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4.6 Das Verlagssystem: Arbeitsressourcen des Hinterlands mobilisieren

Das Hinterland bot aber nicht nur für die Versorgung der Städte essenzielle Ressourcen, sondern verfügte auch über Arbeitskräfte. Seit dem 13. Jahrhundert entfaltete sich ein ländliches Gewerbe, vor allem im Bereich der Textilproduktion, das aus der winterlichen Eigenproduktion der Bauern für den eigenen Bedarf erwachsen war. Das Spinnen von Garn, das Weben einfacher Tuche, zunächst für den Eigenbedarf, füllte in vielen bäuerlichen Haushalten den arbeitsarmen Winter. Aufgrund des demografischen Wachstums entstand noch vor der Pest vor allem in Realteilungsgebieten eine unterbäuerliche Schicht, die über zu wenig Land verfügte, um sich allein davon ernähren zu können. Andererseits erwiesen sich die zünftischen Produktionsbeschränkungen in der Stadt aus Sicht städtischer Tuchhändler als Hemmnisse weiteren Wachstums. In dieser Situation begannen städtische Kaufleute, meist „Verleger“ genannt, die ländlichen Arbeitskraftreserven für einfache Produktionsstufen (Spinnen, Weben) zu mobilisieren. Größere Verbreitung fand das „Verlagssystem“ seit dem 13. Jahrhundert nördlich des Bodensees in der Herstellung von Leinwand-Tuchen. Verleger aus Konstanz, Ravensburg, Memmingen usw. brachten Flachs, das Rohmaterial für Linnen, in die Häuser der Spinner und Weber und sammelten das gesponnene Garn bzw. die gewobenen Tuche dann nach einer Woche wieder ein, bezahlten die Arbeit im Stücklohn und brachten neues Rohmaterial für neue Aufträge. Häufig stellten die Verleger auch die Arbeitsmittel, insbesondere die Webstühle. Der Flachs wurde auf den dafür klimatisch geeigneten feuchten Böden des Allgäus angebaut, zugleich wurde auch [<<85] die im Allgäu mit ausgedehnter Viehwirtschaft produzierte Milch für die Bleichvorgänge verwendet. Es entstand also eine regionale integrierte Arbeitsteilung zwischen den Flachs und Milch produzierenden Anbauregionen im Allgäu, den demografisch überbesetzten Dörfern Oberschwabens, wo die Verarbeitung des Flaches stattfand und den städtischen Verlegern, die die Austauschprozesse ökonomisch koordinierten und lenkten. Die Endverarbeitungsstufen der Textilprodukte fanden in der Regel dann wieder in Städten wie Konstanz, Ravensburg oder Memmingen statt, wo die Tuche dann auch mit den städtischen Qualitätssiegeln versehen wurden.58

Das Verlagssystem etablierte sich im Spätmittelalter und der beginnenden frühen Neuzeit auch in anderen Gewerbezweigen. Die Kontrolle der Textilhandelsstädte über ihr jeweiliges verlagsindustrielles Hinterland war jedoch keineswegs dauerhaft gesichert; so gelang es beispielsweise unternehmerisch gesinnten Kaufleuten wie den Fuggern, qualifizierte ländliche Spinner und Weber aus dem Ulmer Hinterland wegzulocken und in eigenen Städten als Arbeitskräfte anzusiedeln.59 Generell fanden im Rahmen des Verlagssystems die Produktionsstufen bis zu halb fertigen Produkten auf dem Land statt, während sich die Endverarbeitung dann im Rahmen städtischen zunftgebundenen Handwerks vollzog. Dies geschah auch in der Holzverarbeitung, wo ländliche Schreiner Holzräder, Fassdauben oder Bettgestelle produzierten, die Endverarbeitung und das Beschlagen mit Eisenteilen dann aber in der Stadt ausgeführt wurde. Köln profilierte sich als Zentrum der Metallverarbeitung, wo die im Umland (u. a. Bergisches Land, Siegerland) produzierten halb fertigen Metallwaren in Köln dann poliert, geschliffen und vermarktet wurden.60 Dieses Verlagssystem, eine europaweite Erscheinung der stärker gewerblich konzentrierten Regionen, wurde von Wirtschaftshistorikern auch als „Protoindustrialisierung“ bezeichnet.61 Damit war nicht die Einführung arbeitssparender Maschinen gemeint, sondern vielmehr der sozialgeschichtliche Prozess einer Herauslösung der unterbäuerlichen Schichten aus den traditionellen Begrenzungen vormoderner Landwirtschaft. Zugleich entstand durch die ländliche gewerbliche Arbeit ein erheblicher Druck auf die zünftische Organisation von Gewerbe in den Städten.

