Kitabı oku: «LAND UNTER», sayfa 2

Yazı tipi:

In den folgenden Monaten war Enno noch zweimal Zeuge, wie sein Nachbar einen Anfall erlitt, ähnlich dem, den er im Wohnzimmer des Hausbootes beobachtet hatte. Als Enno ihn darauf ansprach, tippte der Alte sich an die Stirn und erklärte: »Arbeitet da oben nicht mehr so, wie ich es gerne hätte. Immer wieder Aussetzer. Gibt sich aber jedes Mal wieder.« Was genau ihm fehlte, brachte Enno nicht in Erfahrung. »Das ist eben so, wenn man alt wird«, wiegelte Piet ab. »Erst recht, wenn man so ein alter Sack ist wie ich.«

2·Wellenreiter

»Bistnhier?«, fragte Warner, ohne dabei im Kauen innezuhalten.

Enno wandte sich Hose zu, der rechts von ihm auf einem Campingstuhl saß. Der schlaksige Mann im Neoprenanzug brauchte zehn Sekunden länger, bis er die genuschelte Frage verstanden hatte. »Tahiti«, antwortete er und deutete mit Daumen und Gabel nach hinten, über die Dachkante hinaus und ein paar Stockwerke tiefer, wo er seine Schwimminsel an einem Balkongitter festgemacht hatte.

Warner schürzte die Lippen und nickte. Er kannte die aufblasbare Insel und wusste, dass Hose sie »Tahiti« nannte, weil aus ihrer Mitte eine Gummipalme aufragte. Hose benutzte sie notgedrungen, wenn Tine mit dem Motorboot unterwegs war. Bei ablaufendem Wasser wagte er sich mit der Insel sogar bis zum Hochhaus hinaus.

Enno beugte sich vor, stieß den Grillspieß in eines der Clean-Meat-Würstchen, die Hose mitgebracht hatte, und balancierte seine Beute auf den Rost in ihrer Mitte. Über der glühenden Kohle begann das Fett, das aus den Einstichlöchern austrat, zu zischen.

Warner studierte das Kleingedruckte auf der Verpackung. »›Kulturfleisch aus Thüringen‹«, las er vor. »Aus dem Bioreaktor frisch auf den Tisch.«

»Besser als Veggie oder Buffalowürmer«, meinte Hose.

»Oder jeden Tag Fisch«, sagte Warner.

Enno lehnte sich zu Hose hinüber. »Ärger mit Tine?« Die Frage war leise genug, dass die anderen sie nicht hören und sein Freund sie ignorieren konnte, falls er keine Lust haben sollte, über Kirstin zu reden.

»Nee, sie ist einfach spät dran. Hat ’nen Job in Hannover. Sie sollte eigentlich gleich kommen.«

Die Antwort klang entspannt, stellte Enno fest. Das lag bestimmt auch daran, dass Warner sich heute Abend zu ihnen gesellt hatte. Solange der Hacker hier, auf dem Flachdach des Hochhauses, mit ihnen zusammensaß, konnte Hose sicher sein, dass seine Freundin sich nicht heimlich mit ihrem Ex traf, für den sie nach wie vor eine tiefe Zuneigung empfand.

In diesem Augenblick tauchte der Sonnenball hinter den Horizont. Die jungen Männer wandten die Köpfe nach Westen, wo das letzte Licht des Tages die Nordsee zum Gleißen brachte. Darüber schwebten orangegraue Wolken, scharf konturiert und an ihrem Platz erstarrt, als hätte jemand das Himmelszelt mit Zuckerwatte geschmückt.

Piet sah ebenfalls auf. Er war vorhin in Gedanken versunken auf das Dach gekommen, hatte es sich in einem Liegestuhl bequem gemacht und dabei zugesehen, wie Enno und Hose den Holzkohlegrill anfeuerten. Seitdem hatte er noch keinen Ton gesagt. Jetzt musterte er die rostrot leuchtenden Mobilfunkantennen über ihren Köpfen, als sähe er sie zum ersten Mal.

»Diese Kontraste!«, rief er aus.

»Piet hat mal wieder eine Eingebung«, lachte Warner.

»Ich finds immer ganz vergnüglich, wenn dein geheimnisvoller Nachbar den Mund aufmacht«, hatte Hose vor Kurzem gesagt.

