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DIE WASSERFAHRT
Sowie ein Nachen vollgepfropft ist, wird er umgewendet und gegen den Wollenhof gelenkt. Da ergreift ihn die Gewalt des reissenden Stromes. Die Schiffsleute brauchen nicht zu rudern, sie haben genug zu tun, nur immer genau die Richtung zu beobachten, welche das Fahrzeug nehmen soll, um nicht gegen Pfähle und Mauern zu stossen. Sie sind sehr vorsichtig, und dass sie sich nicht etwa vor der Abfahrt berauschen, dafür hat der Schiffsmeister bei Eid und Pflicht und schwerer Verantwortung zu sorgen.
Eine reizendere Wasserreise als diese ist kaum denkbar; sie lässt sich im Kleinen mit der Rheinfahrt von Mainz bis Köln vergleichen. Wie ein Pfeil vom Bogen geschnellt, fliegt der leichte Nachen auf blaulichen Wellen dahin. Die Gegenstände wechseln jede Minute; kaum hat man eine bedeutende Stelle erreicht, so verschwindet sie wieder, verdrängt von einer andern, die das Auge auf sich zieht. Von der Landveste ausgelaufen, befindet man sich schon im Hui an der Spitze des Ötenbachergartens bei der Papiermühle, wo am Abend des 22. Heumonats 1350 vor der Mordnacht der besonnene Fischer Bachs den verräterischen Grafen von Toggenburg mit seinen beiden Gefährten in die Fluten versenkte und sich dann von seiner Obrigkeit die silbernen Panzerschuppen der von ihm in der Reuse gefangenen Fische zur Belohnung erbat. Nicht vergebens heisst diese Stromgegend die Schnelle. Man hat sich kaum bedacht, so ist man schon unterm langen Steg dahin und schwebt längs den schattigen Lindengängen des Schützenplatzes, an dessen Spitze der Sihlstrom sich mit seiner jugendlichen Braut, der Limmat, vermählt. Ade, Zürich!
Wer etwa dort oben im Beckenhofunter dem dunklen Kastaniengewölb eine befreundete Gestalt erblickt, winkt wohl mit weissem Tuch hinauf. Aber kaum hat man den Gegengruss aufgefangen, so ist der Beckenhof verschwunden, und wie das Leben im Zauberstrahl der Jugend eilt der Nachen weiter und weiter, vorbei an schönen Fabrikgebäuden, die rechts und links am Ufer stehen, wo Kattun gedruckt, geklopft und in der Limmat reingewaschen wird.
Der Kirchturm von Wipkingen, der aus Obstbäumen hervorragt, ist schon hinter uns. Links zeigt sich der Hardturm, früher auch Schwedenturm genannt, wo vor Zeiten eine Brücke stand, deren Zoll den Freiherren von Regensberg gehört hatte. Als am 24. Heumonat 1343 die angeschwollene Limmat den Gasthof zum Schwert und mehrere Mühlen aus Zürich wegschwemmte, zertrümmerten diese die Brücke, und die Regierung verordnete, dass von nun an zwischen dieser Stadt und Baden keine Brücke mehr solle errichtet werden. Als Herzog Albrecht im Jahr 1352 Zürich von der östlichen Seite belagerte und dort wenig ausrichtete, beschloss er, die Stadt von der Sihlseite anzugreifen, und liess zu diesem Ende wieder eine Brücke gegen den Hardturm schlagen. Die Zürcher aber zerstörten dieselbe durch Flösse, welche sie auf der Limmat hinabschwimmen liessen, und seither ist keine mehr hier gestanden. Jetzt stellt in friedlichern Zeiten eine Gesellschaft agronomischer Freunde in dieser Gegend auf zürcherischem Stadtgemeindeboden fellenbergische Experimente an und benutzt den Turm als Landsitz.
Die südliche Seite des anmutigen Hönggerbergs ist auch schon zurückgetreten. Die Kirche von Höngg winkt vergebens auf ihrem Rebhügel, wir haben jetzt nicht Zeit, dort vom Friedhof die herrliche Aussicht zu bewundern. Der Strom zieht uns vorbei an den Getreide- und Pulvermühlen, vorbei an den reizenden Wiesen, Obst- und Weingärten, an schattigen Wäldchen, an Landhäusern und malerischen Hütten unter alten Nussbäumen, von Weiden umzäunt. Da kommen wir an eine Stelle beim Landsreinwuhr, wo die Limmat sich nach links biegt. Es liegen Steine im Wasser, die Wellen schäumen und spritzen. «Ist das der Kessel?», rufen die Kinder. Aber sie haben kaum gefragt, sind wir schon vorbei. Es war nur ein Vorspiel dessen, was weiter unten auf uns wartet.