Städte waren folglich in unterschiedlichem Maße abhängig von der Verfügbarkeit wichtiger Ressourcen. Essenzielle Ressourcen, wie zum Beispiel der Wald, liefen Gefahr, [<<86] aufgrund übermäßiger Beanspruchung zu stark ausgebeutet zu werden, was die Städte je nach ihrer politischen und verkehrswirtschaftlichen Lage zu unterschiedlichen Strategien zwang: Intensive machtpolitische Dominanz und erhaltungsorientierte Bewirtschaftung etwa im Fall Nürnberg ohne größeren schiffbaren Fluss, Nutzung weiter entfernter Waldbestände durch Flößerei und Triften in Städten mit besserem Zugang zu Wasserwegen. Nahrungsmittel wurden je nach Transportierbarkeit bzw. Verderblichkeit vorzugsweise aus dem näheren Umland bezogen, teilweise, wo hohe Bevölkerungskonzentrationen einerseits (Flandern), aber auch günstige Verkehrslage dies ermöglichten, auch aus weiter entfernten Regionen (Getreide Ostsee, Baltikum). Die Ressourcenbedürfnisse der Städte spielten auch eine wichtige Rolle in der Motivation für die Etablierung städtischer Territorien. Insgesamt können wir für das Spätmittelalter und die frühe Neuzeit eine – allerdings nicht durchgehend lineare –Tendenz zu weiträumigerer Versorgung und zur Entfaltung großräumiger Arbeitsteilung zwischen urbanisierten und gewerblich verdichteten Kernzonen Europas im Nordwesten und in Norditalien einerseits und deutlich dünner besiedelten peripheren Regionen im Osten und Südosten Europas (Viehzucht – große Viehtriebe) andererseits beobachten. [<<87]

1 Franz Irsigler: Bündelung von Energie in der mittelalterlichen Stadt. Einige Modellannahmen, in: Saeculum 42 (1991), S. 308–318, hier 309.

2 Vgl. etwa James A. Galloway/Derek Keene/Margaret Murphy: Fuelling the City: Production and Distribution of Firewood and Fuel in London’s Region, 1290–1400, in: Economic History Review, XLIX (1996), S. 447–472.

3 Ernst Schubert: Der Wald. Wirtschaftliche Grundlage der spätmittelalterlichen Stadt, in: Bernd Herrmann (Hrsg.), Mensch und Umwelt im Mittelalter, Stuttgart 1986, S. 252–269.

4 Karl Kroeschell: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1: Bis 1250, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 330.

5 Nils Freytag/Wolfgang Piereth: Städtische Holzversorgung im 18. und 19. Jahrhundert. Dimensionen und Perspektiven eines Forschungsfeldes, in: Dies./Wolfram Siemann (Hg.): Städtische Holzversorgung. Machtpolitik, Armenfürsorge und Umweltkonflikte in Bayern und Österreich (1750–1850), München 2002, S. 1.

6 Vgl. John Perlin: History of Wood Energy, in: Encyclopedia of Energy, Vol. 6, 2004, S. 499–507, hier S. 499: “Wood was the primary fuel for the entire world from the discovery of fire to the age of fossil fuels.”

7 Schubert, Wald, S. 257; vgl. auch Joachim Radkau: Holz. Wie ein Naturstoff Geschichte schreibt, München 2007, S. 21 f., 81–87. Ernst Schubert: Alltag im Mittelalter, Natürliches Lebensumfeld und menschliches Miteinander, 2. Aufl. Darmstadt 2012, bes. S. 36–64.