Enno hatte seinen Freund skeptisch gemustert. »Leider hält er dann gerne lange Monologe.« Wobei Enno zugeben musste, dass er von Geschichte, Politik und Wirtschaft – Piets bevorzugten Themen – nicht annähernd so viel Ahnung hatte wie der alte Mann. »Eigentlich sind seine Storys ja ganz spannend«, hatte er eingeräumt. Im Laufe der zwei Jahre, die er Piet inzwischen kannte, hatten sich dessen Äußerungen zu einem Bild verdichtet, das auf einen klugen Menschen schließen ließ, der ein reiches Leben gelebt hatte.

»Also, ich trau deinem ›Piet‹ nicht über den Weg«, pflegte Warner zu sagen. Er ärgerte sich, dass er über einen Namenlosen im Netz keine Nachforschungen anstellen konnte. Dafür, dass der Alte keinen Communicator trug, gab es in den Augen des Hackers ja noch die eine oder andere Erklärung: »Kann sein, kaputt oder verloren. Oder er hat in seiner Bude ’nen Schlepptop. Haben viele Urnenanwärter.« Allerdings konnte er auf dem Dach des schwimmenden Hauses keine Antenne entdecken. Dass es drinnen nicht möglich war, mit dem PUC eine Verbindung aufzubauen, schürte Warners Misstrauen nur: »Klingt nach Abschirmung«, sagte er.

»Kannst du nicht mal fragen, ob das Hausboot seins ist? Und wann er’s gekauft hat?«, hatte er sich vor ein paar Wochen bei Enno erkundigt. »Hersteller und Typ hab ich. Ich brauch aber mehr Info, um zu recherchieren, wer er ist – falls der Server mit den Verkaufsdaten nicht abgesoffen ist.«

Enno hatte geschmunzelt und den Kopf geschüttelt. »Du bist echt paranoid.«

Warners Reaktion war ein Achselzucken gewesen. »Das ist kein Nein«, hatte er festgestellt, ohne eine Miene zu verziehen. Mit dieser Sache war es ihm ernst.

Ein anderes Mal hatte er ihnen eröffnet: »Ich bin sicher, dass der Alte was mit Verteidigung zu tun hatte, also ESDO oder früher NATO. Was der manchmal so von sich gibt, die ganzen Details über Afghanistan, Irak, Mali und Libyen … Das sind alles Konflikte, an denen wir beteiligt waren. Und er wahrscheinlich auch.« Enno war skeptisch gewesen, aber Warner hatte nicht lockergelassen: »Das würde erklären, warum er nie was Konkretes über sich erzählt. Geheimhaltung und so. Was ich nicht versteh: Die Scheiße ist ewig her. Kann doch nicht sein, dass er so alt ist, oder?«

Enno hatte darauf keine Antworten. Ohnehin machte ihm sein Nachbar andere Sorgen. Piets Anfälle traten in letzter Zeit häufiger auf, und es kam vor, dass er über Stunden teilnahmslos vor sich hin starrte. So wie heute. Darum wartete Enno gespannt darauf, ob der Alte seinen Gedanken weiter ausführen würde.

»Die Gegenstände wirken so plastisch, wenn das Licht sie von der Seite trifft«, fuhr Piet fort. »Die Antennen erinnern mich ans Dünengras auf den Inseln, als es hier noch Inseln gab. Als junger Mann war ich mal mit einer Freundin auf Langeoog. Die harten Kontraste, die die Abendsonne auf jeden Halm zauberte – eine Seite leuchtend hell, die andere in tiefem Schatten –, haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt.«

»Erzähl mehr von deiner Freundin«, feixte Warner.

Piet senkte den Kopf und verfiel wieder in Schweigen. Er wirkte weder beschämt noch verärgert, fand Enno, vielmehr ergriffen von den Eindrücken, die in seiner Erinnerung aufgeflackert waren.

Warner biss ein großes Stück Wurst ab. »Hastndenher?«

Diese Frage bezog sich auf den Grill und richtete sich an Enno. Also erzählte er, wie er das Gerät vorgestern bei Ebbe in einem Abstellraum auf dem Dachgarten des Nachbargebäudes gefunden hatte – und darunter einen Sack Kohle.

»Total oldschool«, meinte Warner.

»Aber schön«, freute sich Hose. Er zog ein Bier aus dem Sixpack, öffnete die Flasche und nahm einen großen Schluck. »Ich bin froh, dass du uns eingeladen hast. Ob ihrs glaubt oder nicht: Das ist mein erstes Grillfest seit Jahren.«

Als Tine gegen halb neun zu ihnen stieß, wurde sie von einer Drohne eskortiert. »Die klebt mir seit einer Viertelstunde an den Hacken«, sagte sie.

Warner beugte sich missmutig vornüber und gab vor, unter dem Stuhl etwas zu suchen. Tine dagegen lächelte in das Kameraauge und winkte dem Unbekannten zu, der irgendwo an Land, im Büro irgendeiner Behörde saß und den Flugkörper aus der Ferne steuerte.

Tine arbeitete als Synchronsprecherin. Sie erzählte, dass sie in Hannover zwei lange Tage im Studio verbracht habe, wo sie für eine Doku gebucht gewesen wäre. Sie habe das Overlay einer belgischen Historikerin eingesprochen. Der Film solle zum Jahrestag des Anschlags ausgestrahlt werden.

Als Enno ihr einen Teller reichte, fragte sie ihn, wo er eigentlich am zwanzigsten Dezember gewesen sei. Sie dachte sich nichts dabei. Wahrscheinlich wusste sie nicht, wie schmerzhaft die Erinnerung an diesen Tag für ihn war.

»Also, wir waren Wellenreiten«, sprang Hose ihm umgehend bei. »Hab ich dir nie erzählt, oder?«

Enno schüttelte den Kopf.

»Wir waren alle in Emden, in diesem Club, der grad aufgemacht hatte – den Namen hab ich vergessen –, als die Nachricht kam, dass evakuiert werden sollte.«

»Ich nicht, ich war in Hage«, verbesserte Tine ihren Freund. »Meine Eltern hatten Urlaub. Ich sollte nach dem Haus sehen. Katze füttern, Blumen gießen und so.«

»Amnesie«, sagte Warner. »So hieß der Club.« Und an Tine gewandt: »Ich hatte dich gefragt, ob du mitwillst. Da warst du aber schon am Packen.«

»Ich war in Neßmersiel, bei meiner Mutter«, hörte Enno sich sagen. Vielleicht war es ja gut, dass Tine das Thema aufgebracht hatte, dachte er. Zwang es ihn doch dazu, mit jemandem über seinen Verlust zu sprechen.

Hose nahm einen Schluck Bier und fuhr fort zu erzählen. »Da waren Kalli und Monika, Johannes und Helmut, Angelika, Hans-Dieter und Meike, Ida … also ein knappes Dutzend Leute aus der Gegend«, sagte er. »Kurz vor Mitternacht haben sie die Musik ausgemacht und Bescheid gegeben: In vierundzwanzig Stunden sollte jeder sein Zeug gepackt und Ostfriesland verlassen haben.«

»Fēng le!«, warf Warner ein – chinesisch für »verrückt« – ein Ausruf, den er aus einer populären Sitcom hatte.

»Wir standen draußen zusammen, bis der Buzz kam.« Mit Buzz meinte Hose das selbstfahrende wasserstoffbetriebene Sammeltaxi der gleichnamigen holländischen Firma, die tags darauf nicht mehr existieren sollte. »Aber eigentlich wollte keiner von uns nach Hause fahren.«

»Keine Lust, da voll in die Panik zu geraten!«, erklärte Warner. »Ihr wisst, was ich meine: Alle am Packen, Mutter am Heulen, Vater am Schimpfen über die Regierung, der nichts Besseres einfällt, als die Leute zu schikanieren; und die sollten lieber nach Sprengsätzen suchen, ist ja Zeit genug … Die ganze Leier.«

Tine und Hose sahen sich an und grinsten. Sie kannten Herrn und Frau Brunken, Warners Eltern, und konnten sich die Szene, die er beschrieb, lebhaft vorstellen.

»Ich glaube, die Idee mit den Booten kam von Kalli«, sagte Hose.

»Johannes«, widersprach Warner.

Tine kicherte. »Ich kenne mindestens noch zwei Leute, die behaupten, es wär ihre Idee gewesen.«

»Ist doch egal«, meinte Hose. »Jedenfalls waren wir die einzigen, die vorhatten, die Anweisungen zu ignorieren und Wellenreiten zu gehen.«

Ennos lebhafteste Erinnerung an diesen Abend war der Streit mit seiner Mutter. Es war kurz vor Weihnachten gewesen. Für die meisten Freunde und Bekannten, die wie er weit weg von Zuhause arbeiteten, hieß das Resturlaub oder unbezahlte Freistellung. Eine gute Zeit also, um sich bei Eltern oder Geschwistern einzunisten, sich bekochen zu lassen und mit Leuten zu treffen, die man lange nicht mehr gesehen hatte.

Enno war den ganzen Tag mit Hose in Norden unterwegs gewesen. Um noch ein paar Stunden mit seiner Mutter verbringen zu können, hatte er die Einladung, ins Amnesie mitzukommen, ausgeschlagen. Stattdessen nahm er den nächsten öffentlichen Flea und ließ sich von dem elektrobetriebenen Einsitzer zurück nach Neßmersiel schaukeln.

Gegen Mitternacht ging der PUC in den Override-Modus, eine Funktion, die ausschließlich für Katastrophenwarnungen genutzt wurde. Das Gerät informierte ihn, dass den Sicherheitsbehörden Hinweise auf einen Anschlag vorlägen. Dieser sollte am Abend des einundzwanzigsten Dezember stattfinden. Das Ziel seien die Deiche an der Nordseeküste. Die Bedrohung wurde als ernst zu nehmend eingestuft. Allein in Niedersachsen, Bremen und Hamburg mussten rund zehn Millionen Menschen ihre Häuser verlassen. In jedem der betroffenen Länder hatte ein Katastrophenstab die Koordination übernommen. Die Evakuierung sollte innerhalb von vierundzwanzig Stunden abgeschlossen sein.

Ennos Mutter wollte die Nachrichten nicht glauben. »Warts ab«, sagte sie, »morgen heißt es bestimmt, dass das ein schlechter Scherz war. Radikale Klimaschützer oder so.«

Eine Stunde später folgten weitere Details. SAFE-Truppen der EU übernähmen den Schutz der Deiche. Die Behörden hätten die Bundeswehr um Amtshilfe gebeten. Die Soldaten sollten die zivilen Einsatzkräfte und die Polizei bei der Evakuierung unterstützen. Angeblich hatten die meisten Betroffenen dem Aufruf inzwischen Folge geleistet und sich Richtung Süden aufgemacht.

»Mitten in der Nacht? Die sind ja verrückt«, kommentierte Ennos Mutter die Meldung. Das Drängen ihres Sohnes, dass sie ebenfalls mit dem Packen beginnen sollten, ignorierte sie. »Also, ich geh jetzt schlafen. Morgen ist auch noch ein Tag«, eröffnete sie ihm.

Das war der Moment gewesen, an dem Enno sie das erste Mal angeschrien hatte.

Als Treffpunkt hätten sie die Ludgerikirche in Norden ausgemacht, erzählte Hose. Das Gebiet rund um die Kirche liege so hoch, dass es bei einem Deichbruch kaum überspült werden dürfe, hätte Kalli gemeint. »Auf dem Friedhofshügel kriegen wir höchstens nasse Füße.«

Hose vertraute Karlheinz in dieser Sache. Der Fischer redete nicht viel. Doch wenn er sich zu etwas äußerte, dann wusste er, wovon er sprach.

In Norden herrschte trotz der frühen Stunde dichtes Gedränge. Seit der Aufforderung, die Stadt zu verlassen, waren überall Menschen mit Koffern und Rucksäcken unterwegs. Busse und Transporter, Fleas und Bees schoben sich in langen Schlangen in Richtung der Ausfallstraßen. Auf dem Marktplatz gegenüber der Kirche hatte die Kreisverwaltung eine Zone für die Luftevakuierung eingerichtet. Alle fünfzehn, zwanzig Minuten landete dort ein Schwarm kleiner und größerer Helis, nahm Passagiere auf und erhob sich summend wieder in den wolkenlosen Nachthimmel.

In der Innenstadt wimmelte es von Polizisten, Feuerwehrleuten, Mitarbeitern des Technischen Hilfswerks und anderen Einsatzkräften. Soldaten aus Aurich halfen dabei, die Menschenmassen in geordnete Bahnen zu lenken. Dennoch gelang es der Gruppe um Hose und Kalli, ihre Boote den Hügel hinaufzuschaffen und sie an der Nordwand der Kirche aufzustellen, ohne dass sie dabei aufgehalten wurden. Die Dunkelheit kam ihnen ebenso zugute wie das Durcheinander rundum.

In der Morgendämmerung ebbten die Fahrzeugströme ab. Helmut, Meike, Hose und Kalli ließen sich von den PUCs mit ihren Angehörigen verbinden und vergewisserten sich, dass sie außer Gefahr waren, sei es bei Verwandten oder in einer der Notunterkünfte. Angelika und Ida kamen hinzu. Sie brachten ein viertes Boot und zwei Sixpacks Bier mit. Johannes überlegte es sich bei Tagesanbruch anders. Er verabschiedete sich kleinlaut und lief zu den Helis hinüber, um sich ausfliegen zu lassen.