Dort strebt ein Türmchen auf klösterlichen Dächern empor.93 Hier ist das Fahr. Hier wohnen die armen blassen Nonnen und beten und singen und sticken und tändeln ihr freudloses Leben dahin. Nur an seltenen Festtagen und wenn sie etwa zur Ader gelassen haben, ist ihnen vergönnt, sich im Freien zu ergehen und am Ufer des Flusses unter ihren Fruchtbaumalleen an der Seite eines gefälligen Propstes oder Beichtvaters zu lustwandeln. Ach, es ist ihnen wohl besser, dass sie das fröhliche Leben nicht sehen, das so rasch auf tanzenden Fluten vorüberschwebt, weil sie doch nicht mit uns nach Baden fahren, sich nicht mit uns erlustigen dürfen und verurteilt sind, auf der gleichen Stelle zu harren, in stiller Betrachtung, in heimlicher Sehnsucht, in trostlosem Leiden, bis der himmlische Bräutigam kommt, sie aus dem Kerker zu erlösen.
So schnell zieht uns die Limmat fort, dass wir über dieser wehmütigen Erinnerung an die guten Nonnen versäumten, die Stelle zu bemerken, wo unten am Kloster einst das Städtchen Glanzenberg stand, das der listige und tapfere Graf Rudolf von Habsburg als Hauptmann der Zürcher im Jahr 1268 eroberte und verbrannte. Man entdeckt unter wildem Gesträuch noch Spuren von dem verschütteten Gemäuer. In dieser Gegend hat vor ungefähr 20 Jahren ein ausgewanderter französischer Bernhardinermönch, der nebst zwei anderen Geistlichen bei den Nonnen eine Zuflucht gefunden, aus Dankbarkeit und zum Zeitvertreib ganz allein und ohne Gehilfen eine lange Strasse über die Klostergüter gebaut, mit Kies überführt und mit nützlichen Kirschbäumen eingefasst. Seine beiden Gefährten, weniger emsig, beteten fast immer und standen dafür bei den Nonnen in höherem Ansehen. Nach Verfluss einiger Jahre kehrten alle drei in ihr Vaterland zurück. Die Erinnerung an die müssigen Beter ist erloschen, indes der Arbeitsame sich selbst ein bleibendes Denkmal gestiftet. Das war doch einmal ein nützlicher Emigrant!
Hier beginnt das Wasser etwas ruhiger zu fliessen, die Gegend wird allmählich flacher, der breitere Strom nimmt in seine kühlen Arme mehrere kleine Inselchen auf, die mit Weidengestrüpp bewachsen sind, und wir können mit Musse den Punkt betrachten, wo im Jahr 1799 der französische Feldherr Massena am 25. Herbstmonat bei Dietikon eine Schiffsbrücke über die Limmat schlug, die Russen auf dem rechten Ufer überfiel, wie eine verheerende Lawine sich wieder über die Stellungen verbreitete, die er am 6. Brachmonat, von den Österreichern bedrängt, verlassen hatte, und dann durch die berühmte zweitägige Schlacht bei Zürich das Schicksal von Europa zugunsten seiner räuberischen Regierung wieder für mehrere Jahre entschied. Rechts im Niederholz liegen viele Hundert Russen begraben, welche zu schwach und des Krieges mit den leichtfüssigen Franzosen noch nicht kundig, beim ersten Anlauf den Tod fanden. Indes der Nachen sanfter dahingleitet, kann man sich gemächlich umsehen und rückwärts auf den alten Uto blicken, welcher von hier aus, im Profil gesehen, seine bedeutende Form ganz verloren hat und als eine mässige Anhöhe erscheint. Die waldbewachsenen Hügel und Berge zur Rechten wechseln in mannigfaltigen Abstufungen, indes die Aussicht zur Linken weniger malerisch ist. Die Schiffsleute erlauben sich, hier ein bescheidenes Gläschen des mitgenommenen Weins zu trinken, und die Frauenzimmer packen Äpfel und Weggen aus ihren Arbeitsbeuteln und geben den Kindern zu naschen.
Aber bald nachdem man bei Oetwil an der grössten Limmatinsel vorbeigekommen, beginnt das Wasser wieder eilfertiger, das linke Ufer romantischer zu werden. Die Führer ergreifen die Ruder wieder und verdoppeln ihre Achtsamkeit. Höflich ersucht der Schiffsmeister die Damen, welche etwa ihre Sonnenschirme offen haben, sie niederzulegen, damit er ungehindert die gefährlicher werdende Fahrt lenken könne. Dort oben glänzt auf sonnigen Weinhügeln die Würenloser Trotte, ein schönes lustiges Gebäude mit einem Wohnboden. Warum dieses auf den reizendsten Punkt hingestellte Haus vom Pöbel das Narrenhaus genannt wird, habe ich nicht erfahren können. Im Herbst beziehen und lassen die Wettingermönche dort ihren Weinzehnten keltern.
«Wir sind am Kessel! Da ist der Kessel!», ruft einer dem andern zu. Die Kinder kreischen auf; sie haben so viel von den Gefahren des Kessels gehört, dass sie furchtsam sich an die Mutter drängen und anklammern und wähnen, schon in der nächsten Minute vom gähnenden Rachen eines nasskalten Todes verschlungen zu werden. Ist etwa ein artiges, ängstliches Bernermädchen mitten im Schiff, dem auch vor dem schrecklichen Kessel graut, und sitzt vielleicht ein junger Herr neben dem zagenden Kinde, wer wollte es ihm verargen, wenn er sich flugs entblödet, schützend und tröstend den Arm um die schlanke Gestalt zu schlingen, bis die Charybdis bezwungen ist? Die Wellen schlagen wie mit Hämmern an die Bodenplanken des Schiffes, heben es ein paarmal auf, lassen es wieder sinken, bespritzen die Reisenden, welche vorn sitzen ein wenig im Fliehen. Es sind zwei Augenblicke, und sogleich schwimmt der Nachen wieder so sanft wie zuvor dahin – der Zorn des Flussgottes hat sich gelegt, die Gefahr ist überstanden und die Furchtsamsten sind die Ersten, welche über ihre vergebliche Angst lachen.
Was ist denn dieser Kessel, von dem so viel Abenteuerliches erzählt wird? Ein paar grosse Felsbrocken ragen aus dem Wasser hervor, an welchen sich die Wellen mit Ungestüm brechen, der Fluss biegt sich plötzlich nach links und bildet beinahe einen rechten Winkel, das ist alles. Freilich muss der Schiffer genau den Punkt kennen, wo er sicher hindurch kann. Kundigen und nüchternen Fahrleuten ist noch nie ein Unglück begegnet. Im Winter, bei niederem Wasserstand, könnten die Steine ohne grossen Aufwand weggesprengt werden; allein, fast wäre es schade, denn es gibt immer Spass im Schiff, wenn es auf diesen Punkt kommt.
Indes vom Kessel geschwatzt wird, sind wir schon bedeutend weiter geschwommen, denn der Strom – wie das Genie nach bezwungenen Hindernissen – ist wieder in vollem Zug und reisst uns unaufhaltsam mit sich fort. Die schroffen Ufer drängen ihn enger zusammen und verdoppeln seine Schnellkraft. Die Gegend wird wilder. Weisse Möwen und Fischreiher fliegen durch die blaue Luft und lauern auf Raub.
Wir begegnen einigen Nachen, welche von den Schiffern mühsam stromaufwärts gestossen werden, weil die Beschaffenheit der Ufer die Veranstaltung von Reckwegen unmöglich macht. Die armen Leute schwitzen und stöhnen bei ihrem sauren Geschäft. Wenn sie drei Ruderlängen vorwärts gestrebt sind, reisst sie das Wasser wieder um zwei rückwärts. Sie sind gestern in zwei Stunden von Zürich nach Baden gefahren, jetzt brauchen sie bei grossem Wasser wenigstens 18 Stunden, um sich wieder nach Zürich hinauf zu arbeiten. Es geht ihnen wie tausend Menschen, denen, verwöhnt durch eine fröhliche, sorgenfreie Jugend, der Kampf mit den Wogen des Schicksals im Alter doppelt beschwerlich wird. Sie erreichen den Hafen der Ruhe nur spät und müde, um sich da entkräftet wieder zu finden, von wannen sie rüstig und hoffnungsvoll ausgelaufen sind.
Nun zeigt das Kloster Wettingen seine veralteten Mauern. Der Anblick von Ruinen abgebrannter Wirtschaftsgebäude ist wenig anziehend, und der Vorübereilende ahnt kaum, wie behaglich sich im Innern des Gotteshauses bei den wackeren Zisterziensern leben lässt. Der Protestant muss wie der Katholik vor diesem Gehöfte sich zu einem Bückling bequemen, um nicht mit dem Kopf an das dicke Tau zu stossen, welches, von einem Ufer zum andern gespannt, eine fliegende Brücke hin- und herlenkt.
Unter dem Kloster windet sich der gedrängte Fluss durch gelbliche Klippen. Seine Gewalt hat sie platt gewaschen und unterhöhlt.
Noch eine Weile, und indem wir in grünen Umgebungen rechts einbiegen, sehen wir auf hohen Felsen die Trümmer des alten Schlosses. Dann erscheint das Türmchen der Kapuzinerkirche, der Turm des Bruggertors, und endlich ragt aus den Häusermassen der Stadt Baden das bunte Schieferdach des Kirchturms empor, welchen die Kinder den Krälleliturm heissen. Rasch geht es am neuen Schloss unter der schönen Brücke weg, zum Glück so schnell, dass wir die hässliche Hinterseite alter Wohnungen nicht genauer unterscheiden können; vorüber am Schützen- und Komödienhaus, nach welchem hinauf die Kinder mit Sehnsucht blicken, vorüber an der heiteren reformierten Kirche, der Öltrotte und der bescheidenen Verenakapelle – und da breiten die Bäder sich auf beiden Ufern vor uns aus. Wir sind da. Willkommen in Baden!
ANKUNFT
Auf der mit Pappeln bepflanzten Terrasse unter der Anfurt haben schon lang viele Leute auf die Schiffe gewartet. Da erblickt man geputzte Frauenzimmer mit Sonnenschirmen und bunten Tüchern, Herren und Kinder, Bauern und Gesinde. Sie harren alle auf Verwandte und Freunde, die auf Besuch kommen sollen, oder auf Briefe, oder auf mancherlei notwendige Dinge, die man in Baden für kein Geld bekommen kann und sich von Zürich verschreiben muss.
Tanzlustige Schönheiten, welche unter dem Vorwand, Nachrichten von zu Hause zu erhalten, ans Ufer mitgekommen sind, mustern mit neugierigen Blicken die Schiffsgesellschaft und spähen, ob ihre Lieblingstänzer Wort gehalten und sich zum Staadhofball einfinden. Wie glücklich, wenn das sehnende Herz doch nicht vergebens pochte!
Badwäscher, Landjäger und kleine Jungen stehen am Landungsplatz, das Gepäck der Ankommenden in Empfang zu nehmen und an Ort und Stelle zu befördern. Kaum hat die Spitze des Nachens das Ufer berührt, so krabbelt alles darin durcheinander, jeder will zuerst hinaus. Es dauert eine gute Weile bis der Schiffsmeister bezahlt und der Ballast herausgehoben ist. Dann sucht jeder seine Wohnung, und die Menschenmenge verteilt sich in die verschiedenen Höfe und Häuser. Auf der rechten Uferseite in den Kleinen Bädern kehren wir nicht ein; selten wird jemand aus den höheren Ständen dorthin verschlagen, der die Kur durchaus brauchen soll und in den Grossen Bädern keinen Platz mehr fand.
Von der Anfurt gegen die Stadt.
Wir haben im Hinterhof bestellt und wollen uns erst dort einrichten, bevor wir alles Übrige in Augenschein nehmen.
EINZUG UND EINRICHTUNG IM HINTERHOF
Wer den im Hinterhof einquartierten, mit Neugier behafteten Damen eine Freude machen will, sollte eigentlich im Wagen ankommen. Sowie ein Fuhrwerk durchs Tor rollt, gehen überall die Fenster auf. Die Köpfe, wenn auch mit unvollendetem Lockenbau, streben auf verlängerten Hälsen hervor. Die oft mit Gläsern bewaffneten Augen begrüssen, je nach dem Gegenstand, mit freundlichen oder feindlichen Salven die Ankömmlinge, welche durch die Spiessrutengasse der spähenden Blicke ihren Einzug halten.
Dieser Heerschau entgehen die, welche im Schiff ankamen und geräuschlos und bescheiden zu Fuss den von mancherlei Gebäuden eingefassten Hof betreten, wenn nicht der polternde Schubkarren, auf welchem der Badwäscher das Gepäck zuführt, oder die Glocke, welche der Kellnerin die Ankunft neuer Gäste meldet, einige Zuschauer ans Fenster lockt.
Freundlich wird man vom Herrn Wirt und seiner Frau empfangen,48 allein die Sorge für die Einrichtung der Gäste überlassen sie der Kellnerin und dem Badwäscher, welche Hauptpersonen sind. Um den Letzteren für sich zu gewinnen, drückt man ihm etwas in die Hand und ist dann auch immer sicher, ordentlich und gefällig bedient zu werden. Man kommt nun in das bestellte Gemach, das, oft nur flüchtig gekehrt, noch mancherlei Spuren seiner letzten Besucher enthält. Ein solches Gemach besteht gewöhnlich aus zwei, drei bis vier Zimmern mit nackten Gipswänden, denn Tapetenluxus ist hier nicht üblich. Dazu gehört eine kleine russige Küche und ein geräumiges Bad. Nur ein paar dieser Wohnungen haben Öfen, Kamine sind nirgends anzutreffen.
Die Gemächer haben, wie bekannt, nebst den dazu abgeteilten Bädern keine Nummern, sondern alle eigene Namen, zum Beispiel das Hölderlein, die Schneckenlaube, das Fälklein, die Herzogenstube, das Friesenbergli, der Kleine und der Grosse König (vor welchen beiden Monarchen ich wegen ihres beträchtlichen Hofstaats von Mäusen eine ehrfurchtsvolle Scheu hege), das Köpflein, das Mühlrad, das Pflüglein und so weiter.
Der im Jahr 1778 aufgeführte, noch jetzt so genannte Neue Bau enthält die bequemsten Wohnungen und ist am regelmässigsten eingerichtet. Dass man in diesem Hause nur aus den schlechtern Gesindekammern auf die blaue fröhliche Limmat und die grünen Rebhügel jenseits sehen kann und die besseren Herrschaftszimmer alle gegen den Hof gerichtet sind, darf wohl nicht getadelt werden, indem diese Unordnung dem Geschmack der meisten Gäste entspricht, welche gern ihre Neugier über die Ab- und Zugehenden mögen walten lassen.
Das in einem gegenüberstehenden Gebäude befindliche Fälklein ist auch besonders empfehlenswert.
Meine Lieblingswohnung liegt am hintersten Ende des Hofes in einem einsamen Gebäude, das die Jahrzahl 1550 am Eingang trägt und die hintere untere Laube heisst. Von allem Geräusch und Zudrang geschieden, kann man nirgends so ungestört wie da seiner Gesundheit und Bequemlichkeit pflegen. Aus den nach Westen gerichteten Fenstern des grossen heiteren Hauptzimmers ruht der Blick im schattigen Grün der Matte aus oder verfolgt die Limmat auf ihrem flüchtigen Zuge bis unter Rieden; und wenn am Abend die Glut der sinkenden Sonne über den Wellen schwebt, ist hier ein wahrer Dichtersitz. Leider schliessen die Türen und Fenster dieser lieblichen, aber veralteten Wohnung schlecht, bei Wind und Regen ist man darin nicht zum Besten aufgehoben, und auch hier treiben die Mäuse gewaltigen Spuk.
Überhaupt ist sehr zu bedauern, dass mit Ausnahme des Neuen Baus die meisten Häuser des Hinterhofes im Laufe der Jahre in allmählichen Verfall geraten sind und auch das darin vorhandene Gerät die Bedürfnisse der Zeit nicht mehr befriedigen. Tische, Stühle und Schränke sind grösstenteils schwerfällig, alt und abgenutzt. In den älteren Zimmern findet man auf den ungeheuren Bettstellen noch nicht überall Matratzen und muss auf erhitzenden Federn und unter einer ähnlich schweren Decke liegen, die wie der Alp auf den Magen drückt. Wenn der Wirt auch den guten Willen zeigt, da wo keine Matratzen sind, aus andern Zimmern welche herbeizuschaffen, so kann er doch einem solchen Wunsch nicht entsprechen, wenn alle Gemächer besetzt sind, und so tut man wohl, seine eigenen Betten mitzubringen, auch Wandschrauben, um Kleidungsstücke daran zu befestigen, einige Bücher Papier, um das Innere der Schränke reinlich zu bekleiden, und Vorlegeschlösser, um seine Wohnung abschliessen zu können, da viele Türen entweder gar keine Schlösser oder statt Schlüsseln nur Drücker zum Wegnehmen haben, welche dem Ein- und Ausgehenden immer nachfallen.
Aus der untern Laube gegen die Matte.
Im Badgewölbe ist zur Bequemlichkeit auch nichts vorhanden als eine alte Bank und an der Mauer ein Rechen mit Pflöcken zum Aufhängen der Wäsche.4
Wenn man den Verfall betrachtet, in welchen der Hinterhof bereits geraten ist, so möchte man wähnen, es fehle dem Besitzer an Mitteln, diese noch jetzt ihrer Lage wegen vorzügliche Anstalt wieder emporzuheben. Das ist aber nicht der Fall, die Sache hat einen ganz anderen Grund:
Der Hinterhof, welcher in den ersten Zeiten der Christenheit der Drei Küngenhof, im Mittelalter der Herzog von Österreich Hof hiess, ward von diesen fürstlichen Eigentümern in ein Hand-, später in ein Erblehen verwandelt. Als im Jahr 1415 die Grafschaft Baden mit allen ihren Rechten und Freiheiten an die Eidgenossen überging, wurden dieselben Eigentümer und Lehensherren dieses Hofes, und mit Zustimmung der übrigen sechs mitregierenden Stände Bern, Luzern, Schwyz, Unterwalden, Zug und Glarus übertrugen Bürgermeister und Rat der Stadt Zürich auf St. Pelagientag 1434 durch eine noch vorhandene Urkunde dieses Erblehen, Häuser, Bäder, Güter, Mobilien und alles Zubehör an Hans Klingelfuss, Hans Ulrich, seinen Bruder, Margaretha Schwarzmurerin, Ulrich Klingelfussens Tochter, und Clevi Wirz um einen jährlichen und ewigen Zins von 160 Rheinischen Gulden, und zwar unter dem Namen des Schinderhofes, unter welchem derselbe lang bekannt war; nicht etwa, weil unsere Alten vielleicht von einem unbilligen Wirt darin geschunden wurden, sondern nach dem Namen eines früheren Lehenmannes, der Schinder hiess, welches Geschlecht der Stadt Baden längst erloschen ist. In den Leuischen Manuskripten auf der Zürcher Stadtbibliothek wird dieses Lehens auch unter dem Namen Schinderhof gedacht und dabei bemerkt: «Weilen aber diese Expression in delikaten Badeohren etwas zu hart klingt, hat man Hinderhof daraus gemacht.»
Nachdem dieser Schinder- oder Hinterhof als Erblehen aus einer Hand in die andere geraten, kam selbiger endlich durch Heirat in das Geschlecht der Falken an die Familie Dorer, ward nun gar noch in ein Erb-, Mannsund Familienlehen oder Fideikommiss verwandelt und blieb es auch ungeachtet aller Revolutionen bis auf den heutigen Tag. Die Regierung des Kantons Aargau bezieht davon jährlich 240 Gulden Zins.
Der jetzige Besitzer des Hinterhofs hat nur Töchter und keinen Sohn. Nach seinem Tod fällt die ganze Anstalt auf eine andere Linie der Familie, darum kann und mag er weder bauen noch Betten und neues Gerät anschaffen. Das Kapital, welches er auf die nötigsten Verbesserungen verwenden müsste, wäre für seine Kinder grösstenteils verschleudert und käme lachenden Erben zugut. Seit mehreren Jahren wohnt er in der Stadt, wo er sich zur Ruhe gesetzt, und hat die Badwirtschaft einem Tochtermann verpachtet. Sollte dieser bauen und anschaffen? Ich frage, was kann man, ohne unbillig zu sein, von einem Afterlehenmann fordern, welcher die Wirtschaft abgeben muss, sobald der Schwiegervater die Augen schliesst? Jeder Nagel, den er einschlägt, ist für ihn verloren und trägt ihm keinen Zins mehr ein, wenn er von dem Lehen abgezogen ist.5
Das ist der Fall bei jedem Fideikommiss. Alle aufgeklärten Regierungen sollten dergleichen Familienverordnungen, deren Nachteil sich immer im Verfolg der Zeiten zeigt, die lauter Zankäpfel sind und alle Industrie hemmen, ein für allemal verpönen.
Nur teilweise liesse sich schwerlich mehr etwas am Hinterhof erneuern und verschönern, weil wenigstens die älteren Gebäude durch ihre Anlage schon und noch mehr durch ihre Baufälligkeit das daran zu verwendende Geld kaum wert wären. Die herrliche Lage, das kostbare Wasser schreien laut nach einer ganz neuen, von Grund aus veränderten Einrichtung. Dieser Hof hat voraus allen andern den grössten Flächeninhalt und Wasser zu 30 Bädern, welches ebenso gut 40 füllen könnte. Ein reicher Privatmann oder eine Gesellschaft verständiger Aktionäre könnten da eine gute Spekulation machen, wenn sie der Familie Dorer das Lehensrecht abzukaufen trachteten und diese, welche doch über kurz oder lang einmal beträchtliche Bauten unternehmen muss, wenn nicht alles zugrunde gehen soll, würde auch besser bei einem solchen Verkauf fahren. Der Zins des Kaufschillings könnte ja, wenn das Fideikommiss in veränderter Gestalt doch fortdauern müsste, dem Ältesten zufallen, der, aller Sorge über den Hof enthoben, eine wahre Präbende dadurch bekäme. Die Kantonsregierung würde gewiss auch eine solche Spekulation, wodurch die Gebäude neu aufgeführt würden, begünstigen, vielleicht gar ihr Lehensrecht verkaufen, und ganz Baden könnte durch eine solche Wiedergeburt gewinnen.
Ich möchte wohl beim Abbrechen des alten Gebälkes und Gemäuers zugegen sein, es wäre ein lustiger Anblick. Hu, wie würden da am hellen Tag die Fledermäuse emporflattern aus ihren Nestern, in welchen sie seit Jahrhunderten ihr Monopol ausübten! Nur durch grosse, allgemeine Massregeln könnten auch die Mäuse und die Ratten, die Flöhe und Wanzen aus ihren verjährten Schlupfwinkeln ganz vertrieben und ausgerottet werden.
Aber warum gehen denn viele von uns Zürchern doch immer noch gern und oft sogar vorzugsweise in den Hinterhof? Es ist eine alte Gewohnheit. Vor Zeiten, wo alles anders und besser war, wie späterhin gezeigt werden soll, ward der Hinterhof als die geräumigste Badanstalt von allen Leuten besucht, die sich auf ihren Stand und Rang in der Gesellschaft etwas einbildeten. Hierher kamen nur selten Bürger aus den unteren Klassen, man geriet mit ihnen in keinerlei Berührung.
Das Vorurteil dieser alten Standesmässigkeit hat sich zum Teil noch bis auf unsere Zeiten erhalten. Der Adel wohnte von jeher lieber in berühmten, wenn auch engen und zerfallnen Burgen als in neuen, heiteren und gemächlichen Bürgerhäusern. Dann gewähren die vereinzelten, ein abgesondertes Ganzes für eine Familie bildenden Gemächer mit eigener Küche, wo das Frühstück und den ganzen Tag über warmes Wasser nach Belieben bereitet werden kann, die freundliche Nähe der Matte und viele andere kleine Bequemlichkeiten, bei aller Baufälligkeit und dem Mangel an aller Eleganz, bedeutende Vorteile. In keiner der hiesigen Badanstalten kann man so stille leben und seiner Willkür pflegen wie hier. Man richtet sich seine Haushaltung so wohlfeil oder kostspielig ein, als man es wünscht. Da im Hinterhof noch immer die Mehrzahl der Gäste allein speist, so erhält man gerade die verlangte Zahl Gerichte aus der Küche, und dann muss man dem Wirt die Gerechtigkeit widerfahren lassen, dass seine Preise für Zimmer und Lebensunterhalt äusserst billig sind. Für die Bäder wird in Baden nirgends etwas anderes bezahlt als das Trinkgeld, welches man dem Badwäscher am Ende der Kur verabreicht.
Ist man einmal eingerichtet, was jedoch mehrere Stunden erfordert, besonders wenn man eine zahlreiche Haushaltung mitgebracht hat, so sieht man sich gern ein wenig um; und so wollen wir auch eine kleine Runde in der Nachbarschaft machen.