8 Vgl. Schubert, Wald, S. 254–257.

9 Vgl. Sönke Lorenz: Wald und Stadt im Mittelalter. Aspekte einer historischen Ökologie, in: Bernhard Kirchgässner/Joachim B. Schultis (Hrsg.):, Wald, Garten und Park. Vom Funktionswandel der Natur für die Stadt, Sigmaringen 1993, S. 25–34, hier S. 29. u. 33; Schubert, Alltag, S. 43–45: „Auf deutschem Boden wurde ein Gebiet von der Größe Englands dem Wald und der Wildnis abgerungen.“

10 Vgl. Schubert, Alltag, S. 43.

11 Vgl. Joachim Radkau: Das Rätsel der städtischen Brennholzversorgung, in: Dieter Schott (Hrsg.): Energie und Stadt in Europa. Von der vorindustriellen „Holznot“ bis zur Ölkrise der 1970er Jahre, Stuttgart 1997, S. 43–75, hier 71.

12 Vgl. Schubert, Wald, S. 252; Antje Sander-Berke: Spätmittelalterliche Holznutzung für den Baustoffbedarf. Dargestellt am Beispiel norddeutscher Städte, in: Albrecht Jockenhövel (Hrsg.): Bergbau, Verhüttung, Waldnutzung im Mittelalter. Auswirkungen auf Mensch und Umwelt, Stuttgart 1996, S. 189–203, hier S. 189 f.

13 Lore Sporhan/Wolfgang v. Stromer: Die Nadelholzsaat in den Nürnberger Reichswäldern zwischen 1469 und 1600, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie, 17 (1969), S. 79–99, hier S. 80.

14 Vgl. Sporhan/v. Stromer, Nadelholzsaat, S. 80–81; Ursula Dötzer: Der Reichswald – seine Bedeutung für die Stadt und seine Entwicklung vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit, in: Birgit Friedel/Claudia Frieser (Hrsg.): Nürnberg. Archäologie und Kulturgeschichte, Büchenbach 1999, S. 345–348; Radkau, Holz, S. 101–104.

15 Vgl. Lorenz: Wald, S. 28/29.

16 Vgl. Lorenz, Wald, S. 28.

17 Vgl. Sporhan/v. Stromer, Nadelholzsaat, S. 95; Dötzer, Reichswald, S. 346–47.

18 Vgl. Schubert, Wald, S. 258.

19 Vgl. Nicole C. Karafylis: „Nur soviel Holz einschlagen wie nachwächst”. Die Nachhaltigkeitsidee und das Gesicht des deutschen Waldes im Wechselspiel zwischen Forstwirtschaft und Nationalökonomie, in: Technikgeschichte 69 (2002), S. 247–273, bes. S. 257 ff.

20 Vgl. Karte mit Holzversorgungsgebiet von London in Galloway u. a., Fuelling, S. 459.

21 Galloway u. a., Fuelling, S. 456.

22 Vgl. Harald Witthöft: Die Lüneburger Saline. Salz in Nordeuropa und der Hanse vom 12.-19. Jahrhundert. Eine Wirtschafts- und Kulturgeschichte langer Dauer, Rahden/Leidorf, 2010, S. 134–137; Hansjörg Küster: Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart, München 1998, S. 152.

23 Vgl. Antje Sander-Berke: Spätmittelalterliche Holznutzung für den Baustoffbedarf. Dargestellt am Beispiel norddeutscher Städte, in: Albrecht Jockenhövel (Hrsg.): Bergbau, Verhüttung und Waldnutzung im Mittelalter. Auswirkungen auf Mensch und Umwelt, Stuttgart 1996, S. 189–203, hier S. 192.

24 Vgl. Joachim Radkau: Vom Wald zum Floß – ein technisches System? Dynamik und Schwerfälligkeit der Flößerei in der Geschichte der Forst- und Holzwirtschaft, in: Hans-Walter Keweloh (Hrsg.): Auf den Spuren der Flößer. Wirtschafts- und Sozialgeschichte eines Gewerbes, Stuttgart 1988, S. 16–39.

25 Vgl. Dietrich Ebeling: Organisationsformen des Holländerholzhandels im Schwarzwald während des 17. Und 18. Jahrhunderts, in: Keweloh, Spuren, S. 81–110.

26 Vgl. Galloway/Keene/Murphy, Fuelling, S. 467.

27 Vgl. Schubert, Wald, S. 261.

28 Vgl. Schubert, Wald, S. 262.

29 Vgl. Tom Scott: Town and country in Germany, 1350–1600, in: Stephan R. Epstein (Hrsg.): Town and Country in Europe, 1300–1800, Cambridge 2001, S. 202–228.