Danach wurde es still. Bis auf Warner, der ihnen versicherte, dass sein PUC nicht zu orten war, hatten sie ihre Geräte abgeschaltet. Die News bestanden ohnehin nur aus Wiederholungen des Evakuierungsaufrufs, einer Auflistung der Städte und Gebiete, die geräumt werden mussten, und Angaben über die Standorte der Sammeltaxis und Helis. Ab und zu hörten sie ein Sirren oder Brummen, das sich ihnen von oben näherte. Dann duckten sie sich in die Schatten der Mauer. Es war schwer zu sagen, ob es sich um Aufklärungs- oder Nachrichtendrohnen handelte. Zweimal schossen Jets über die Stadt hinweg Richtung Norddeich.

Im Laufe des Vormittags ließ die Wirkung des Alkohols nach. Es wurde heiß, und die Begeisterung für ihre Idee verflog. Sie versteckten sich für ein paar Stunden in der Kirche. In dem Gebäude, das wegen Renovierungsarbeiten seit Jahren nicht genutzt wurde, war es aber zu kühl. So setzten sie sich wieder nach draußen, auf den Hügel des Alten Friedhofs, und hofften, dass ihnen die Kronen der Bäume Deckung gaben. Zu diesem Zeitpunkt war die Stadt bereits verlassen. Den letzten Streifenwagen hatte Hans-Dieter vor einer Stunde vorbeifahren sehen.

Gegen zwölf, mitten in einem Gespräch über die vierte Staffel der Sitcom Ming und Mortimer, sagte Monika: »Wollt ihr wirklich bis morgen Abend hier rumsitzen?« Ihrem Tonfall war zu entnehmen, dass sie keine Lust mehr hatte zu warten.

Hans-Dieter lachte. »Hat einer was zum Beißen dabei?«, erkundigte er sich. Er nahm wohl an, dass Kallis Freundin nur einen Imbiss bräuchte, damit ihre Stimmung sich besserte.

Da schlugen in der Stadt die Sirenen an.

»Keine zwanzig Sekunden, und das Wasser war da«, sagte Hose.

»Mehr als einen Tag zu früh, Leute. Echt fēng le.« Warner schüttelte den Kopf.

»Wir waren in Jever«, berichtete Enno, »und ich war schon wieder am Brüllen. Ich hatte Schiss und wollte eigentlich nur schnell auf die Autobahn. Doch meine Mutter hatte darauf bestanden, dass wir eine ihrer Freundinnen mitnahmen, die in der Nähe vom Rathaus wohnte. Ich konnte es ihr nicht ausreden.« Er knetete mit der Hand seine Nackenmuskeln. »Wir hatten sie und ihre Katze gerade in den Bee geladen, als die Meldung kam, dass die Deiche gebrochen waren.«

»Und wo seid ihr hin?«, fragte Tine.

»Um die Ecke, in den alten Glockenturm«, antwortete Enno.

»Sei froh, dass ihr nicht auf der Autobahn wart«, meinte Warner. »Rund ums Schloss ist alles trocken geblieben. Ist heute ’ne nette kleine Insel. Ich kenn Leute, die da wohnen.«

Hose beugte sich näher zu Enno. »Hast du nicht erzählt, dass deine Mutter bei der Flut gestorben ist?«, erkundigte er sich mit gesenkter Stimme.

»Es war Ebbe, nicht Flut«, krähte Warner. Er hasste es, wenn man die Katastrophe beschönigte. Außerdem hatte er die anderen bereits mehrmals darauf hingewiesen, dass die Folgen bei Hochwasser weitaus schlimmer gewesen wären.

»Im Hubschrauber, der uns rausgeholt hat«, beantwortete Enno Hoses Frage. »Ein Herzanfall. Sie ist auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben.«

Nach dem Anschlag hatte Enno versucht, sich einen Überblick über die Fakten zu verschaffen. Er war in eine Sammelwut verfallen, die ihm rückblickend manisch vorkam. Eine Zeit lang hatte er keine Doku und keine Talkrunde verpasst, die den Terrorangriff thematisierten. Er hatte zahllose Clips im Netz gesichtet, die während der Katastrophe aufgenommen worden waren. Hose gegenüber hatte er diese Manie einmal mit Schuldgefühlen erklärt, die er als Überlebender den Toten gegenüber wohl empfunden haben musste. Aber das war nur die halbe Wahrheit. Denn er hatte bei seiner Suche zugleich gehofft, dass ihm endlich jemand die Gesichter hinter dem »Rechten Weg« präsentieren würde, die Fratzen der religiös oder politisch verblendeten Mörder, die für den Tod seiner Mutter und Millionen anderer Menschen verantwortlich waren. Er hatte jemanden gebraucht, den er hassen konnte.

Die Bilder der Überwachungskameras rund um die Deiche waren manipuliert worden und hatten keine Hinweise auf die Täter geliefert. Die Sicherheitskräfte waren allen Spuren nachgegangen, die die Sprengsätze ergeben hatten, doch die Ermittlungen waren ins Leere gelaufen. In den ersten Monaten nach dem Anschlag hatte man über hundert Verdächtige festgenommen, ohne dass sich auch nur eine Person gefunden hätte, der eine Beteiligung nachzuweisen gewesen wäre. Es hatte viele Vermutungen gegeben und einige konkrete Anschuldigungen: gegen militante Islamisten im In- und Ausland, die bis dahin jedoch nur selten vor einem Terrorangriff gewarnt hatten; gegen links- und rechtsradikale Splittergruppen, deren mögliche Motive gleichwohl unklar blieben; sogar gegen einzelne Staatsführer im Nahen Osten und in Asien, denen man unterstellte, die wirtschaftliche Macht Europas mit allen Mitteln schwächen zu wollen. Es gab schlüssige Theorien. Aber kein Geheimdienst konnte mit Sicherheit sagen, wer hinter dem Anschlag steckte.

Schließlich hatte Enno resigniert. Er musste davon ausgehen, dass die Schuldigen nie gefunden werden würden.

Hoses Geschichte hörte er heute zum ersten Mal. Er wunderte sich, warum sein Freund sie ihm so lange vorenthalten hatte.

»Wir waren echt verrückt. Ich weiß nicht, wie wir uns das vorgestellt hatten, aber sicher nicht so«, sagte Hose gerade. »Die Flutwelle war wie eine Wand … Wie eine Walze. Sie kam rasend schnell auf uns zu. Sie machte jeden Baum und jeden Mast platt, pellte die Dächer von den Häusern und sprengte die Mauern ringsherum einfach weg. Da waren Pferde und Kühe im Wasser, Büsche und Bäume, Autos und Trecker, die mitgerissen wurden, als wögen sie nichts. Überall trieben Trümmer herum: Fensterrahmen, Holzbalken, Tische und Schränke, Verkehrsschilder, Bleche und Plexiglasteile, das ganze Zeug. Und dann dieser Lärm! Kein Rauschen oder Plätschern … Das war ein einziges Knirschen und Knallen, und es wollte gar nicht wieder aufhören. Erst als die Welle an uns vorbei war, ließ der Krach ein bisschen nach.«

Monika und Kalli seien die Ersten gewesen, die ihr Boot bestiegen und in den reißenden Strom gelenkt hätten, der sie um das Kirchenschiff herum und außer Sicht trug. Meike und Hans-Dieter folgten ihrem Beispiel, ebenso Warner, der Helmut mitnahm, und gleich darauf Ida und Angelika. Die beiden Frauen kreischten auf, als sie ohne eigenes Zutun Fahrt aufnahmen. Meike rief ihnen aus der Ferne etwas zu.

Hose blieb als Letzter zurück. Idas und Angelikas Aufbruch hatte nur den Rand seiner bewussten Wahrnehmung erreicht. Er war beim Anblick der Wassermassen, die durch seine Heimatstadt walzten und sie sich gnadenlos einverleibten, erstarrt. Er registrierte kaum, dass die Flutwelle den Hügel hinaufrollte und seine Schuhe, Socken und Hosenbeine durchnässte.

Dann sah er in den Wellen einen Hund vorbeitreiben. Der leblose Körper erinnerte ihn an den Labrador, den er als Kind gehabt hatte.

»Der Hund brachte mein Hirn wieder auf Touren. Ich glaube, ich hatte im ersten Moment einfach nur Angst gehabt«, gab Hose zu.

Hätte ich auch gehabt, dachte Enno.

»Aber kaum, dass wir im Boot saßen, hatten wir den Spaß unseres Lebens. Oder nicht?« Die Frage war an den Hacker gerichtet. Sie klang verunsichert und vorwurfsvoll zugleich.

Warner gab ein abfälliges Keckern von sich. »So lange, bis du da rausgefallen bist.«

»Okay. Wir hatten die Stärke der Strömung unterschätzt«, sagte Hose.

Tine schnaufte. »Sei ehrlich: Ihr habt euch vorher gar keine Gedanken darüber gemacht«, verbesserte sie ihren Freund.

Hose ging nicht auf die Bemerkung ein. »Monika und Kalli trieb es Richtung Emden davon, Meikes und Idas Boot strack nach Süden, Warners und meins eher Richtung Aurich. Das ging so schnell, dass wir die anderen bald nicht mehr sehen konnten.«

Anfangs hätten sie den Ritt auf der Flutwelle großartig gefunden. Das gab auch der Hacker zu.

»Helmut und Warner grölten rum, und wir feuerten uns gegenseitig an …«, erzählte Hose weiter. »Doch was dann kam, war krass. Das Wasser trug uns ja nicht nur über Felder, sondern auch durch zerfetzte Zäune und Stromleitungen hindurch, rein in ein Waldstück und mitten durch Dörfer und Städte …«

»Was davon übrig geblieben war«, konkretisierte Warner.

»Und da schwamm immer noch alles rum, die Tiere, die Möbel, das ganze Zeug, und die Welle riss das immer weiter mit … und uns auch.« Hose senkte den Kopf. »Als ich das erste Hausdach schrammte, wurde mir klar, was für einen Blödsinn wir da veranstalteten. Mein Motor kam nicht gegen die Strömung an. War also nichts mit Manövrieren. Irgendwann würde ich mit Sicherheit was rammen, das stabiler war als das Boot.«

»Mit Sicherheit«, bemerkte Warner spöttisch. Dank des Zwanzig-PS-Außenbordmotors sei es ihm gelungen, gegen die Strömung anzusteuern und die Hindernisse, die Helmut im Wasser ausmachen konnte, zu umfahren, erklärte er. Währenddessen hätten sie versucht, Hose im Auge zu behalten, der als Einziger alleine unterwegs gewesen war.

»Und dann hats gekracht«, sagte Hose.

Tine legte eine Hand auf Ennos Unterarm. »Es war eine E/W-Tankstelle«, erklärte sie ihm. »Das Firmenschild auf dem Dach.«

Hose lächelte betreten. »Keine Ahnung, warum es die Tanke nicht zerlegt hat. Jedenfalls bin ich genau in den Schriftzug reingerauscht.«

Zum Glück hätte Helmut beobachtet, wie er über Bord gegangen war. »Helmut machte den Lotsen, und ich gab Gas«, berichtete Warner. »War gar nicht so leicht, nah genug an ihn ranzukommen. Aber wir konnten ihn rausfischen.«

»Mit Helmuts Hose«, ergänzte Tine. Es fiel ihr sichtlich schwer, eine ernste Miene zu bewahren.

»Der Mick hat echt lange Beine, Leute«, rechtfertigte Warner seine und Helmuts Entscheidung. »Wir hatten nix Besseres dabei, was wir deinem Freund hätten zuwerfen können.«

Hose musterte den Hacker von oben bis unten, und seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. »Mit deiner Büx hätt das nicht geklappt«, sagte er.

»Das nächste Mal lassen wir dich absaufen, du hormongepimpter Scheinriese«, konterte dieser die Anspielung.

Tine stieß ihrem Freund den Ellenbogen in die Seite.

»Autsch«, sagte Hose, und wieder an Enno gewandt: »Jetzt weißt du, woher der Spitzname kommt.«

»Da hast du noch Glück gehabt«, meinte Enno lachend. »Stell dir vor, die hätten zum Rausziehen einen Strickpullover genommen.«

»Oder ’ne Wäscheleine«, krähte Warner.

Tine schmunzelte. »Der Name erinnert dich hoffentlich daran, nie wieder so einen Mist zu machen«, sagte sie zu Hose und presste ihre Lippen auf seinen Mund.

Später, als Warner wieder im Schlauchboot saß und mit heulendem Motor Kurs auf den Leuchtturm nahm, begleitete Enno Hose nach unten. An der Balkontür nahm sein Freund die Badekappe und die Flossen auf und verstaute sie in einem Drypack. Dieses schmiss er ins Boot, mit dem Tine gekommen war.

»Ihr könnt auch bei mir schlafen, wenn ihr wollt«, bot Enno ihm an. Er hatte kein gutes Gefühl dabei, Holger und Kirstin im Dunkeln den weiten Weg zu dem Wrack fahren zu lassen, auf dem sie wohnten.

»Alles shiney«, winkte Hose ab und grinste. »Sehen wir uns am Samstag?«

»Wenn nichts dazwischenkommt, gerne«, antwortete Enno. Seit zwei Jahren besuchte er regelmäßig die »Partys«, die sein Freund an den Wochenenden in der Ludgerikirche veranstaltete. Die Akustik unter dem Gewölbe des Hochchors war unglaublich. Außerdem hatte Enno die Atmosphäre zu schätzen gelernt, die von klassischer Rockmusik und gut gelaunten Gästen geprägt war. Mittlerweile kamen bis zu vierzig Leute ins Heaven, wie Hose seinen Laden nannte, die meisten davon aus der Gegend. Der Rest nahm den weiten Weg vom Festland auf sich, um Freunde und Bekannte zu treffen und mit ihnen zusammen bis in die frühen Morgenstunden zu reden und zu tanzen.

»Tine und ich haben die Woche den Boden verstärkt. Sie hatte Angst, dass wir eines Abends alle nach unten durchbrechen«, berichtete Hose. Sein Blick schweifte über die nackten Betonwände und die Fensterlöcher, durch die das Meer bei Hochwasser ungehindert einströmte. »Und wie siehts bei dir aus?«

»Das hält noch ’ne Weile«, versicherte ihm Enno.

»Denk ans Fährhaus«, mahnte sein Freund, »an Kalli und seine Leute.«

»Viel Glas und zu dünne Wände«, entgegnete Enno leichthin. Tatsächlich traf ihn die Erinnerung an das Unglück nach wie vor ins Mark.

Er war gerade auf dem Weg zu Hose gewesen, als der höchste Teil des Hotelgebäudes, der einst über dem Hafen von Norddeich gethront hatte, in sich zusammengesackt war. Obwohl Enno mit dem Boot keine zehn Minuten bis zur Unfallstelle gebraucht hatte, war für Kalli, Monika und ihren kleinen Bruder, die in den oberen Etagen gewohnt hatten, jede Hilfe zu spät gekommen.

Monika und Karlheinz hatten vom Fischfang gelebt. Der Trawler, den sie zurückließen, hatte noch einige Tage lang über den Trümmern vor Anker gelegen. Er hatte wie ein Mahnmal gewirkt. Niemand hatte sich getraut, ihn von dort zu entfernen.

Dann war auch er verschwunden.

Enno stampfte mit dem Fuß auf, wie um sich zu vergewissern, dass ihm in seinem Zuhause nicht das gleiche passieren konnte. »Ist ’ne Menge Beton da unten. Mein Vorgänger hat damit vier, fünf Stockwerke ausgegossen«, erklärte er.

»Der wollte die Bude nicht aufgeben, als das Wasser stieg.«

Kann ich gut verstehen, dachte Enno. »Er muss dafür viel Geld locker gemacht haben«, sagte er. »Das ist mir nur recht. Jedenfalls behalte ich das, was noch rauskuckt, im Auge.« Damit meinte er in erster Linie die Wohnung im Dachgeschoss.

Tine kam die Treppe herunter. Sie legte einen Arm um Hoses Schultern und schmiegte sich an ihn. Dabei sah sie Enno an. »Piet gehts heute ziemlich schlecht, oder?« Sie hatte die Stimme gesenkt, damit der Alte sie nicht hören konnte.

»Das ist mal so, mal so«, antwortete Enno. »Meistens kann man sich ganz normal mit ihm unterhalten, dann ist er völlig klar im Kopf. Doch im Moment hat er eine üble Phase.«

»Medikamente?«, fragte Hose.

»Nimmt er. Ziemlich teures Zeug. Ist aber alle. Morgen kommt eine Drohne mit Nachschub.«

Hose hob und senkte das Kinn.

Tine gähnte. »Komm«, forderte sie ihn auf und trat auf den Balkon hinaus. Dabei zog sie ihren Freund mit sich. Nacheinander stiegen sie über das Gitter ins Boot.

»Na, dann bis Samstag«, sagte Hose.

»Um acht?«

»Lot di Tied«, meinte er. Lass dir Zeit. »Voll wirds eh erst um zehn.«

Enno löste den Palstek, mit dem die Insel vertäut war, und reichte seinem Freund die Leine. »Übrigens fahr ich sonntags gleich weiter. Ich muss ins HQ. Training«, erklärte er.

»Sport oder was?« Hose lachte.

»Nee, Fortbildung. Der halbe Nordsee-Wartungstrupp. Diesmal in Berlin.«

Hose horchte auf. »Da war ich schon ewig nicht mehr.«

Hose hatte sein Studium nicht abgeschlossen. Nach dem Anschlag war er in seine alte Heimat zurückgekehrt. Ein Flüchtlingsboot, das früher als Ausflugsschiff auf der Themse gedient hatte und vor der Ludgerikirche auf Grund gelaufen war, erschien ihm ein geeigneter Wohnsitz. Mithilfe von Karlheinz’ Trawler und Warners Motorboot zogen sie das Wrack auf den alten Norder Friedhofshügel hinauf, wo es relativ sicher lag. Danach richtete Hose sich auf dem Oberdeck häuslich ein.

₺146,43

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
290 s.
ISBN:
9783957658869
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre