Kitabı oku: «Auf dem Weg durch die Zeit», sayfa 4

Yazı tipi:

Nach der Rom – Reise ließ mein Kontakt zum Opus Dei nach, denn ich war ja nicht versetzt worden, und in meiner neuen Klasse, der Obertertia, die ich ja nun zum 2. Mal machen ‚durfte‘, waren meine Leistungen schließlich absolut korrekt. Ich brachte gute bis sehr gute Noten nach Hause, und die Hausaufgabenüberwachung war nicht mehr erforderlich. Außerdem schien mir ein Leben im Zölibat, wie man es von mir erwartet hätte, wäre ich jemals Mitglied geworden, nicht nur wenig erstrebenswert, sondern völlig unmöglich. Ich war mit meinen 14 oder 15 Jahren gerade in der Pubertät, und unter den Hormonstürmen eines aufwachenden Jungen gingen meine Interessen und Intentionen genau in die dem Zölibat entgegengesetzte Richtung!

Erster Kuss

Wer kennt das nicht – die überraschend hereingebrochenen Momente erster Verliebtheit, das erste Erleben sexueller Anziehung, das Verklären des oder der Angebeteten – dies alles und mehr lösten auch bei mir die ersten Tsunamis des im Überfluss produzierten pubertären Testosterons und Adrenalins aus. Doris, Cornelia, Romy, Ellen oder Waltraud – wie immer sie auch hießen, sie waren die Göttinnen meiner Imagination – unerreichbar und vielleicht auch deswegen angebetet. Schon ihr Lächeln löste ein inneres Beben aus, und die Nähe zu einem der von mir angebeteten Mädchen beförderte mich in die Wogen der Gefühle, die mit Liebe oder zumindest starker Verliebtheit einhergehen.

Mein erster Kuss hingegen nahm bestenfalls so viel Zeit in Anspruch, wie der geneigte Leser benötigt, um dieses kurze Kapitel zu lesen. Romantische Träume oder Sehnsüchte, die ich vielleicht vorher gehabt haben mag – all dies wurde innerhalb von Minuten über den Haufen geworfen bei diesem überaus sachbetonten Vorgang, der sich Kuss nennt und der in diesem Fall mitnichten ein Austausch von Zärtlichkeiten bedeutete.

Karneval in Köln – das ist so losgelöst von Normen und Zwängen wie das Münchner Oktoberfest. Nur dauern die Wiesn immerhin 2 Wochen; in Köln hingegen konzentriert sich alles auf die 6 tollen Tage, den Straßenkarneval. In dieser Zeit rastet dann allerdings die ganze Stadt aus – keine Kneipe, kein Viertel, in dem nicht bis in die Puppen gefeiert würde! Und wenn ich feiern sage, dann meine ich feiern!

Im zarten Alter von 14 oder 15 Jahren wurde ich von Wolfgang, einem Klassenkameraden, zu einer „Karnevalsparty“ eingeladen. Ich hatte keine Ahnung, warum er ausgerechnet mich dazu einlud – hatten wir doch ansonsten so gut wie keinerlei Kontakt. Aber ich sagte gerne zu. Auf eine Party zu gehen, war ja in diesem Alter und zu dieser Zeit an sich schon etwas Neues, Ungewohntes – fast schon Verruchtes! Und so fuhr ich also am Karnevalssamstag nachmittags – es sollte um 15 Uhr losgehen - mit der Straßenbahn zum Barbarossaplatz, wo mein Schulfreund wohnte.

Seine Eltern waren nicht zu Hause und hatten ihm die Wohnung überlassen – er hatte also sturmfreie Bude. Er öffnete, und ich trat ein. Es lief laute Karnevalsmusik, auf einem Tisch in der Diele standen Getränke – Säfte, Limo, Cola und Bier, und unter dem Tisch stand eine Flasche Schnaps. Außer mir gab es noch zwei weitere Gäste, einen Jungen in unserem Alter und ein Mädchen um die 16 mit langen schwarzen Haaren. Keiner von uns war irgendwie kostümiert, wir waren zu viert, und bei der Stimmung war noch viel Luft nach oben – man könnte auch sagen, dass sie auf dem absoluten Nullpunkt lag! Irgendwann begannen der fremde Junge und das Mädchen miteinander zu knutschen, sie saßen auf dem Sofa und küssten sich lange und hingebungsvoll. Wolfgang beachtete die beiden kaum, wir unterhielten uns auch nicht, wir hörten einfach Musik und tranken Bier. Von draußen drang durch die Fenster das Gejohle von Betrunkenen, die von Kneipe zu Kneipe zogen. Irgendwann sagte Wolfgang dann zu mir „jetzt bist du dran!“ Ich fragte mich – und auch ihn, wozu ich dran sei. Aber hier ging es um das Küssen! Das Mädchen – ich glaube, sie hieß Gabi, sollte uns allen dreien offenbar eine Kussstunde erteilen! Ich stand also auf, ging hinüber zum Sofa und setzte mich mit Herzklopfen neben sie. Sie kam mir nah und näher – ich hatte sie noch nie im Leben gesehen, geschweige denn ein Wort mit ihr gewechselt! Und dann spürte ich auch schon ihre Lippen auf meinen, und ihre feuchte Zunge ging auf eine Entdeckungsreise in meinem Mund. Ich hielt still – eine Stimmung zwischen Panik und Erregung hatte Besitz von mir genommen, die Augen hielt ich weit offen, um nur ja nichts zu verpassen. Plötzlich ließ Gabi von mir ab. „Du musst auch Deine Zunge bewegen – so wie ich!“ meinte sie – Gabi coachte mich sozusagen durch dieses semi-erotische Erlebnis! Nach einigen Momenten lief es offensichtlich viel besser ab – auch zur Zufriedenheit von Gabi. Mehr geschah nicht – weder von meiner noch von ihrer Seite – aber langsam begann mir das Spiel zu gefallen, und meine Aufregung tendierte hin zur Erregung. Aber Gabi ließ plötzlich von mir ab, ging zu Wolfgang und verabschiedete sich von ihm, so dass nur Wolfgang und ich zurückblieben. Der dritte Junge hatte sich während meiner Kussminuten davongemacht. Ich bemerkte, dass Wolfgang offenbar bereits ein oder zwei Bier zu viel zu sich genommen hatte, denn sein Blick war eher glasig, und er schwankte doch bedenklich. Daher ließ ich ihn auf dem Sofa, auf dem er es sich mittlerweile bequem gemacht hatte, zurück, verließ die Wohnung und zog die Tür leise hinter mir zu. Eigenartigerweise haben wir nie mehr über dieses seltsame „Fest“ gesprochen – es wurde einfach abgehakt. Dass ich überhaupt eingeladen worden war, lag wahrscheinlich daran, dass Wolfgang wohl zu wenige Zusagen bekommen hatte (was vielleicht schon eine Übertreibung war!) und auf seiner ersten Party nicht allein sitzen wollte! Dass daraus diese eigenartige Zusammenkunft mit Gabi wurde, war vielleicht nicht einmal geplant. Und dass mein erster Kuss derart unromantisch ablief – hatte ich mir nicht ausgesucht, aber als ich mich nach der „Party“ durch die Stadt treiben ließ, fühlte ich mich in meiner kindlichen Naivität einfach großartig – als wäre ich ein Stückchen erwachsener geworden!

Mobilität und erste Erfahrungen

Mit 15 machte ich meinen Führerschein Klasse V. Man musste dazu nur einen Fragebogen richtig ausfüllen und durfte dann mit diesem Schein Mopeds bis 50 cc fahren mit einer maximalen Geschwindigkeit von 40 km/h. Ich verbrachte fast meine komplette Freizeit in den Pferdeställen hinter unserem Haus. Dort wohnte mittlerweile ein älterer Mann in einem winzigen Zimmer. Herr Eichler war Kriegsversehrter, aber immer noch drahtig und sehr gut dabei. Er mistete die Ställe aus, pflegte das Anwesen und war so etwas wie Mädchen für alles. Und er hatte einen Rabeneick Motorroller, den er mich fahren ließ, so oft ich es nur wollte. Ich verbrachte Stunden mit ihm in seinem Zimmer. Immer saßen wir uns an seinem kleinen Esstisch gegenüber, und er erzählte mir aus seinem Leben als Angestellter bei der Post und natürlich von seinen Kriegserlebnissen, die er mir in allen Details schilderte. Auch von seinen Erlebnissen mit Frauen erzählte er, und das eine war für mich so interessant wie das andere. Heute frage ich mich, warum meine Eltern niemals irgendeinen Verdacht hegten, denn wenn mein Sohn lange Stunden bis in die Nacht bei einem älteren Mann verbringt, hätte das für mich auf jeden Fall Fragen aufgeworfen. Aber man war damals offenbar eben noch völlig unbedarft, was den Missbrauch von Kindern und Jungen im Speziellen anging. Wohlgemerkt – in meiner Beziehung zum Pferdepfleger Eichler lag absolut nichts Anstößiges – nicht einmal ansatzweise. Aber aus heutiger Sicht wundere ich mich doch, wie unbedarft meine Eltern – oder vielleicht sollte ich sagen, Eltern ganz allgemein in dieser Hinsicht waren. Nachmittags half ich beim Ausmisten der Boxen, ich fütterte die Pferde, striegelte sie und durfte hin und wieder auch ein wenig reiten. Und dann saß ich bis zum Abendessen bei ihm, und wir erzählten, was eher hieß, er erzählte – ich hörte zu.

Mit dem Motorroller erledigte ich Besorgungen, machte Spazierfahrten und genoss diese neue Freiheit, die mir meine größere Reichweite verschaffte. Und als Eichler sich für ein neues Gefährt erwärmte, eine Zündapp, schenkte er mir einfach seinen alten Roller. Da war ich 15 oder 16, und von diesem Tag an fuhr ich morgens mit meinem Roller in die Schule – beneidet von meinen Klassenkameraden, denn ein Motorroller war damals schon etwas Besonderes. Im Winter schützte ich mich vor der Kälte mit Zeitungen, die ich mir aufgefaltet unter die Jacke oder den Mantel schob – ein Tip meines Vaters, der ja auch jahrelang eine Goggo gefahren hatte. Vielleicht kam auch deswegen so wenig Gegenwehr von Seiten meiner Eltern, weil Daddy ja selber Rollerfahrer gewesen war. Dass Rollerfahren gefährlicher war und ist als Fahrradfahren, liegt auf der Hand. Und es gibt wohl kaum einen Motorradfahrer, der nicht schon einmal gestürzt wäre. Mir ist das zwei Mal passiert – zum Glück ohne größere Schäden – weder am Roller noch an meiner Gesundheit. Ich habe immer versucht, meine Kinder von motorisierten Zweirädern fernzuhalten, was mir bis heute gelungen ist. Vielleicht war ich auch durch einen Unfall traumatisiert, bei dem ein Motorradfahrer direkt vor unserem Haus zu Tode gekommen war. Ich erinnere mich noch sehr genau an eine lange Nacht von Wehklagen seiner Frau und Töchter, die im Hotel nebenan – gleich auf der anderen Seite der Wand, an der mein Bett stand - den Tod ihres Mannes und Vaters beweinten.

Aber die Begeisterung über meine plötzliche Motorisierung überwog bei weitem die Ängste vor einem Unfall – so wie ich auch viele Jahre später immer noch oft eine gewisse Unbekümmertheit an den Tag gelegt habe – aber ich halte es auch heute noch für besser, spontaner und mit einem gesunden Bauchgefühl an so manche Situation heranzugehen, anstatt sie bis zum Ende durchzuplanen.

Karl-Heinz begleitete mich oft auf einer dieser Spritztouren. Dabei hatte der Rabeneick Roller dann doch mächtig mit dem erheblichen Zusatzgewicht zu kämpfen, so dass wir von der erlaubten Höchstgeschwindigkeit von ohnehin nur 40 km/h meist weit entfernt blieben.

Ich war damals 16, er noch 15, und irgendwann wuchs in uns der Beschluss, dass wir unsere geschlechtliche Reife doch endlich einmal an den Mann, bzw. an die Frau bringen wollten. Karl-Heinz hatte mit dem anderen Geschlecht insofern seine Probleme, als er stark übergewichtig und daher eher komplexbeladen war, was es nicht eben einfacher machte, mit Mädchen Kontakt aufzunehmen. Ich war damals (und im Übrigen noch auf Jahre hinaus) ein sehr schüchterner Junge, und ich hätte mich niemals überwinden können, ein Mädchen anzusprechen. Das waren nicht gerade die besten Voraussetzungen für ein amouröses Abenteuer! Und in letzter Konsequenz blieb nur – zumindest aus unserer damaligen Sicht – ein Besuch im Freudenhaus. Ich behaupte, dass 16jährige 1966 wesentlich kindlicher waren, als sie es heute sind. Wir hatten jedenfalls einen Heidenbammel, unseren Plan in die Tat umzusetzen. Doch es bot sich immer donnerstags eine Gelegenheit – wenn wir uns gegenseitig besuchten – was zumindest unsere Eltern glaubten. An einem Oktobertag war es schließlich soweit: Nachmittags vertrieben wir uns die Zeit in irgendeinem Kino, wahrscheinlich waren wir sogar auch noch in einem zweiten Film. Ob wir etwas gegessen haben an diesem Abend, weiß ich nicht mehr, wahrscheinlich waren wir aber viel zu aufgeregt. Irgendwann am späteren Abend parkten wir den Roller direkt vor der Schule und machten uns auf den Weg. Das Dreikönigsgymnasium war damals noch in der Stadtmitte am Thürmchenswall, nicht allzu weit vom Bahnhof entfernt im Eigelsteinviertel mit seinem mittelalterlichen Stadttor gelegen. Eigentlich ein urkölsches Viertel, und auf dem Eigelstein, der Straße, die vom Stadttor in Richtung Dom führt, wurde damals nur reinstes Kölsch gesprochen und in den Kneipen nur Kölsch getrunken. Eine kleine Gasse führte vom Eigelstein ab (das tut sie im Übrigen noch heute) – der Stavenhof, heute eine schöne, sehr atmosphärische, gepflasterte alte Straße mit ein paar Kneipen und Galerien. 1966 allerdings zählte der Stavenhof zu den Gassen, die man besser mied. In mehreren Häusern ging man dem ältesten Gewerbe der Welt nach, aber die Damen dort waren nun einmal die, die in der Brinkgasse in der Nähe des Neumarktes - dort, wo der Hauptbordellbetrieb in Köln damals ablief – keine Chance mehr gehabt hätten. Die Brinkgasse – heute gibt es dort Geschäfte und elegante Galerien, denn das horizontale Gewerbe ist längst aus der Stadtmitte ausgelagert worden – war für uns Jungs ein besonderer Anziehungspunkt. Sie war kaum 100 Meter lang und an beiden Enden durch geteilte Sichtmauern vor den Blicken der Außenwelt abgeschirmt. Die Immobilien dienten ausschließlich der Ausübung der Prostitution, und die Straße selbst war so etwas wie der Kontakthof. Manchmal liefen wir nach der Schule dorthin, um diesem Treiben dort zu zuzusehen, und einmal sah ich sogar einen Lehrer unserer Schule in einem der Häuser verschwinden – wohl nicht, um Deutschunterricht zu geben! Der Eigentümer dieser Häuser und damit der Vermieter war übrigens – die katholische Kirche!

Aber zurück zum Stavenhof. Wenn man vom neonhellen Eigelstein in den Stavenhof einbog, umfing einen die Dunkelheit dieser fast schon gespenstischen Gasse. Vereinzelte Gaslaternen verbreiteten ein gelblich fahles Licht. Und vor einigen Häusern standen Frauen, deren Alter man nur schwer einschätzen konnte, aber vor denen ich wohl davongerannt wäre, wenn ich ihnen allein im Wald begegnet wäre! Sehr wahrscheinlich waren sie mindestens so alt, dass sie unsere Mütter hätten sein können. „Kommste mal mit?“ war der übliche Spruch. Ein Mann, der vor uns herlief, fragte nach dem Preis. „Fuffzig Mark“. „Und ohne Pariser?“ „Da kannste deine Omma poppen!“ Eigentlich war dies alles zum Davonlaufen, aber wir hatten einen Entschluss gefasst, und den setzten wir nun auch um. Wir hatten verabredet, dass wir uns als Seeleute ausgeben, die zu Besuch in Köln waren – dies nur für den Fall, dass sie uns nach unserem Alter fragen sollten. Aber dies hier war ja keine Kinokasse mit Ausweiskontrolle, sondern ein Puff – und dazu noch einer der alleruntersten Kategorie. Und daher fragte natürlich auch niemand nach unserem Alter. So, wie wir aussahen, war ohnehin klar, dass wir noch halbe Kinder waren! Irgendwann schleppten uns dann zwei dieser Schlachtschiffe ab – ausgesucht hatten wir sie ganz bestimmt nicht – dazu waren wir viel zu aufgeregt! Und vielleicht zehn Minuten, nachdem wir das nach Urin, Fäkalien und Fäulnis stinkende Haus betreten hatten, standen wir auch schon wieder auf der Straße – abgefertigt und wieder ausgespuckt in die Nacht. Aber wir fühlten uns so stark wie noch nie! Wir waren beide entjungfert worden – die widerlichen Umstände waren schnell vergessen, und wir glaubten, nun richtige Männer zu sein! Oh je – wie war es damals um unsere Wertvorstellungen bestellt! Es war mittlerweile ziemlich spät geworden – so spät waren wir noch nie durch die Straßen der dunklen Stadt gezogen. Wir liefen zurück zu meinem Roller und versteckten uns unterwegs hinter parkenden Autos vor vorbeifahrenden Streifenwagen, um nur nicht kontrolliert zu werden. Aber die lange Nacht hatten wir ja noch vor uns. Wir konnten natürlich weder zu meinem Freund noch zu mir nach Hause. Ein Hotel kam auch nicht in Frage, denn kein Hotelier hätte junge Burschen wie uns akzeptiert, und außerdem hätten wir uns das ja ohnehin nicht leisten können. Also fuhren wir hinaus an den Stadtrand, dorthin, wo ich wohnte und mich auskannte, in den Dünnwalder Wald. Mitten im dunklen Wald bog ich ohne Licht von einer einspurigen Straße ab auf einen engen Pfad. Der Pfad führte in ein Dickicht, wo wir nach ein paar Metern anhielten. Ich legte den Roller auf die Seite und deckte ihn mit Zweigen ab, um ein Reflektieren der Chromteile zu vermeiden, falls das Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Autos uns erfassen sollte. Und dann saßen wir dort in der kühlen Oktobernacht, froren, erzählten, ich glaube, wir sangen auch ein paar Lieder – alles, um uns die Zeit bis zum Morgengrauen zu vertreiben, die immer länger zu werden schien – aber vor allem froren wir! Allerdings hielt die Euphorie des überstandenen Abenteuers an, und im Morgengrauen machten wir uns dann endlich auf den Weg, um irgendwo zu frühstücken. Aber zu dieser Zeit war dort draußen halt noch nichts geöffnet. Wir fuhren schließlich zurück in die Stadt, kauften uns am Hauptbahnhof etwas zu essen, und irgendwann ging es dann auch schon wieder in die Schule.

Tante Luise

Ich erwähnte schon die gelegentlichen Besuche von Kollegen meines Vaters aus Afrika, Asien und aus dem Nahen und Fernen Osten. Natürlich hatte auch meine Mutter gelegentlich Besuch von alten Freundinnen oder Verwandten. Eine sporadische Besucherin ist mir in besonderer Erinnerung geblieben, denn sie war eine sehr emphatische Frau mit einem Herzen aus Gold und lebte ein in meinen Augen sehr abenteuerliches Leben, aus dem sie gerne und viel und sehr bildhaft erzählte.

Obwohl ich sie relativ selten zu Gesicht bekam, war sie eine meiner Lieblingstanten. Tante Louise war eine Cousine zweiten Grades meiner Mutter und lebte in den frühen 60er Jahren in Rom, später in New York. Sie kam ursprünglich aus Köln, was man ihr immer sehr deutlich anhörte und hatte auf einer Urlaubsreise nach Rom ihren späteren Mann Alberto Marinucci kennengelernt. Tante Luise sah aus wie eine rassige waschechte Italienerin, hatte schwarze Haare und einen Riesenbusen, und sie sprach perfekt Italienisch. Sie war sehr temperamentvoll und sprühte vor Witz und Humor. Als 14- oder 15-jähriger verbrachte ich mal die Winterferien bei ihr in Sillian in Südtirol, wo sie damals für ein paar Jahre mit ihrem zweiten Mann lebte. Ich war dort keinerlei Reglements unterworfen – ich durfte rauchen, Bier und Wein trinken und abends ins Bett gehen, wann ich wollte. Sie hatten keinen Fernseher, aber das vermisste ich auch nicht, denn Tante Luise unterhielt uns abends nach dem Essen bei einem Glas Wein häufig mit Anekdoten aus ihrem schillernden Leben.

Ihr erster Mann Alberto hatte einen sehr angesagten Damenfriseursalon in Rom. Als gelernte Friseurin arbeitete sie dort immer mit und kannte so die meisten der Kundinnen.

Eines Tages fuhr eine schwarze Mercedes Limousine mit einem Kennzeichen des Vatikan vor. Ihr entstiegen ein Kardinal und eine junge Frau. Der Kardinal war in Rom damals offenbar ziemlich bekannt, und Tante Luise begrüßte ihn. „Erfüllen sie meiner Nichte bitte alle Wünsche – die Rechnung geht dann bitte an mich“ meinte der Kardinal, bevor er sich wieder in den Fond des Mercedes fallen ließ und davonrauschte. Die attraktive junge Blondine, die er im Salon zurückgelassen hatte, bekam einen Stuhl zugewiesen. Tante Luise sollte sie behandeln. Auf dem Weg zu ihrer jungen Kundin streifte sie eine Vase, die auf einem Sockel mitten im Salon stand, und die Vase fiel krachend zu Boden, wo sie in tausend Scherben zerbrach.

„Leck misch in der Täsch, nä, dat mir dat passiere muss!“ fluchte Tante Luise in breitem Kölsch. Worauf die Nichte des Kardinals sich erstaunt umdrehte und fragte „Küsste och us Kölle?“ (Kommst du auch aus Köln?) Da hatten sich also zwei kölsche Mädscher gefunden, und sie vertieften sich gleich in eine ausgedehnte Unterhaltung, in deren Verlauf die Nichte meiner Tante erklärte, dass sie keineswegs die Nichte des Kardinals sei, sondern seine Geliebte. Er habe ihr eine Wohnung hier in Rom gemietet, und immer wieder komme sie für ein paar Wochen hierher, wo sie und der Kardinal dann unerkannt wie Mann und Frau zusammenlebten – so gut es eben ging. Ein katholischer Priester – ein Kardinal! – und seine Geliebte! Und diese Kirche wollte dem normalen Bürger Regeln auferlegen, die mit Moral und Sexualität zu tun hatten? Ich hatte nie etwas Verlogeneres gehört! Doch es war auch diese Erzählung meiner Tante, die mein Interesse an der Kirchengeschichte und der des Katholizismus allgemein weckten.

