, die Spitzen ihrer Kentemen auf die Gefangenen gerichtet. Weiter draußen, auf dem Meer, zeichneten sich klobige Umrisse ab – imperiale Galeeren.
Eine Abordnung Myrmidonen trat vor und zog eine Reihe Gefangener grob auf die Beine. Die Hjaldinger wehrten sich, fluchten und schlugen nach den Soldaten, behinderten sich wegen der Ketten aber nur gegenseitig. Die Myrmidonen zerrten die Gefangenen mit sich zum einzigen Pier. Boote lösten sich aus dem Schatten einer Galeere und hielten auf den Anleger zu.
»So viele Überlebende«, stieß Xelias hervor. »Warum?«
Palomelios nickte stumm in der Dunkelheit. »Die Charybalis legen Wert darauf. Sie haben einen Verwendungszweck für sie.« Er wies zu einem Feuer auf der anderen Seite hinüber. »Siehst du das?«
Ein kalter Schauder lief Xelias den Rücken hinab.
»Die Tigergarde des Thearchen«, erklärte der Optimat. »Seine Divinität will sichergehen, dass der Feldzug von Erfolg gekrönt ist.«
Sicherlich zwanzig Tigramaniz standen und saßen dort. Manche verzehrten rohe, gehäutete Ziegen, andere schärften ihre Schwertlanzen. Unweit von ihnen lagen aufgeschichtete Waffen – Äxte, Schilde, Speere, sogar Rüstzeug und Helme.
»Wenn die Garde abgelenkt ist, entledigen wir die Gefangenen ihrer Ketten, bewaffnen sie und bringen sie von hier fort.« Palomelios musterte Xelias in der Dunkelheit eindringlich. »Es kann nur hilfreich sein, wenn einer der ihren den Überlebenden versichert, dass wir hier sind, um zu helfen – und dass sie sich nicht sinnlos in einen Kampf stürzen, den sie nicht gewinnen können.«
Xelias wagte es, sich ein wenig aufzurichten, und suchte nach vertrauten Gesichtern unter den Gefangenen. Faravid und Firnvild hockten zwischen ihnen, aneinandergekettet. Ullbjerns Tochter saß zusammengesunken da, doch sie lebte noch. Sein Herz schlug schneller.
»Xelias?«, drängte der Optimat.
Er nickte hastig. »Ich kämpfe mit Euch, Exzellenz. Ich bin ein Hjaldinger, kein Feigling.«
Der Graubärtige musterte ihn prüfend. »Also gut.«
Xelias atmete tief durch. »Greifen wir jetzt an?«
Palomelios schüttelte leicht den Kopf. »Noch nicht.«
»Worauf warten wir?«
»Auf die Ablenkung.« Der Zauberer wies mit der Spitze seines Knochenstabs das Ufer hinab.
Die dunklen Umrisse waren markant genug. »Insektopter«, murmelte Xelias. Die imperialen Fluggeräte hatten Feuerbrände auf Hjaldingafjord abgeworfen und schon beim Vorrücken der Imperjas den Verteidigern enorm zugesetzt.
Und Jurga war nicht hier, um sie mit ihrem Schutzgeist vom Himmel zu holen.
Der Gedanke versetzte Xelias einen Stich. Ich schwor Effar, keinen Fuß mehr auf das Meer zu setzen. Was auch immer gleich geschieht, Vardur sehe ich nie wieder. Hoffentlich findet er einen Weg nach Osten. Hoffentlich gibt es das rettende Land, die neue Heimat, wirklich.
Hätten sich Ullbjern und Firnvild nur dazu bewegen lassen, sich Jurga anzuschließen.
Hätte Xelias doch nicht voreilig diesen Eid geleistet.
Eine Explosion auf der anderen Seite des Uferstreifens ließ ihn zusammenzucken. Zwei Flammensäulen stiegen in die Luft, erhellten Ufer und Meer. Die Bruchstücke der beiden Insektopter flogen etliche Schritte weit in alle Richtungen.
Die Köpfe der Myrmidonen und Gefangenen ruckten herum. Die Tighrir sprangen auf. Einer von ihnen stieß einen kehligen Befehl aus. Die Tigramaniz griffen zu den Waffen und eilten auf die Explosionen zu. Ein Offizier der Myrmidonen sammelte einen Teil seiner Soldaten um sich. Auch diese Abordnung hastete im Laufschritt auf die Insektopter zu.
»Jetzt!« Palomelios erhob sich. »Es muss schnell gehen! Befrei die Gefangenen, Xelias, und überlass uns die Myrmidonen! Sorg dafür, dass sich deine Landsleute bewaffnen und die Flucht antreten!«
Auch die übrigen Zauberer standen auf. Sie hoben ihre Hände und Stäbe.
Xelias packte die Axt fester. »Bei Rondris’ Kralle«, presste er hervor und lief los, so schnell ihn sein verletzter Fuß trug. Wrekar eilte ihm mit weit ausholenden Sprüngen voraus.
Die Myrmidonen, die bei den Gefangenen zurückgeblieben waren, wandten sich um. Sie sahen Xelias reglos – ja, geradezu überrascht und amüsiert – entgegen. Doch dann, mit einem Mal, veränderte sich ihr Gebaren und sie wichen ein oder zwei Schritte zurück. Alarmiert hoben sie ihre Waffen.
Ein riesiger Blutbüffel preschte mit angriffsbereit gesenktem Kopf vorbei und jagte auf die Soldaten zu. Seine Hufe hämmerten auf den Boden. Er überholte Xelias und nahm immer mehr Geschwindigkeit auf.
Rechterhand eilte mit weiten Sätzen ein Bär heran, gefolgt von einem röhrenden Thakur.
Die Myrmidonen sammelten sich, senkten hastig die Kentemen. Die Gefangenen erhoben sich und wandten sich gegen ihre Bewacher.
Der Blutbüffel riss eine Reihe von Gegnern zu Boden, die ihn in seinem Lauf nicht bremsen konnten. Der Bär richtete sich auf die Hintertatzen auf und schlug mit weit ausholenden Prankenhieben auf die Wachen ein. Soldaten flogen in alle Richtungen davon. Ein Berglöwe sprang fauchend einen Myrmidonen an und verbiss sich in dessen Nacken.
Xelias erreichte Firnvild und Faravid. »Rasch!«, rief er. »Die Ketten!«
Der Skalde starrte ihn aus großen Augen an. Dann hielt er ihm die Fesseln hin.
Xelias holte mit der Axt aus und zerschlug die Kettenglieder.
Kapitel 2
Havarskog, Insel Eikey, Brajan 2120 IZ
Die Bulgmarhi, die schlanke Otta der Hallaz-Sippe, das Drachenhaupt verhüllt, lief knirschend auf das flache Ufer auf.
Vardur nickte langsam. Jedes weitere eintreffende Schiff stärkte das Gefühl der Hoffnung, das ihn seit Tagen begleitete. Drawina würde es gutheißen, wenn sie sich einig zeigten. Je mehr sich ihrer Sache anschlossen, desto wahrscheinlicher war zudem ein glücklicher Ausgang ihrer Reise.
Gleichzeitig nährte es aber auch das Gefühl der Endgültigkeit, das in ihm wuchs. Wenn sie erst einmal Hjaldingard zurückgelassen hatten, gab es kein Zurück mehr. Dort draußen auf dem Meer, gleich hinter dem Horizont, wartete ihre Bestimmung auf sie.
»Schon fast vierzig Sippen«, stellte Horm fest. »Und beinahe genauso viele Kriegsschiffe.« Er wies mit seiner verbliebenen Hand das Ufer entlang. »Dazu kommen ebenso viele Schiffe für Vieh und Fracht, für die Kinder und Bauern. Die Ziegen der Aslakur werden gerade auf Halljadurs Weiden getrieben. Die Heddin brachten sogar alle ihre Trehurnoz mit, wir müssen einen Teil davon aber schlachten.«
Nie zuvor hatte Vardur so viele Ottas auf einem Haufen gesehen. Sie lagen so dicht, dass man bequem von einem Schiff zum nächsten hätte springen können. Vor allem die breiteren, bauchigen Frachtschiffe hatte man auf den Strand gezogen. Die meisten waren bereits beladen, andere warteten noch darauf. Dahinter, in der Bucht, hatten die übrigen Drachenschiffe Anker geworfen.
Horm Ohnehand folgte ihm das Ufer entlang, zählte auf, wie viel Vieh sie hatten und mit wie vielen Mitgliedern die einzelnen Sippen gekommen waren. Zwischen den Schiffen eilten geschäftige Hjaldinger umher. Wer kräftig genug war, mit anzupacken, tat dies auch, schleppte Vorräte heran und lud sie auf die Ottas, wo kundige Hände sie festzurrten.
Das Vieh und die Pferde warteten noch in den mit provisorischen Zäunen umgebenen Pferchen. Der Großteil graste auf den Weiden von Eikey, wo sich die Ziegen und Schafe, Trehurnoz und Schweine vor der Abfahrt ein letztes Mal sattfraßen.
Horm kratzte sich an seinem Armstumpf. »Wenn das nicht ein beeindruckendes Drachenschiff ist. Selbst Ottar würde da anerkennend nicken.«
Sie passierten die Blajazehwa, das ›Windpferd‹, eine schlanke, mit kunstvollen Runen geschmückte Otta. Von ihr aus würde Jurga ihren gesamten Schiffsverband anführen. Krieger der Hagni-Sippe verstauten Waffen und Vorräte unter den Ruderbänken. Ein Runaman erneuerte behutsam eine der verschlungenen Runen am Bug, eine Vagarokruna, die seefahrerische Fähigkeiten stärkte. Über ihm ragte der Drachenkopf der Otta empor, der mit Tüchern verhüllt worden war, um die Geister von Eikey nicht zu verschrecken.
»Ich ziehe dennoch die Thurehs vor«, gab Vardur zu. »Das Schiff hat die Havar schon seit Generationen niemals im Stich gelassen. Sie wird uns auch sicher auf die andere Seite des Eiwara bringen.«
Hjalda, die Witwe des einstigen Hersirs Tjalf und Jurgas Stiefmutter, kontrollierte die Kisten, Körbe und Vorräte, die am Ufer standen. Danach entschied sie, welche auf die Blajazehwa geschafft wurden und welche auf eines der drei Frachtschiffe der Hagni. Sie blickte auf und nickte Vardur zu. Hjalda war eine gestandene Kriegerin, deren rotbraunes Haar noch keine grauen Strähnen aufwies. Ihre beiden Kinder Grani und Tola gingen ihr zur Hand. Die Zwillinge hatte noch nicht ganz das Erwachsenenalter erreicht. Mit ihren kastanienbraunen Locken und dunklen Augen kamen sie eher nach ihrer Mutter, vermutete Vardur. Sowohl Jurga als auch ihr Bruder Hasgar hatten blondes Haar und helle Augen.
»Wie viel weiß sie über dich und ihre Tochter?«, raunte Horm ihm zu.
Er winkte ab. »Was macht es jetzt für einen Unterschied?«
Sie umrundeten am Ufer aufgereihte Wasserfässer. »Wir müssen so viel zurücklassen«, seufzte Horm. »Hätten wir doch nur die Zeit, um weitere hundert Schiffe zu bauen.«
»Beschränken wir uns auf das Nötigste. Ich verzichte gerne auf die Erbstücke der Havar-Sippe für ein Fass Trinkwasser mehr, einen Ballen Stroh für das Vieh und eine zusätzliche Kiste mit Saatgut. Vor allem anderen müssen wir selbst ankommen. Wir tragen alles in uns, was wir benötigen, damit unser Volk fortlebt. Sobald wir einen Fuß auf das Ufer des neuen Lands setzen, haben die Imperja verloren. Dann können sie uns nicht mehr auslöschen. Die Hjaldinger überleben, unsere Sagas werden weiterhin gesungen, unsere Ahnen in den Geschichten weiterleben, die wir unseren Nachkommen abends am Feuer erzählen.«
Kinder rannten lachend an ihnen vorbei. Ihnen war nicht bewusst, was auf sie zukam und welches Risiko das Unterfangen wirklich barg. Eine alte Frau saß auf einer Kiste, blinzelte in die grelle Morgensonne und sah ihrer Sippe beim Beladen ihrer Otta zu.
»Dennoch«, Horm senkte die Stimme, »sind es nicht ausreichend Schiffe für alle. Der Platz wird nicht reichen, es gibt nicht genug Vorräte oder Wasser für alle.«
Vardur nickte langsam.
Auch in der Ortsmitte von Havarskog herrschte rege Betriebsamkeit. Mitglieder der Havar trugen Fässer, Kisten und Körbe vorbei, trennten vor ihren Häusern das Nützliche vom Unbrauchbaren. Familien aus dem Umland trafen ein, ihre Karren beladen mit Vorräten aus ihren Speichern. Die Kinder von Halljadur und Jarngerd, die einen Hof im Hinterland von Eikey bewirtschafteten, trieben unruhig schnatternde Gänse vor sich her.
Horm sah ihnen lächelnd nach. »Arnthrud meint, ich solle bloß schauen, gleich bei unserer Ankunft ein gutes Stück Land zu finden, ehe jemand schneller ist.«
Vardur schmunzelte. »Für ein Langhaus? Mit ausreichend Platz für eine ganze Schar Kinder?«
Sein Freund grinste. »So stolz und anmutig wie ihre Mutter, hoffe ich. Große Krieger wie ihr Vater.«
»Und sicherlich ebenso bescheiden.«
Horms Lächeln schwand, als ihnen eine Gruppe von Kriegern der Aasa entgegenkam. »Ich wette mit dir, der mächtige Hersir Gautaz Großmaul wird die besten Plätze für sich und seine Sippe beanspruchen, sobald auch nur die Küste des neuen Lands am Horizont zu erahnen ist.«
Zwischen den Häusern hindurch konnten sie nun bis zu dem Langhaus sehen, das Vardur bislang sein Zuhause genannt hatte.
»Wo wir gerade von Hersiren sprechen …« Horm warf ihm einen Seitenblick zu. »Hast du dich bereits entschieden, was du sagen wirst?«
Vardur seufzte. »Was rätst du mir denn?«
»Ich rate dir, nicht in Selbstmitleid zu versinken. Die alte Kratzbürste wusste schon, was sie tat. Was Salbjerg in dir sah, sehen andere inzwischen auch.«
Er nickte langsam. Horm hatte mit seinem eigenen Onkel gebrochen, um ihn beim Hjalding zu unterstützen. »Wir können nicht ohne Hersir aufbrechen, so viel ist sicher.«
Sie erreichten das Langhaus von Vardurs Familie. Ehe sie eintreten konnten, kam ein kleiner Junge angerannt, der Vardur nicht einmal bis zur Hüfte reichte, und stieß mit ihm zusammen. Erschrocken wich der Junge zurück und sah aus himmelblauen Augen unter einem blonden Schopf zu ihm auf.
Vardur schenkte ihm ein Lächeln. »Und der Hersir welcher Sippe bist du?«
Der Knabe gluckste. »Ich bin kein Hersir! Noch nicht … Aber bald!«
»Siehst du, wusste ich es doch!« Er lachte. »Wie heißt du denn, junger Hersir?«
»Skidi!«, verkündete der Angesprochene stolz und stemmte die Hände in die Hüften. »Skidi Gautazsun!«
Vardurs Lächeln schwand. Er starrte den Knaben an. In seinem Alter hatte der Fluch ihm bereits eine Mutter, Schwester und Vater genommen. Skidis Mutter hatte zudem seine Pflegeeltern auf dem Gewissen und sein Vater …
»Skidi!« Katla Oddasduhter kam auf sie zu, ihr jüngstes Kind, das sie erst vor wenigen Monden zur Welt gebracht hatte, im Arm, eingewickelt in eine Decke. Eine rüstige ergraute Frau begleitete sie und musterte ihn skeptisch durch zusammengekniffene Augen – Katlas Mutter Odda.
Wie immer, wenn Vardur die Hersirin sah, ihr weißblondes Haar und die geradezu durchscheinende weiße Haut, setzte sein Herz einen Schlag aus. Andere mochten Katla schätzen, bewundern und achten – sie schien auch die Einzige zu sein, die Gautaz, zumindest gelegentlich, im Zaum halten konnte –, bei ihm erweckte ihr Anblick keine Hochachtung. Er sollte Katla für das, was sie seinen Pflegeeltern angetan hatte, hassen, doch es fiel ihm weiterhin schwer. Er hatte die Hersirin bislang nur als gerechte und kluge Anführerin kennengelernt.
Sie nickte ihm nach kurzem Zögern zu. »Hjaldingafridhur.«
Er erwiderte die Geste. »Die Gunna-Sippe ist vollzählig eingetroffen, hoffe ich? Es gab keine Schwierigkeiten auf dem Weg?«
»Die gab es nicht. Ich danke dir für deine Gastfreundschaft. Möge Drawina deine Sippe segnen.«
Er bedeutete ihr vorauszugehen und folgte Katla durch die weit offen stehenden Giebeltüren in die Halle. Wärme empfing sie im Inneren. Die Vertreter der versammelten Sippen saßen auf den Bänken entlang des Mittelgangs oder standen dahinter, wenn sie keinen Platz gefunden hatten. Wieder andere drängten sich an den Wänden. Es herrschte ein lautes Stimmengemurmel. Die Halle hatte noch nie so viele Menschen aufnehmen müssen – ganz sicher nicht so viele Hersire auf einen Schlag.
Vardur und Horm bahnten sich einen Weg durch die Menge. Sie blickten in angespannte Gesichter. Nur wenige wirkten wahrlich hoffnungsvoll – vor allem natürlich die Vertreter der Isleif-Sippe. Ein Kind Isleifs brauchte keine Imperja, die es jagten, um voller Zuversicht zum Horizont aufzubrechen.
Horm trat zu Arnthrud, die an der Wand lehnte. Die Miene der jungen Frau hellte sich auf. Das waren schon einmal zwei Stimmen, auf die Vardur zählen konnte.
Der Feuerschein reichte nicht weit genug, um alle Anwesenden zu erreichen. Er fand die besorgten Gesichter der rundum sitzenden Hersire, schaffte es noch gerade so zu den Mienen der Berater hinter ihnen, erreichte aber kaum die Übrigen, die dahinter an den Wänden warteten.
Solweig Thordisduhter, die Hersirin der Isleif-Sippe, erschien ihm am zuversichtlichsten. Doch in den Adern aller Kinder Isleifs floss das Entdeckerblut ihres Sippenbegründers, des ersten Hjaldingers, der jemals auf dem Westweg fuhr. Sie sah ihrem Vorhaben mit offenkundiger Begeisterung entgegen. Die bereits ergraute Hersirin saß gegenüber dem leeren Platz, auf dem seit dem Tod von Vardurs Großmutter Salbjerg keiner mehr gesessen hatte. Solweig stützte sich auf einen geschnitzten Gehstock, das Feuer ließ die Falten in ihrem Gesicht wie tiefe Furchen erscheinen. Dennoch zweifelte niemand daran, dass sie notfalls das ganze Immermeer schwimmend überqueren würde, wenn auf der anderen Seite die Aussicht auf Abenteuer und ein unentdecktes Land warteten.
Solweig hatte Jurga auch ihr eigenes Schiff, die Blajazehwa geschenkt. Sie selbst würde auf dem zweiten Kriegsschiff der Sippe fahren, der Rhidawega.
Katla überließ den ihr zustehenden Platz am Feuer ihrer Mutter. Die Hersirin wiegte ihr neugeborenes Kind im Arm, das die Tragweite dieser Zusammenkunft nicht erahnte und schlief.
Die Skaldin Solwa, einst Salbjergs wichtigste Beraterin, saß zur Linken des Hersirssitzes und starrte ins Feuer. Wie immer trug sie ihr aschblondes Haar offen und nur an den Schläfen zu zwei dünnen Zöpfen geflochten.
Jurga saß zur Rechten des Sitzes, neben ihrem älteren Bruder Hasgar, einem hageren, hochgewachsenen Krieger mit rotblondem Bart und grünen Augen. Beide hatten sich leicht zu Thidrik umgewandt. Der Runaman mit dem langen, feuerroten Haar redete leise auf die Geschwister ein. Das aus geschliffenen Halbedelsteinen gebildete Stirnauge auf seiner Ledermaske gleißte. Es sollte das eigentliche dritte Auge der Zauberer verbergen. Vardur erschauderte unwillkürlich.
Mit Hasgar hatte er bislang nur wenige Worte gewechselt. Nach allem, was er wusste, hatten sich viele in der Hagni-Sippe für ihn als Nachfolger ihres Hersirs ausgesprochen, bis sich Jurgas Bruder vehement für seine Schwester eingesetzt hatte.
Vardur wartete, bis Jurga ihn bemerkte, ehe er sich räusperte und auf Katla wies. »Die Gunna und Hallaz sind eingetroffen – sieben weitere Schiffe. Es ist immer noch nichts von den Airikir zu sehen. Ich fürchte, die Imperja haben sie tatsächlich eingeholt.«
Sie nickte langsam. Das Feuer warf keine Schatten in ihrem ebenmäßigen, blassen Gesicht. Sie trug ihr blondes Haar auch heute in mehreren unterschiedlich hoch angesetzten Zöpfen und schien aus sich selbst heraus zu leuchten. Sie erschien eher wie ein Geist, eine Erscheinung, als ein Mensch aus Fleisch und Blut – doch dieser Eindruck mochte von Vardurs Gefühlen beeinflusst sein.
»Wir können nicht länger warten«, warf Solweig ein, während Jurga noch grübelte. »Mit jedem verstreichenden Tag bringen die Imperja zehn weitere Schiffe in Stellung, um die Odalwik abzuriegeln. Sobald die Kämpfe um Hjaldingafjord vorbei sind, segeln ihre Ottas als Nächstes zu uns. Je früher wir aufbrechen, desto besser. Es ist nicht wahrscheinlich, dass Ullbjern sie besiegen wird. Nutzen wir also die Zeit, die uns sein Widerstand verschafft, zu unseren Gunsten.«
Jurga erhob sich. »Wenn die anwesenden Hersire zustimmen, setzen wir im Morgengrauen Segel.«
»Verwenden wir die Nacht, um uns an ihnen vorbei nach Süden zu schleichen«, warf jemand aus der Runde ein – Hallerna, die Hersirin der Kjora. »Die Imperja rechnen nicht damit, wenn wir der Küste folgen und Eyjattur passieren.«
»Nein.« Jurga schüttelte vehement den Kopf. »Wir waren uns über unsere Fahrtroute bereits einig: Wir schlagen den Weg ein, der mir gewiesen wurde, direkt hinaus auf das Eiwara. Eyjattur ist fest in der Hand der Imperja. Niemand weiß das besser als die Hagni.«
Eine raue Stimme, in der kaum verhohlene Verachtung mitschwang, meldete sich zu Wort. »Und wie gedenkt dein Schutzgeist, uns an den Ottas der Imperja vorbeizuführen?« Gautaz’ wölfisches Grinsen schälte sich als erstes aus der Dunkelheit. Danach seine Hand, die ein Trinkhorn hielt, sein langes, dunkelblondes Haar und schließlich seine kleinen grauen Augen und die zahllosen Narben und Kriegerrunen auf seinem bloßen Oberkörper.
Ein junger Krieger seiner Sippe, Hrok, der Gautaz stets wie ein abgerichteter Vargaz folgte, stand einen Schritt hinter ihm.
Jurga sammelte sich für einen Moment. Sie sprach nicht gerne das Wirken ihres Schutzgeistes direkt an. Es gab immer noch zu viele, denen ihr ständiger Begleiter nicht geheuer war. Sie zogen es vor, der kühnen Vision einer mutigen und glücklichen Anführerin zu folgen, anstatt den Weisungen eines Wesens, das sie nicht greifen oder hinterfragen konnten.
»Mein Schutzgeist«, setzte sie dann doch an, »lag noch nie falsch und er wird es auch dieses Mal nicht. All das haben wir bereits zur Genüge besprochen, Gautaz Dagurssun: Unser Weg führt direkt nach Osten, auf das Immermeer. Wir werden nicht mit einhundert Schiffen versuchen, uns einen Weg durch das Inselgewirr der Eyjattur zu suchen. Auch du weißt, dass es aussichtslos wäre.«
»Ich will hoffen, dass dein Geist recht behält«, entgegnete der Aasa. »Oder aber, er führt meine Sippe, deine und vierzig andere – alles, was von unserem Volk noch übrig ist – direkt in die wartenden Arme der Imperja.«
Vardur hob überrascht die Brauen. Für Gautaz Dagurssun war dies geradezu versöhnlich.
»Andererseits hast du kaum Erfahrung mit Kriegszügen«, setzte der Hersir der Aasa nach. »Ich sehe nur wenige Speere Firns an deinen Armen.« Er ließ seine eigenen Muskeln spielen, die mit Hautbildern übersät waren. »Warum wirst ausgerechnet du uns in diese Schlacht führen? Es wäre sicher klug, die Führung einem erfahreneren Hersir zu überlassen – zumindest, bis wir das offene Meer erreichen haben.«
Vardur ballte die Fäuste. Ein Hersir, der danach bestimmt darauf pochen wird, den Verband auch weiterhin anzuführen, wenn wir dank ihm die Blockade durchbrochen haben.
»Ein offener Kampf wäre zu verlustreich«, warnte Solweig. »Wir alle haben gesehen, was die Imperja können und mit welchen Mächten sie im Bunde sind!«
Vardur schluckte. Lebende Algen, die nach den Ottas griffen … Watdraugar, die sich an der Bordwand emporzogen – das wollte er nicht erneut erleben.
»Es wird nicht zu einer Schlacht kommen«, widersprach Jurga scharf. »Ich bin hier, um euch den Weg in das neue Land zu zeigen. Nicht, um euch vorzuschreiben, wie ihr eure Sippen zu führen habt. Vertraut meinem Schutzgeist und er wird euch retten.«
Gautaz hob amüsiert die Brauen.
»Du bist dir sicher, dass Land auf der anderen Seite des Ozeans wartet?« Das war Alsvinn, der Hersir der Hallaz-Sippe. Er war mit seinen Schiffen erst am Morgen dazu gestoßen. »Niemand von uns zieht in Hraiwagard ein, wenn wir auf dem Meer sterben.«
»Die Götter werden uns beistehen!«, rief jemand von weiter hinten aus der Menge.
»Götter«, schnaubte Katla. »Welche Götter? Effar? Er ließ uns gegen die Hrangadiener im Stich, als sie unsere Ottas mitsamt ihren Besatzungen in die Tiefe rissen! Rondris, Agiz oder Khorraz kamen uns ebenfalls nicht zu Hilfe.«
Andere nickten zustimmend. Selbst Gautaz verzog verächtlich das Gesicht, ehe er einen Schluck aus seinem Trinkhorn nahm.
»Mein Schutzgeist lässt uns nicht im Stich«, versicherte Jurga der Runde. »Und wenn wir uns auf ihn, und auf Drawina verlassen, auf unsere Stärke und unseren Zusammenhalt, dann erreichen wir unser Ziel.«
Niemand in der Halle widersprach.
Jurga starrte ins Feuer. »Ich habe es deutlich gesehen, er hat es mir wieder und wieder gezeigt: Eis – ein weites, graues Eismeer, und jenseits davon das neue Land – eine neue Heimat, die nur auf uns wartet.« Sie fing sich wieder. »Ihr alle wisst, was zu tun ist: Jede Sippe ist für den Schutz der Frachtschiffe zuständig, die mit ihr reisen. Die Sippen, die kein eigenes Drachenschiff mit Kriegern stellen, teilen ihre Schiffe auf die Übrigen auf. Die Runaleudi«, sie wies auf Thidrik, »teilen sich ebenfalls, so gut es geht, auf die Ottas auf. Wenn einer Sippe mehrere Runaleudi angehören, unterstützt sie weniger begünstigte Sippen, indem sie ihnen einen Runaman oder eine Runakwena abgibt.«
Vardur musterte den Zauberer, der stumm hinter Jurga stand, sein Gesicht reglos und nicht zu lesen. Seinen Stab aus dunklem, knorrigem Holz hielt er in der Rechten.
»Gibt es sonst noch etwas?« Jurga sah in die Runde. »Wenn ja, dann sprecht es jetzt aus.«
Solweig räusperte sich. »Ich möchte sprechen.«
Jurga setzte sich.
Die alte Hersirin lächelte wehmütig. »Auch wenn es mich schmerzt, auch wenn ich mir nichts sehnlicher wünsche, als das Eiwara zu überqueren, das neue Land auf der anderen Seite des Meeres zu sehen und unter meinen Füßen zu spüren, bin ich doch zu alt, um dieses Abenteuer auf mich zu nehmen. Ich kann zwar noch eine Axt heben und das Ruder packen, aber wenn ich es gegen einen Feind führen soll oder in einem Sturm den Kurs halten muss, reicht meine Kraft nicht aus.«
Gemurmel setzte ein. Katla schüttelte den Kopf. »Du bist weise und dein Ratschlag ist mehr wert als zehn starke Hände, Solweig. Du wirst das neue Land erreichen und du wirst dabei zusehen, wie deine Enkel dort zu Frauen und Männern heranwachsen.«
Die Umstehenden nickten zustimmend. Jurga senkte den Blick.
Die Hersirin der Isleif schmunzelte. »Ich danke euch für euer Vertrauen, aber der Entschluss ist gefasst. Ich spreche nicht nur für mich, sondern für alle, deren Hände nicht mehr stark genug sind, deren Augenlicht nicht mehr ausreicht. Für alle, die mehr eine Last als eine Hilfe sind, und diejenigen, die ohnehin nicht mehr viele Winter sehen werden. Ich spreche auch für alle, die nach den Kämpfen immer noch mit Wunden dahinsiechen.« Sie erhob sich langsam. Ihre Hand zitterte, doch sie stand aufrecht und ihr Blick war fest. »Wir bleiben und kehren in die Erde zurück, in der auch unsere Vorfahren ruhen. Gebt unsere Plätze auf den Schiffen Vieh und Wasserfässern. Noch nie, nicht seit Yoldras Zeiten, fiel eine Hjaldingerin ihrer Sippe weiter zur Last, wenn sie zu alt, schwach oder krank wurde. Nicht, wenn sie so das Überleben ihrer Familie sichern kann. Heute ist nicht der Tag, an dem wir mit diesem Brauch brechen.« Sie stockte. »Die Isleif werden meinen Nachfolger wählen – jemanden, der die Sippe in das neue Land führt. Wenn die Imperja hier eintreffen, werden sie nur brennende Häuser und Tote vorfinden, die lächelnd und in dem Wissen aus dem Leben geschieden sind, dass ihre Sippen weiterleben. Dass ihre Taten in den Sagas weiterleben, die ihr in der neuen Heimat singen werdet.« Ein wehmütiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Ich habe nur einen Wunsch: Wenn ihr mich dereinst in Hraiwagard wiederseht, berichtet mir vom neuen Land und wie es meinen Enkeln ergangen ist.«
Für einen Moment herrschte Stille. Nur das Knacken der Holzscheite war zu hören. Dann erhob sich Solwa und nickte der alten Hersirin zu. »Die Sagas werden von eurem Opfer berichten. Eure Namen und Taten werden nicht vergessen.«
»Eine kluge Entscheidung«, brummte Gautaz und nippte an seinem Trinkhorn. »Nur die Jungen und Starken haben Aussicht, bei einem solchen Unternehmen zu überleben. Die Alten wären nur Ballast.« Er sah zu Katla und Odda hinüber.