30 Vgl. Schubert, Wald, S. 257.

31 Vgl. Margaret Murphy: Feeding Medieval Cities: Some Historical Approaches, in: Martha Carlin/Joel T. Rosenthal (Hrsg.): Food and Eating in Medieval Europe, London/Rio Grande 2003, S. 117–131, hier S. 121. In diesem Aufsatz auch allgemeine methodologische Überlegungen zum Forschungsdesign des Projekts.

32 Vgl. Franz Irsigler: Bündelung von Energie in der mittelalterlichen Stadt. Einige Modellannahmen, in: Saeculum 42 (1991), S. 308–318, hier 311.

33 Vgl. James Galloway: One Market or many? London and the Grain Trade of England, in: Ders. (Hrsg.): Trade, Urban Hinterlands and Market Integration c.1300–1600, London 2000, S. 23–42.

34 Markus Cerman: Einleitung: Wirtschaftliche Stadt-Land-Beziehungen in Europa im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit, in: Ders./Erich Landsteiner (Hrsg.): Zwischen Land und Stadt. Wirtschaftsverflechtungen von ländlichen und städtischen Räumen in Europa 1300–1600 (= Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 2009), Innsbruck/Wien/Bozen 2010, S. 9–17, hier S. 10.

35 Vgl. Richard Britnell: Urban Demand in the English Economy, in: James Galloway (Hrsg.): Trade, Urban Hinterlands and Market Integration c.1300–1600, London 2000, S. 1–22, hier 18.

36 Vgl. Richard W. Unger: Feeding Low Countries Towns: the Grain Trade in the Fifteenth Century, in: Revue belge de philology et d’histoire. 77 (1999), S. 329–358.

37 Vgl. Hoffmann, Footprint Metaphor, S. 299.

38 Richard W. Unger: Feeding Low Countries Towns: the Grain Trade in the Fifteenth Century, in: Revue belge de philology et d’histoire. Tome 77 fas. 2, 1999, S. 329–358, bes. 342–344.

39 Vgl. Herbert Eiden/Franz Irsigler: Environs and hinterland: Cologne and Nuremberg in the later middle ages, in: James Galloway (Hrsg.): Trade, urban hinterlands and market integration c.1300–1600, London 2000, S. 43–57.

40 Ulf Dirlmeier: Lebensmittel- und Versorgungspolitik mittelalterlicher Städte als demographisch relevanter Faktor, in: Saeculum 39 (1988), S. 149–153, hier S. 151–152.

41 Vgl. Hoffmann, Footprint Metaphor, S. 300; Massimo Montanari: Der Hunger und der Überfluß. Kulturgeschichte der Ernährung in Europa, München 1994, S. 88–95.

42 Vgl. Franz Lerner: Die Bedeutung des internationalen Ochsenhandels für die Fleischversorgung deutscher Städte im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit, in: Ekkehard Westermann (Hrsg.): Internationaler Ochsenhandel (1350–1750). Akten des 7th International Economic History Congress (= Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte, Bd. 9), Edinburgh 1978, Stuttgart 1979, S. 197–217, hier 198/199.

43 Vgl. Lerner, Bedeutung, S. 199.

44 Vgl. Lerner, Bedeutung, S. 201.

45 Vgl. Ian Blanchard: The Continental European Cattle Trades, 1400–1600, in: Economic History Review, Bd. XXXIX, 1986, S. 427–460, S. 436.

46 Vgl. Blanchard, Cattle Trades, S. 428–433.

47 Lerner, Bedeutung, S. 211.

48 Lerner, Bedeutung, S. 212.

49 Wertmäßig lag der Fernhandel mit Vieh um 1600 etwa bei der Hälfte des Getreidehandels aus dem Ostseeraum, Vgl. Blanchard, Cattle Trades, der hier K. Glamman zitiert, S. 427.

50 Die Darstellung folgt hier der Übersicht bei Tom Scott: Town and country in Germany, 1350–1600, in: S. R. Epstein (Hrsg.): Town and Country in Europe, 1300–1800, Cambridge 2001, S. 202–228. Vgl. zur italienischen Situation Clark, European Cities, S. 92–93.

51 Vgl. Scott, Town, S. 204.

52 Stephan Sonderegger zeigt dies am Beispiel von St. Gallen, wo die von der Stadt ausgehenden Impulse die Orientierung auf Viehzucht und Weinbau verstärkten und hier durch Investitionen auch produktivitätssteigernd wirkten, vgl. Stephan Sonderegger: Landwirtschaftliche Spezialisierung in der spätmittelalterlichen Nordostschweiz, in: Markus Cerman/Erich Landsteiner (Hrsg.): Zwischen Land und Stadt. Wirtschaftsverflechtungen von ländlichen und städtischen Räumen in Europa 1300–1600 (= Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 2009), Innsbruck/Wien/Bozen 2010, S. 139–160.

53 Die zentrale Rolle des Spitals für die Ausrichtung des Umlands auf die Konsumbedürfnisse der Stadt zeigt Sonderegger auch am St. Galler Beispiel, Sonderegger, Spezialisierung, S. 139–160; vgl. zur Rolle des Spitals für das Wiener Umland Christoph Sonnlechner: Der ökologische Fussabdruck Wiens im Spätmittelalter – eine Annäherung, in: Ferdinand Opll/Ders. (Hrsg.): Europäische Städte im Mittelalter, Innsbruck/Wien/Bozen 2010, S. 351–364.

54 Vgl. Scott, Town, S. 208.

55 Scott, Town, S. 209.

56 Vgl. Scott, Town, S. 213–214.

57 Vgl. Scott, Town, S. 215.

58 Vgl. Scott, Town, 219–221.

59 Vgl. Scott, Town, 221; dort findet sich noch Literatur zum Verlagssystem im Spätmittelalter.

60 Vgl. Scott, Town, 221.

61 Vgl. Peter Kriedte/Hans Medick/Jürgen Schlumbohm: Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1977.

5 Der Schwarze Tod: Bevölkerungseinbruch und Umweltkrise im Spätmittelalter
5.1 Klima und Tragfähigkeit: Die Rahmenbedingungen

Mit dem beginnenden 14. Jahrhundert kam eine sich über mehrere Jahrhunderte erstreckende Periode der Erwärmung des Klimas, die die langfristige demografische Expansion und wirtschaftliche Entwicklung des mittelalterlichen Europas begünstigt hatte, zum Abschluss. Die hochmittelalterliche Erwärmung um ein Grad Celsius im Durchschnitt hatte erhebliche Veränderungen in Vegetationsperioden mit sich gebracht; nunmehr setzte eine bis ins 19. Jahrhundert währende Periode klimatischer Abkühlung ein, die auch als „Kleine Eiszeit“ bezeichnet wird.1 Erste Anzeichen dafür waren Jahre mit verheerenden Missernten 1309/10 und 1315–1317.2 1342 ereignete sich ein „Jahrtausendhochwasser“ mit zahlreichen Brückenzerstörungen und großflächigen Überschwemmungen an Rhein, Main, Elbe und Donau.3 Die Serie von nasskalten Sommern mit resultierenden Missernten nach 1340 bezeichnete Christian Pfister als „die vielleicht härteste ökologische Belastungsprobe des letzten Jahrtausends“.4 Durch die Abkühlung des Klimas (kühlere und regenreichere Sommer, kältere Winter) ging der Flächenertrag der Landwirtschaft zurück, am stärksten auf den sogenannten [<<89] Grenzböden in Mittelgebirgslagen, die erst im Zuge der großen Kolonisationswelle seit dem 11. Jahrhundert gerodet und für den Ackerbau erschlossen worden waren.5 Auf den höher gelegenen und teilweise auch weniger fruchtbaren Böden reichte die kürzere Vegetationsperiode nicht mehr aus, um das Korn zur Reife zu bringen. Ökonomisch gesehen sank unter diesen Bedingungen der „Grenznutzen“, das weitere Bewirtschaften dieser Böden rechnete sich immer weniger, und nachdem die Nachfrage nach Getreide infolge der Bevölkerungsverluste durch die Pest kollabierte, wurden erhebliche Teile dieser Grenzböden nicht länger kultiviert. Auf den Flächen wurden teilweise wieder Wälder angesät, bzw. breitete sich Wald auf aufgelassenen Feldern naturwüchsig aus; zahlreiche stark geschrumpfte Dörfer auf diesen Grenzböden wurden aufgegeben, ein Prozess, der als „Wüstung“ bezeichnet wird. Insgesamt konzentrierte sich die deutlich dezimierte Bevölkerung wieder auf eine geringere Fläche.6 Regional setzte bereits in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts ein Rückgang der Bevölkerung ein.

Umweltgeschichtlich kann die Situation in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts so interpretiert werden, dass die europäischen Gesellschaften auf der Basis der damals entwickelten Technik und Produktivität die Grenze der Tragfähigkeit der natürlichen Umwelt erreicht bzw. überschritten hatten. Die Bevölkerung war schneller gewachsen als die Produktionsfähigkeit der Landwirtschaft, ein Missverhältnis, das dann durch Missernten und Hungerkrisen zum Ausdruck kam. Die dauerhafte Abkühlung spitzte die Lage noch weiter zu. So wird plausibel vermutet, handfeste Beweise gibt es dafür keine, dass sich die gesundheitliche Situation der europäischen Bevölkerung wegen zunehmender Hungerkrisen und prekärer Ernährungslage – Jacques Le Goff spricht von „Rückkehr des Hungers“ – bis 1348 signifikant verschlechtert habe, sodass die in ihrer Resistenz geschwächte Bevölkerung der neuen Pandemie weniger Widerstand entgegen bringen konnte.7 [<<90]

5.2 Der Schwarze Tod kommt nach Europa
5.2.1 Ausbruch und Ausbreitung

Als die Pest dann im Herbst 1347 mit genuesischen Schiffen aus der Krim nach Sizilien kam, war die Krankheit in Europa nicht mehr bekannt. Im 6./7. Jahrhundert hatte die Pest in Europa mit einem Schwerpunkt in Byzanz gewütet und große Bevölkerungsverluste verursacht.8 Das Wissen von dieser Seuche war aber in der breiten Bevölkerung Europas im 14. Jahrhundert nicht mehr vorhanden, nur wenige Ärzte, die die spätantiken Schriften kannten, waren noch damit vertraut.

Die Pest, deren Erreger yersinia pestis erst 1894 entdeckt wurde, hat zwei wesentliche Erscheinungsformen: Die eine Form ist die Beulenpest oder Bubonenpest, bei der die Lymphknoten anschwellen, insbesondere in der Nähe der Stelle, wo der Rattenfloh die später Erkrankten gestochen hatte. Häufig zeigen sich die Beulen daher in der Leistengegend oder an den Oberschenkeln. Die zweite Form der Pest, die Lungenpest, entsteht durch direkte Übertragung der Pesterreger durch die Atemluft eines Kranken an einen Gesunden. Während die Lungenpest fast immer zum Tod führte, war die Sterblichkeit bei der Beulenpest statistisch bei 50–90 %. Der Krankheitsverlauf war meist recht rapide; die meisten an Pest Erkrankten starben innerhalb von 2–3 Tagen an einer Vergiftung, weil die Pesterreger ein Gift ausscheiden, das zu Kreislaufversagen und Herzstillstand führt. Unbekannt war bis Ende des 19. Jahrhunderts auch der Übertragungsweg der Krankheit: Die Pest nistet eigentlich bei den Ratten, die auch an der Pest sterben. Von diesen wird der Erreger über den Rattenfloh, der Blut aus der Ratte saugt, auf den Menschen übertragen, weil der Rattenfloh nach dem Tod der Ratte nach einem neuen Wirt sucht. Die Flöhe brauchen für ihre Reproduktion hohe Temperaturen, daher fiel die Ausbreitung der Pest in Europa immer nur in die warme Jahreszeit; im Winter ebbte die Pest in der Regel ab, eine weitere Ausbreitung fand nicht statt.9

In Italien breitete sich die Pest dann im Laufe des Jahres 1348, vor allem von den Hafenstädten her aus und forderte, wenn man den zeitgenössischen Quellen folgt, sehr hohe Verluste. In Venedig wütete die Seuche seit März 1348, mehr als die Hälfte der über 100.000 Einwohner sollen dort gestorben sein. In Perugia in Mittelitalien trat sie im April auf, im norditalienischen küstenfernen Trient Mitte Juni. Die zeitgenössischen [<<91] Berichte ähneln sich stark, betont werden die Beulen, das Auftreten von Fieber, bei Lungenpest auch Blutspucken und der meist rasche Tod. Die Pest wurde als hochgradig ansteckend bezeichnet, auch Haustiere verendeten. Insgesamt war die Sterblichkeit in den Städten Italiens bei dem ersten Auftreten des Schwarzen Todes sehr hoch, über das Auftreten auf dem Land ist sehr viel weniger bekannt. Vasold stellt allerdings infrage, ob die hohe Sterblichkeit in den italienischen Städten allein durch die Pest zu erklären ist; möglicherweise grassierte parallel noch eine weitere Epidemie, etwa der Milzbrand, was auch die sonst eher unwahrscheinliche Betroffenheit von Wirbeltieren erklären würde. Auch von einem Rattensterben, das einer die Menschen befallenden Pestepidemie üblicherweise vorausging, wird in den Quellen nicht berichtet.10 Kulturell bedeutsam war das schwere Erdbeben in Friaul vom 25. Januar 1348; die Zeitgenossen interpretierten Erdbeben und Pest als Zeichen für den Zorn Gottes.

Von Italien aus verbreitete sich die Pest auf den Handelswegen und mit Schiffen nach Frankreich und in das übrige Europa. In Avignon, damals Sitz des Papstes, trat die Pest schon im Januar 1348 auf, Lyon erreichte sie im April, nach Paris kam sie von Rouen und über die Seine im August 1348. England wurde um die Mitte des Jahres 1348 erreicht, hier betrugen die Verluste rund ein Drittel. Flandern wurde erst 1349 erfasst, in größeren Teilen Deutschlands trat die Pest während dieser ersten Welle gar nicht auf; zumindest liegen aus einer größeren Zahl süddeutscher Städte keine konkreten Belege für ein Auftreten während dieser Welle vor. Allerdings waren die meisten deutschen Städte dann bei späteren Pestwellen erheblich betroffen.11

Bis ins 18. Jahrhundert wurde die Pest ein mehr oder weniger ständiger Begleiter der Menschen in Europa, eine „Struktur der alteuropäischen Geschichte“12, auch wenn die Todeszahlen später nicht mehr ganz so dramatisch ausfielen wie im 14. Jahrhundert. Auf die erste Pestwelle von 1348–50 folgten weitere Pestzüge in den Jahren 1357–62, 1370–1376 und 1380–83. Insgesamt wird der Bevölkerungsverlust in Europa bis 1383 als Folge dieser Pestwellen auf rund ein Drittel geschätzt. Von Paris wird berichtet, dass jedes dritte Haus leer stand.13 Regional konnte der Bevölkerungsrückgang auch weitaus höher liegen, in Montpellier etwa bei 80 %; andererseits gab es Städte und Regionen, die überhaupt nicht oder nur von einer der Wellen heimgesucht wurden. Da die Städte keine Sterbelisten führten und wir meist auch die Einwohnerzahl vor der [<<92] Pest nur schätzungsweise wissen, beruhen die meisten Angaben auf Hochrechnungen von begrenzten und in den Akten namhaft gewordenen Gruppen wie den Angehörigen des städtischen Rats. So schätzt man für Hamburg auf der Basis der Pesttoten unter den Ratsmitgliedern, dass die Einwohnerschaft Hamburgs, rund 10.000 vor der Pest, danach wohl nur noch 5000 betragen habe. Insgesamt war die städtische Bevölkerung schwerer betroffen wegen der höheren Ansteckungs- und Übertragungsgefahr in den dichter besiedelten Gebieten. In Frankreich insgesamt sank die Bevölkerung von rund 21 (1340) auf 13 Mio. Menschen (1400), in England, damals noch deutlich weniger dicht bevölkert, von 3,8 (1340) auf 2,3 Mio. (1400). Trotz dieses Bevölkerungseinbruchs blieb die europäische Urbanisierungsrate höher, als sie um das Jahr 1000 gelegen hatte.14 Vasold, der im Hinblick auf die Pest eine revisionistische Position vertritt, hält die Sterblichkeit an der Pest zumindest für Deutschland und die erste Pestwelle für wesentlich niedriger als bisher in der allgemeinen Geschichtsschreibung mit rund einem Drittel angegeben. Es ist zwar nach Vasolds Ansicht unbestreitbar, dass die Bevölkerung Europas im 14. und 15. Jahrhundert deutlich zurückging, aber die Ursachen dafür wären nicht alleine in der Pest von 1348–1350 zu suchen, sondern auch in den klimatischen Veränderungen und möglicherweise in parallel auftretenden anderen Epidemien, die die Zeitgenossen begrifflich auch mit Pest bezeichneten.

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