Kitabı oku: «LAND UNTER», sayfa 4

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4·Aussicht auf mehr

Am Samstagvormittag ging bei Enno ein Auftrag der Stufe zwei ein. Der Touchscreen zeigte als Einsatzort die Gondel von Nummer 42. Enno tippte auf das blinkende Dialogfeld und bestätigte.

Nach einer angenehm kühlen Nacht war die Temperatur auf neunundzwanzig Grad geklettert. Er hätte den Einsatz auf die Abendstunden schieben können – in der Hoffnung, dass es bis dahin nicht mehr so heiß sein würde. Weil er abends jedoch ins Heaven wollte, fuhr er sofort zur Windkraftanlage hinaus.

Wie sich herausstellte, war das Anschlusskabel eines Sensors lose, der die Schwingungsdaten des Rotors im Lager erfasste. Enno ersetzte es durch ein neues, das er mit Tape sicherte. Ein Blick ins Protokoll bestätigte seine Vermutung, dass gestern ein Wartungstrupp in der Gondel gewesen war. Der Eintrag vermerkte den Austausch der Antriebswelle. Enno betrachtete das riesige Bauteil und war beeindruckt. Bei der Arbeit musste das Team das Kabel versehentlich ein Stück herausgezogen haben. Die Männer hatten sich gegen zweiundzwanzig Uhr ausgeloggt. Das erklärte wiederum, warum die Steuerzentrale in Achim erst am Morgen auf den Alarm reagiert hatte.

Auf dem Rückweg bemerkte er schon von Weitem Chris’ auf Wasserstoff umgerüsteten Bugsier-Schlepper, der neben dem Hochhaus vor Anker lag. Von ihr selbst war nichts zu sehen. Sie musste unter Deck oder, was wahrscheinlicher war, in Ennos Wohnung sein.

Er holte das Schleppnetz ein, das er unterwegs ausgeworfen hatte, und freute sich, darin ein gutes Dutzend Heringe zu finden. Die beiden kleinsten schmiss er wieder ins Wasser, die anderen landeten im Fischeimer.

Im Vorbeifahren winkte er Piet zu, der an dem Elektromotor des schwimmenden Hauses herumschraubte. Dann band er das Boot am Balkon fest, verstaute das Schleppnetz im Bug und eilte hinauf in die Dachwohnung.

Chris lag auf dem Sofa. Sie hatte die Augen geschlossen und hörte Musik. Dass sie den Daumen im Mund und den Zeigefinger um die Nasenspitze geschlungen hatte, war für Enno ein vertrauter Anblick. Er blieb am Treppenabsatz stehen und beobachtete sie.

Als sie die Augen aufschlug und ihn bemerkte, kam es ihm so vor, als machte sein Herz einen Sprung.

»Schön, dass du endlich kommst. Ich muss zugeben, dass ich so was Ähnliches wie Sehnsucht nach dir hatte«, nuschelte sie und kicherte. Sie drehte sich auf die Seite und rutschte nach hinten an die Lehne, um ihm Platz zu machen. Dabei gab sie schnurrende Laute von sich.

Er betrachtete das als Einladung, sich zu ihr zu legen – mit der Aussicht auf mehr.

Das hatte er richtig verstanden. Kaum, dass er sich neben sie gezwängt hatte, nahm sie den Daumen aus dem Mund und begann, ihn auszuziehen.

Es war schön, mit Enno zu schlafen. Genau die richtige Mischung aus Zärtlichkeit und Fest-zupacken-können, fand Chris. Der Sex war vor allem unkompliziert. Enno schien immer genau zu wissen, was sie wollte und was ihr gut tat. Es gefiel ihm offensichtlich, ihr das zu geben, was sie begehrte. Das machte es ihr leicht, es ihm gleich zu tun.

Chris war kein Kuscheltyp. Wenn sie mit einem Mann geschlafen hatte, suchte sie in der Regel umgehend das Weite. Mit Enno war das anders. Er legte sich anschließend auf den Rücken, kreuzte die Hände hinter dem Kopf und wirkte mit sich und der Welt im Reinen. In solchen Momenten wollte er nichts, was sie ihm nicht freiwillig gegeben hätte. Er forderte schon gar nichts von ihr ein, indem er sie nach ihren Gefühlen oder – was sie noch schlimmer gefunden hätte – nach ihrer Vergangenheit ausfragte.

Während sie sich in dieser Hinsicht lieber bedeckt hielt, war ihm, wenn er so dalag, erstaunlich viel zu entlocken. Sie hatte bereits beim ersten Mal, als sie zusammen im Bett gewesen waren, herausgefunden, dass es sich allein deshalb lohnte zu bleiben. So hatte sie unter anderem erfahren, dass er ohne Vater aufgewachsen war.

Ennos Mutter war fünfundzwanzig gewesen und mitten in der Ausbildung, als sie Herrn Osterkamp kennengelernt hatte. Er war über dreißig Jahre älter als sie, galant und großzügig, und eroberte ihr Herz im Sturm. Er machte ihr einen Antrag, und sie heirateten keine sechs Wochen, nachdem sie sich das erste Mal verabredet hatten.

Eine Zeit lang war ihre Ehe ein großes Abenteuer gewesen – bis Ennos Vater für knapp einen Monat verschwand.

»Das muss immer so weitergegangen sein«, hatte Enno ihr erzählt. »Er blieb ewig weg, und wenn er nach Hause kam, durfte er ihr angeblich nicht sagen, wo er gewesen war oder was er getrieben hatte. Als ich drei war, ist er endgültig abgetaucht. Auf der Arbeit sagte man ihr, er habe gekündigt. Sie hat nie herausgefunden, was aus ihm geworden ist.«

Bestimmt eine neue Affäre, vermutete Chris. Wahrscheinlich mit einer noch Jüngeren. In ihren Augen ein typisches Frauenschicksal.

Ennos Mutter hatte sich nicht unterkriegen lassen. Zum Glück konnte sie auf ein gut gefülltes Konto zugreifen. Das Geld ermöglichte es ihr, die Ausbildung zur Altenpflegerin abzuschließen.

Sie fand eine Arbeit in Esens und eine Wohnung in Neßmersiel. Ihren Sohn zog sie mithilfe von Nachbarn und Freunden groß. Neben dem Job und der Familie war sie in der Flüchtlingshilfe aktiv.

Sie habe ihn immer zu Fleiß und Durchhaltevermögen angehalten, erinnerte sich Enno. So wie er sie beschrieb, war er mit einer guten Mischung aus Strenge, Humor und uneingeschränkter Liebe erzogen worden.

Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte Enno gerne mehr über seinen Vater erfahren. Auf Fragen, die ihn betrafen, habe seine Mutter jedoch stets ungehalten reagiert. Enno habe den Kummer in ihren Augen gesehen und gelernt, das Tabu zu respektieren. »Verluste schmerzen vielleicht weniger, je länger sie her sind. Aber das macht sie für den Betroffenen bloß erträglicher, nicht kleiner«, hatte er Chris erklärt.

Während des Studiums hatte Enno viele Partnerinnen gehabt. Chris hatte von seinen Freundinnen nach und nach erfahren, weil er sie beim Erzählen in der Regel namentlich erwähnte. Es gefiel ihr, dass er sich mit seinen Erfolgen beim anderen Geschlecht nicht brüstete. Als sie Hose einmal auf das Thema angesprochen hatte, waren ihm nur zwei Frauen eingefallen, die Enno wichtig gewesen seien. Von den anderen hatte er offenbar nie gehört. Auch dass Enno sich seit Monaten mit ihr traf, schien Hose noch nicht zu wissen.

Dass viele Frauen Enno attraktiv gefunden hatten, war aus ihrer Sicht leicht nachzuvollziehen. Er war groß und drahtig und sah mit seiner dunklen Hautfarbe und den schwarzen Locken sehr gut aus. Er musste schon als Jugendlicher ein interessanter Typ gewesen sein: etwas eigen und verschroben, aber hilfsbereit gegenüber Freunden und anderen Mitschülern, grundehrlich, klug und sehr selbstbewusst – »ziemlich eingebildet«, wie er das rückblickend nannte. Weil er neugierig und fleißig gewesen war, schloss er die Schule als einer der Besten seines Jahrgangs ab. Anschließend stürzte er sich mit einer Begeisterung ins Studium, die keiner seiner Mitstudenten zu teilen vermochte. Darüber hinaus engagierte er sich für den Klimaschutz und in einer Afrika-Solidaritätsgruppe. Er konnte so leidenschaftlich für seine Überzeugungen streiten, dass ihn selbst diejenigen unter den Kommilitonen, die sich für gar nichts interessierten, hoch schätzten.

Heute fehle ihm oft die Kraft, sich für etwas so ins Zeug zu legen wie früher, hatte er Chris einmal gestanden. Nach dem Anschlag sei ihm fast alles, was er einmal hätte erreichen wollen, sinnlos erschienen. Das fand sie schade. Doch sie akzeptierte ihn, wie er war – genauso wie er ihr Tun und Denken zwar hinterfragte, sie aber nie zu einer Änderung ihres Verhaltens oder einer Sichtweise drängte.

Gegen zehn brach Chris wieder auf. Nachdem der Schlepper abgelegt und Kurs auf tiefere Gewässer genommen hatte, schwamm Enno eine halbe Stunde, um etwas für seine Fitness zu tun. Den Rest des Vormittags verbrachte er auf dem Sofa. Er las einen Roman, den er vor Jahren in einem Antiquariat in Osnabrück gekauft hatte, und knabberte an einem Proteinriegel. Dabei döste er immer wieder ein. Später checkte er auf PUC News die aktuellen Nachrichten.

Dabei bemerkte er, dass er sich weder auf die Kommentare noch auf die Bilder konzentrieren konnte. Seine Gedanken schweiften ein ums andere Mal zu Chris ab.

Sie hatten es stets vermieden, über ihre Beziehung zu sprechen. Es war nicht notwendig gewesen, ihre Gefühle zu thematisieren – erst recht nicht, da ihre Treffen in erster Linie sexuell motiviert gewesen waren. Es kam Enno so vor, als hätte sich das geändert, zumindest was ihn betraf. Er mochte Chris sehr, und er vertraute ihr. Im Laufe der vergangenen Monate hatte er sich ihr auf eine Weise geöffnet, die sogar über das hinausging, was er mit Hose teilte. Vielleicht sollte er ihr sagen, dass er etwas anderes, etwas Verbindlicheres wollte, als sie es derzeit hatten.

Dieser Gedanke verunsicherte ihn. Gab es für ihre Beziehung denn überhaupt eine Aussicht auf mehr?, fragte er sich. Dass sie dreißig war, drei Jahre älter als er, spielte für ihn keine Rolle. Dagegen frustrierte es ihn, dass er nicht mit Sicherheit hätte sagen können, ob sie seine Gefühle teilte. Nach außen gab sie sich in der Regel taff, sachlich und verbindlich. Enno hatte sie darüber hinaus als humorvoll, verspielt und verletzlich kennengelernt – Seiten an ihr, die sie vor anderen Menschen verbarg. Doch was wusste er noch über sie?

Er hatte bis heute kaum etwas über Chris’ Familie erfahren, wenig mehr aus ihrer Schul- und Studienzeit und fast nichts darüber, wo und wie sie gelebt hatte, bevor sie im überschwemmten Gebiet aufgetaucht war. Genauso sparsam, wie sie mit Informationen über ihre Vergangenheit umging, war sie mit ihren Gefühlsäußerungen. Seit ihrem ersten Treffen hatte Enno ein tiefes Misstrauen in ihr gespürt, das wie eine Wunde war, die nicht richtig verheilen wollte. Er hatte das stets respektiert. Nun erkannte er, dass dieser Argwohn sie auf Distanz zu ihm gehalten hatte.

Enno blieb nichts anderes übrig, als selbst einen Schritt auf sie zu zu gehen. Vielleicht sollte er sie bei ihrem nächsten Besuch fragen, ob sie sich vorstellen konnte, mit ihm zusammenzuziehen.

Er schob sich den Rest des Proteinriegels in den Mund. Während er auf der zähen Masse herumkaute, ließ er den Blick durch das Wohnzimmer schweifen. Es wäre schön, Chris jeden Tag um sich zu haben. Falls sie Lust haben sollte, ihre Kombüse und Koje gegen den Luxus einer Etagenwohnung einzutauschen, hätte er Platz genug.

Es konnte natürlich sein, dass sie zustimmte, aber nicht hier mit ihm wohnen wollte. Er musste sich also mit dem Gedanken auseinandersetzen, sein Zuhause eventuell aufzugeben. Ist nur eine Wohnung, korrigierte er sich – um sich gleich darauf zu fragen, ob der Ort, an dem er lebte, nicht mehr als »nur eine Wohnung« für ihn geworden war …

Als er vor vier Jahren zurück nach Ostfriesland gezogen war, hatte er gewusst, dass er sich mit der Besetzung des Hochhauses rechtlich in einer Grauzone bewegte. Er hatte jedoch seine Gründe, sich gerade hier niederzulassen, in diesem Gebäude, das dem Wasser nach wie vor standhielt. Die Nähe zu den Windparks war einer davon. Insofern scherte es Enno wenig, ob sein Handeln legal war oder nicht.

Bis zu der Reportage im Roten Kanal. Das Videoportal hatte sich auf Skandal- und Sensationsberichte über Politiker, Sportler, Spitzenmanager und Künstler spezialisiert. Es war einer der populärsten Kanäle des Landes. Ein paar Monate nach Ennos Einzug hatte ihm Warner eine Message geschickt. Sie bestand aus einem Link und einem Kommentar: »Da braut sich was zusammen.«

Der Link führte Enno zu dem Film über die »Rückkehrer«, Menschen wie ihn, die sich nach dem Anschlag in den Ruinen der überfluteten Städte ein Zuhause geschaffen hatten. Der Bericht zeichnete ihn und seine Nachbarn als Anarchisten, Schmarotzer und Kriminelle. Er basierte auf den O-Tönen zweier »Aussteiger« aus der »Besetzerszene«. Beide waren ausschließlich von hinten zu sehen, ihre Stimmen hatte man verfremdet. Im besten Fall seien die Rückkehrer, so der Tenor der Reportage, als weltfremde Spinner zu sehen, die mit der illegalen Besetzung der maroden Gebäude Kopf und Kragen riskierten. Der Beitrag war bereits von Zehntausenden aufgerufen, geteilt und gelikt worden, bevor Enno ihn das erste Mal sah.

Kurz darauf stellte ihm eine Drohne ein Schreiben aus Hannover zu. Darin wurde er aufgefordert, das besetzte Gebäude umgehend zu verlassen. Andernfalls würde geräumt werden müssen.

Wiederum ein paar Tage später tauchten in der Gegend zwei junge Frauen auf. Sie kamen aus Quakenbrück, hatten Videocams dabei und erklärten, eine Reportage drehen zu wollen – die »Story hinter der Story«. Hose habe die beiden »auf Anhieb supernett« gefunden, wusste Monika zu berichten, als Enno sie und Kalli draußen auf dem Wasser traf. Er habe die Frauen als neugierig und unvoreingenommen beschrieben. Sie wollten wohl tatsächlich herausfinden, was das für Menschen seien, die den widrigen Umständen trotzten und im überschwemmten Gebiet ausharrten.

Hose und Tine fuhren die beiden herum. Sie kannten die meisten Nachbarn und mussten diese nicht lange überreden, sich interviewen zu lassen.

»Mir gefällt die Gegend. Hat sie schon immer. Ich will hier einfach nur in Ruhe leben«, sagte eine Frau, die in Sandhorst einen Biohühnerzucht- und Legebetrieb unterhielt.

»Ich kapier nicht, was der ganze Hass soll. Wir haben niemandem was getan«, ergänzte eine etwa zwanzigjährige Punkerin, die neben ihr stand und vermutlich ihre Tochter war.

»Keiner von uns hat je behauptet, dass die Gebäude uns gehören«, empörte sich Karlheinz. Monika nahm seine Hand und beteuerte: »Wenn einer kommt und sagt, er will uns im Fährhaus nicht mehr haben, sind wir sofort weg.« Der Fischer warf einen finsteren Blick in die Kamera. »Nicht, dass wir das gerne täten«, ergänzte er brummig.

Am Ende der Interviews stellten die beiden Frauen allen dieselben Fragen: »Warum sind Sie nach Ostfriesland zurückgekehrt? Und warum wollen Sie unbedingt hierbleiben?«

Warner hatte eigens ein dunkelrotes Jackett angezogen und den Pferdeschwanz unter dem Kragen verschwinden lassen. Vor der Kamera gab sich der Hacker betont seriös. Er lobte das Klima, die gute Luft und die Ruhe, die er bräuchte, um seiner anspruchsvollen beruflichen Tätigkeit als IT-Sicherheitsberater nachgehen zu können.

Ein perfekter Auftritt, dachte Enno, als er den Film sah. Es war Warner gelungen, seinen Sarkasmus weit genug zu zügeln, dass keiner merkte, wie lächerlich er die ganze Situation fand.

»Mein Name ist Tammen, Holger Tammen«, gab Hose zu Protokoll. Das hatte er bestimmt schon immer mal sagen wollen. »Ich komme aus Norden. Meine Familie stammt aus der Gegend, so wie die meisten, die hier leben. Ich finde es schön, dass meine Freunde und Bekannten wieder da sind. Wär echt schade, wenn sie gehen müssten.«

Auch andere Leute aus ihrem Umfeld begründeten die Entscheidung, in Ostfriesland zu bleiben, mit ihrer Verbundenheit der alten Heimat, den Freunden und der Familie gegenüber. Die meisten konnten zudem auf eine mehr oder weniger einträgliche Arbeit verweisen, was die Reportage im Roten Kanal Lügen strafte. »Wir sind ganz normale Leute. Wir zahlen Steuern wie ganz normale Leute«, betonte zum Beispiel Monika, die angab, zusammen mit ihrem Freund im Fischereigewerbe tätig zu sein.

Die Filmcrew passte Enno am Nachmittag auf dem Dach des Hochhauses ab. Die Frauen hatten ihn überrumpelt, und er kam nicht mehr dazu, sich die Antworten vorher zurechtzulegen. Ohne es zu wollen, schoss er mit seinem Statement den Vogel ab: »Meine Mutter hat früher da hinten gelebt.« Er zeigte in Richtung Südosten, wo es nichts mehr zu sehen gab außer Wasser. »Ich bin wieder hergezogen, um ihr Andenken zu ehren und sie angemessen zu betrauern.«

Als der Film im Netz auftauchte, gingen die Zugriffe innerhalb weniger Tage durch die Decke. Er löste eine landesweite Sympathiewelle aus. Fast alle Medien schlossen sich der positiven Berichterstattung über die »Rückkehrer« an. Viele Eigentümer offerierten den Besetzern einen Mietvertrag. Einige übertrugen ihnen die aufgegebenen Gebäude gleich ganz.

Die beiden jungen Frauen hatten das Ruder in letzter Minute herumgerissen. Heimatverbundenheit war etwas, das der nationalkonservativen Landesregierung zusagte. Das Thema Räumung war seitdem vom Tisch.

Enno sah sich gerade eine Doku an, da erinnerte ihn der PUC, dass die Ertragsdaten der Solaranlage seit einer Woche unter dem vorgegebenen Wert lagen. Also füllte er einen Eimer mit Wasser, gab einen Spritzer Lösungsmittel hinein und holte einen Schwamm aus der Küchenschublade. Bevor er auf das Dach ging, ersetzte er die Tanks der Trockentoilette durch leere. Er verschloss die Behälter sorgfältig und trug alles nach oben. Die vollen Kanister stellte er neben den Biomüll in den Schatten. Chris würde den Abfall bei ihrem nächsten Besuch mitnehmen und bei der Sammelstelle im Hafen abliefern. Von dort aus wanderten der Urin und Stuhl in die nächstliegende Düngemittelfabrik.

Schwamm und Eimer nahm er mit zu den Solarzellen. Seine Anlage war ein Bausatz, zu dem ein Stromspeicher und zwölf Module mit polykristallinen Zellen auf Siliziumbasis gehörten. Er hatte sich die Komponenten in einem Baumarkt gekauft, mit dem Geld, das er nach der Flutkatastrophe vom Bund erhalten hatte. Piet zufolge beherrschten die Chinesen mit diesen Bausätzen den Weltmarkt. Enno war das egal. Die Anlage war pflegeleicht, die Solarzellen hatten einen Wirkungsgrad von über sechzig Prozent, und der Stromspeicher versorgte zuverlässig ein Kühlfach, die Entsalzungsanlage und zwei LED-Lampen. Für diesen Luxus nahm er es gerne in Kauf, die Module regelmäßig zu putzen.

Es regnete hier draußen nur selten. Der Wind brachte jedoch viel Feuchtigkeit mit sich, die sich auf der Glasversiegelung absetzte und beim Trocknen Salz, Staub und Schmutz hinterließ. Er entfernte den dünnen Film vorsichtig mit dem Schwamm. Anschließend checkte er die Ertragsdaten erneut. Alle Werte lagen wieder im grünen Bereich.

Als er den Eimer über die Dachkante leerte, näherte sich ihm eine Drohne. Sie verharrte für einen Moment im Flug und richtete die Kamera auf ihn. Gesichtserkennung?, fragte sich Enno und musste dabei an Warner denken, der geradezu eine Paranoia gegen die behördliche Überwachung des überschwemmten Gebiets entwickelt hatte.

Erst jetzt bemerkte er, dass er auf dem Dach nicht alleine war. Während er die Module gereinigt hatte, war Piet herübergekommen. Der Alte hatte sich im Schatten des Sonnensegels in einen der Liegestühle gesetzt und seine Angel ausgeworfen. Er beobachtete mit dem Feldstecher den Horizont.

Enno stellte den Eimer ab und setzte sich neben Piet. »Moin. Schon was gefangen?«

»Moin. Nee, ich bin gerade erst gekommen«, antwortete Piet. »Da beißt aber bestimmt was. In den Ruinen wimmelt es von Fischen.«

»Genau wie draußen im Windpark.«

»Weil die großen Schleppnetzpötte da nicht hinkommen.«

»Dürfen die nicht. Fischereiverbot«, sagte Enno.

»Ach nein?« Piet grinste.

Enno bemerkte den spöttischen Gesichtsausdruck. Sein Nachbar wusste offenbar, dass er bei Wartungseinsätzen gerne sein Netz zwischen den Türmen auswarf. Dabei galt das Verbot selbstverständlich auch für ihn. »Die paar Fische, die ich da raushole«, verteidigte er sich. »Außerdem machst du doch das Gleiche.« Er wies mit dem Kinn auf die Angel.

Piet grinste noch breiter. »Das ist nicht das Gleiche. Ich hab einen vispas, einen Angelschein«, erwiderte er.

»Dein vispas gilt bestimmt nicht für deutsche visse«, sagte Enno und lachte.

Die Miene des Alten wurde ernst. »Es heißt vis, nicht visse«, korrigierte er den jungen Mann. »Und komm du mir nicht mit ›deutsch‹. Das kann ich nicht gut hören – gerade von dir nicht.«

»Was soll das denn heißen?«, hakte Enno nach. »Meinst du, weil ich nicht so weiß bin wie du?«

»Natürlich nicht. So war das nicht gemeint.« Piet wandte sich ab und brummte etwas auf Niederländisch.

»Wie Milchkaffee«, hatte Chris die Farbe von Ennos Haut einmal beschrieben. »Lecker«, hatte sie dem Vergleich hinzugefügt. Enno war einen Moment lang sauer auf seinen Nachbarn gewesen. Als er an die Schlepperkapitänin dachte, musste er unwillkürlich schmunzeln.

Piet schien ebenfalls etwas Amüsantes eingefallen sein. Sein Mund verzog sich zu einem verschmitzten Lächeln, das jede Falte auf den stoppeligen Wangen einbezog. »Und von wegen ›deutsche Fische‹: Ob das hier zu Deutschland gehört, darüber lässt sich meines Erachtens streiten«, sagte er. »Genau genommen sitzen wir doch mitten in der Nordsee, weit außerhalb der Zwölfmeilenzone.«

»Das meinst du nicht im Ernst, oder?«, fragte Enno.

Der Alte machte »Hmm«, als wöge er den Gedanken ab. Dann stieß er Luft aus der Nase. »Historisch gesehen ist das natürlich Blödsinn. Trotzdem ist es ein Argument. Sollte mich jemals einer hier draußen wegen illegalen Angelns oder so was belangen wollen, bin ich fest entschlossen, damit bis vor den Europäischen Gerichtshof zu ziehen.«

Enno lachte wieder. »Na, dann viel Spaß dabei.«

Im Stillen freute er sich, dass es Piet heute so gut ging. Er genoss es, mit ihm herumzualbern.

Der Alte kam oft auf das Dach des Hochhauses herüber. Enno hatte nichts dagegen. Er konnte es nachvollziehen, dass sein Nachbar den Betonboden, so heiß er an manchen Tagen auch wurde, dem Geschaukel im Hausboot vorzog. Außerdem schätzte er die Gesellschaft des alten Mannes. Selbst wenn er gedankenverloren und abweisend wirkte, setzte Enno sich gerne zu ihm, und sie schwiegen gemeinsam.

Wenn sie so dasaßen, kam es vor, dass Piet den Feldstecher wortlos an ihn weiterreichte und ihm die Richtung wies, in der er etwas Sehenswertes entdeckt hatte. Das konnten zum Beispiel Pott- oder Buckelwale sein, die an ihrem hoch ausgestoßenen Blas erkennbar waren. Die Meeressäuger nahmen auf den Wanderungen zwischen ihren Sommer- und Wintergebieten oft den Weg durch die Nordsee. In der Regel waren in der Ferne Containerschiffe zu sehen, darunter diejenigen, die volle Wasserstofftanks von den Windparks an die Küste und leere zurück zu den Offshorefabriken brachten. Interessanter fand Piet die Frontex-Schiffe, die am Rande der ehemaligen Zwölfmeilenzone patrouillierten. Sie sicherten die Grenze gegen Flüchtlinge, die versuchten, dem Elend in Großbritannien zu entkommen.

»Du hast bestimmt schon mal was vom Brexit gehört. So nannte man das, als die Briten 2020 aus der Europäischen Union ausgetreten sind«, erklärte Piet im Plauderton, als Enno das Thema ansprach. »Das war der größte Blödsinn, den sich diese verrückten Insulaner je ausgedacht hatten. Banken und Großunternehmen sind danach reihenweise abgewandert. Innerhalb eines Jahrzehnts war das Land wirtschaftlich am Boden. Viele Leute verloren ihren Job. Zuerst gingen die gut Qualifizierten, gefolgt von den Jüngeren, die zu Hause keine Perspektive mehr sahen. Später kamen die Probleme mit dem Wasser dazu, und alle europäischen Staaten machten die Grenzen dicht. Es versuchen immer noch viele, von der Insel runterzukommen, auf legalem Weg oder nicht. Doch heutzutage haben die schlechte Karten. Denk nur an das Schiff, in dem Holger wohnt. Als es vor der Kirche auf Grund lief, wurden die Flüchtlinge sofort verhaftet und zurückgeschickt … oder ›rückgeführt‹, wie das jetzt heißt.«

Enno war sicher, dass es während seiner Schulzeit noch Kontingente für britische Flüchtlinge gegeben hatte. In Neßmersiel war eines Tages eine schwarze Familie aufgetaucht, die ursprünglich aus Hull stammte. Seine Mutter hatte sich zusammen mit anderen Ehrenamtlichen um die Neuankömmlinge gekümmert. Anfang der Vierzigerjahre war die Politik der Europäischen Union restriktiver geworden. Deutschland – damals noch grün-links regiert – hatte keine von den Britischen Inseln Geflüchteten mehr aufnehmen dürfen. Das musste der Zeitpunkt gewesen sein, als Frontex die Nordseeküste zu überwachen begonnen hatte. Seitdem wurden alle Schiffe zurückgeschickt, bevor sie europäische Gewässer erreichten. Dabei ging die Grenzschutzagentur genauso konsequent und gnadenlos vor wie seit Jahrzehnten auf dem Mittelmeer und in Griechenland.

»Ich war zweiundvierzig zuletzt drüben«, berichtete der alte Mann und machte eine Geste in Richtung Horizont. »Das Land war in einem desolaten Zustand. In die Infrastruktur wurde kaum noch investiert. London stand zu großen Teilen unter Wasser. Die Themse war kilometerbreit, eine einzige, stinkende Kloake. Und überall, wo man hinsah, herrschte Armut.«

Einmal, bevor er Piet gekannt hatte, war Enno auf halbem Weg zum Windpark einem etwa fünfzigjährigen Mann begegnet. Dieser hatte es mit seinem Segelboot geschafft, durch die Maschen des eng gespannten Netzes an Patrouillen zu schlüpfen. Dabei war ihm der Seenebel zugutegekommen, ein Wetterphänomen, das immer dann entstand, wenn der Wind Richtung Norden drehte und die über dem Festland erhitzten Luftmassen über das kühlere Wasser blies.

Der Mann war Enno auf Anhieb sympathisch gewesen. »Ein Bäcker aus Broadstairs. Hatte seinen eigenen Laden gehabt«, erzählte er dem Alten. »Dann kam das Meer. Die Stadt, die Leute, seine Heimat – alles weg. Er hatte früher an Regatten teilgenommen und kannte sich mit kleinen, schnellen Booten aus. So war es ihm gelungen, die vierhundert Meilen auf See unbeschadet hinter sich zu bringen – die Hälfte davon ohne Sicht, nur mithilfe eines Kompasses. Er hoffte, an der Küste unbemerkt an Land gehen zu können. Hatte vor, sich von dort nach Süddeutschland durchzuschlagen. Keine Ahnung, was er da wollte.«

Enno hatte großen Respekt vor dem Mut des Mannes und dessen Geschick mit dem Boot gehabt. Er hatte ihm geraten, ein Waldgebiet bei Sandkrug anzusteuern, knapp hundert Kilometer Richtung Südsüdost. »Passen Sie bloß auf, dass Sie an der Küste einen Bogen um die Aquakulturen machen«, hatte er den Mann ermahnt. Der Segler war dankbar gewesen, die Koordinaten zu erhalten. Enno hatte ihm versichert, dass man den nächsten Bahnhof von dort aus zu Fuß erreichen konnte.

Er habe dem Segler Glück gewünscht – und sich insgeheim für den Mann gefreut, erzählte er Piet. »Den gefährlichsten Teil seiner Reise hatte er längst hinter sich.« Das letzte Stück des Wegs sei im Vergleich dazu ein Kinderspiel gewesen.

Enno musste an die Flüchtlinge denken, die vor der Ludgerikirche gestrandet waren. Sie hatten nicht so viel Glück gehabt.

»Mir tun die Briten leid«, sagte er.

»Mir tun alle Leute leid, die heimatlos sind«, sagte Piet. »Manchmal tu ich mir selber leid.« Er lächelte versonnen.

Enno spürte, dass der alte Mann seine Worte ernst meinte. »Wir haben es doch schön hier«, versuchte er, seinen Nachbarn aufzumuntern. »Hauptsache, man ist nicht alleine. Ich finde, es gibt genug Leute, die einsam sind.«

Piets Mund zuckte, ganz leicht nur und auf eine Weise, die Enno nicht deuten konnte. War es Missbilligung?

Der Alte hob den Feldstecher wieder an die Augen und richtete ihn auf den Horizont. Enno nahm an, er hätte sich verschlossen, wie es immer wieder mal vorkam.

Da räusperte Piet sich und brummte: »Das ist ein wahres Wort, mein Junge.«

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