Das ging sogar so weit, dass ich viele Jahre später Religionswissenschaft als eines meiner Studienfächer wählte, was ich niemals bereut habe. Vielleicht auch, weil ich mit einem gewissen Professor Fuhrmanns einen genialen Lehrer hatte – einen Querkopf, der keine Provokation ausließ und den auf Linie zu halten die katholische Kirche ihre liebe Mühe und Not hatte. In seiner ersten Amtshandlung hatte er als junger Priester die Vertretung eines erkrankten Kollegen übernehmen müssen und am 6. Januar, dem Dreikönigstag, im hohen Dom zu Köln die Messe gelesen. Eigenartigerweise ist dieser Tag in NRW – im Gegensatz zu Bayern und Baden-Württemberg – kein Feiertag, sind doch die Gebeine der drei angeblichen Könige in ihrem goldenen Schrein - einem Meisterwerk mittelalterlicher Goldschmiedekunst - im Kölner Dom aufbewahrt. Und die drei Kronen im Kölner Stadtwappen zeugen ja auch von ihrer Anwesenheit in der Domstadt. In seiner Predigt riss Fuhrmanns dann erst einmal alle Tabulinien, die es diesbezüglich in Köln gab: Er erklärte, dass es die drei Könige – so, wie in der Bibel beschrieben, höchstwahrscheinlich nie gegeben habe. Er machte gleich reinen Tisch mit Legenden, Märchen und den Wünschen, die Menschen in sie hineinprojiziert hatten. Doch er desillusionierte natürlich auch die zahllosen Gläubigen, die dieser Messe beiwohnten, darunter viele Schulklassen. Der Skandal war perfekt! Doch eigenartigerweise hatte dieser Einstand Fuhrmanns Karriere nicht sonderlich geschadet, er hatte ihr bestenfalls eine kleine Delle verpasst, was den späteren Professor nicht sonderlich störte. Hier war ein aufrechter Mann, der kein Blatt vor den Mund nahm, der offen kritisierte, was ihm unglaubwürdig oder falsch erschien. Seine Vorlesungen waren immer hoffnungslos überfüllt – es nahmen auch stets viele Studienfremde daran teil. Und zum Schluss gab es fast immer – so wie auch nach seinen Predigten in der Kirche – offenen und lang anhaltenden Applaus. Es war Fuhrmanns, der mich mit den Dogmen der katholischen Kirche konfrontierte, der Unfehlbarkeit der Päpste – eingeführt erst beim 1. Vatikanischen Konzil (1870), der Jungfrauengeburt Mariens – also war nach diesem Glauben Maria auch nach Jesu Geburt noch Jungfrau mit einem intakten Hymen, oder der Auferstehung Mariens mit Leib (!) und Seele, was noch heute vor allem in Südeuropa als der größte Feiertag nach Ostern und Weihnachten mit großem Pomp und Feuerwerk gefeiert wird! Glauben all die vielen Menschen auf der Straße, die die Prozessionswege säumen und ihre Häuser schmücken, an diese in grauer Vorzeit aufgeschriebenen Legenden, die sich auch aus der bunten Folklore Vorderasiens speisten? Oder feiert man, weil man das schon immer gemacht hat, unreflektiert und aus reiner Lust am Feiern und am Pomp, worin die katholische Kirche schon immer unübertrefflich war - man denke nur an die Amtseinführungen der Päpste - während man in Wahrheit eben die Wahrheit zu Grabe trägt? Je tiefer ich später in diese Thematik eintauchte, desto größer wurden meine Zweifel.

Ich will nicht so weit gehen und behaupten, dass mit der Erzählung meiner Tante über den Kardinal und seine Geliebte eine Weiche in meinem Leben gestellt wurde. Aber sie hatte jedenfalls einen sehr nachhaltigen Einfluss auf meine Einstellung zu den Konfessionen dieser Welt!

In den 60er Jahren ließ sich Tante Luise von ihrem Mann Alberto Marinucci scheiden. Das war damals noch ein Tabu – Scheidung! Doch Alberto hatte seine Frau mehrmals verprügelt und sie nach Strich und Faden betrogen. Die Ehe war zerrüttet, und jeder ging seiner Wege, Alberto wanderte mit dem gemeinsamen Sohn Fernando nach New York aus, Tante Luise zog es nach Südtirol, wo sie ihren späteren Mann Hans kennenlernte, bei dem sie allerdings vom Regen in die Traufe geriet. Hans war ein ehemaliger SS Mann, ein Baum von einem Mann, der sich mit den angeblichen Taten, die er im Krieg in Russland begangen hatte, brüstete. Das machte ihn nicht unbedingt sympathischer. Außerdem war er starker Alkoholiker und vom späten Nachmittag an nicht mehr ansprechbar. Er starb einige Jahre vor meiner Tante, die nach seinem Tod in Südtirol blieb.

Als einige Jahre zuvor Alberto in New York einem Schlaganfall zum Opfer gefallen war, war Tante Louise nach Amerika geflogen, um ihrem Sohn Fernando nah zu sein. Es gab eine Menge Erbrechtliches zu klären, und Alberto hatte verfügt, dass er unbedingt in Rom an der Via Appia beigesetzt werden solle. Doch wie sollte Tante Luise seine Asche – noch dazu in einer Urne – unbemerkt außer Landes schaffen und dazu noch nach Italien einführen? Das war damals nämlich verboten – ist es vielleicht auch heute noch. Man setzte sich also zusammen, überlegte und hielt Kriegsrat.

Alberto war ein kleiner, knochiger Mann gewesen, und seine Überreste machten in der vom Beerdigungsinstitut gelieferten Urne nicht allzu viel her. Man beschloss also erst einmal, die Asche in eine kleinere Urne umzufüllen. Aber auch dieses Exemplar konnte natürlich nicht unsichtbar bleiben. Da hatte Tante Luise die rettende Idee. Ich habe schon ihren sehr ausladenden Busen erwähnt, den sie in jüngeren Jahren gehabt hatte. Mittlerweile hatte er an Volumen und Straffheit altersbedingt erheblich eingebüßt. Meiner Mutter hatte sie einmal erzählt, dass sie ihre Brüste morgens immer aufrollte, um sie in einem BH unterbringen zu können. Beim Ausziehen rollten sie dann – der Schwerkraft folgend – wie ein Vorhang herab. Und in New York beschloss sie, die Asche ihres verstorbenen Exmannes sozusagen an ihrem Herzen heimzubringen nach bella Italia! Also setzte sie sich an den Küchentisch und rollte ihre Brüste auf diesem in voller Länge aus. Dann bepuderte sie die beiden Fleischlappen und streute Alberto vorsichtig auf beide Brüste. Diese rollte sie dann wieder zusammen und verstaute sie in ihrem BH. Nichts war zu sehen, und nichts kratzte – vielleicht dank des Puders, den sie vorher aufgetragen hatte. Aber sie meinte, die Asche sei so sanft gewesen wie der Puder selbst.

Ihr Rückflug nach Rom verlief reibungslos, und kein Zöllner wäre auch nur auf die Idee gekommen, den toten Alberto Marinucci oder irgendeine sonst zu deklarierende Ware im BH meiner Tante zu suchen! Tante Luise entsprach dem letzten Willen ihres verblichenen Exmannes und verstreute seine Asche an der Via Appia. Dann trat sie in ihr zweites Leben – wieder in Rom, wo auch ihr wildes erstes begonnen hatte. Aber nun war sie frei.

₺570,79

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
527 s. 30 illüstrasyon
ISBN:
9783969536025
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
Metin
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок